Unter der Rubrik „Zur Diskussion gestellt“ wollen wir Beiträge zu Themen veröffentlichen, bei denen es auch unter bibeltreuen Christen unterschiedliche Auffassungen gibt. Auf diese Weise wollen wir erreichen, dass wichtige Themen nicht unter den Tisch fallen, weil sie umstritten sind, andererseits will der Bibelbund sich nicht einseitig festlegen und die Erkenntnis einiger Mitglieder zur Norm für alle erheben. Die Grundlage der uneingeschränkten Wahrheit der Bibel ist davon in keinem Fall betroffen.
1. ProChrist ist ein Kind der Ökumenisierung und nicht ihre Mutter
Bei seiner Kritik an ProChrist erweckt W. Nestvogel zuerst den Eindruck, das ProChrist-Komitee sei der Begründer oder doch der wesentliche Antreiber einer die Kirchen- und Gemeindegrenzen überschreitenden Zusammenarbeit, um dann einzugestehen, ProChrist sei nur „ein Mosaikstein“ derselben. Der Unterschied ist aber doch so wesentlich, dass er bei der Kritik an ProChrist genauer betrachtet werden muss. Ist ProChrist nun die Ursache der ökumenischen Öffnungspolitik, die W. Nestvogel bei den Evangelikalen feststellt oder nur ein Symptom? Bekanntlich ist es müßig, die Symptome zu kritisieren, statt die Ursachen in Angriff zu nehmen. Nicht die Nase ist am Schnupfen schuld, sondern die Viren, die ihn ausgelöst haben. Es kann aber die von ProChrist gepriesene Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg – falls es sie wirklich gibt – nur dann funktionieren, wenn eine Basis dafür vorhanden ist. Diese Basis hat die ProChrist-Aktion aber sicher nicht erst gegründet. Deswegen sollte man auch die vollmundige Selbstdarstellung des „ProChrist-Prozesses“ dahingehend befragen, ob dieser „Prozess“ nicht eher die Wunschvorstellung einiger Evangelikaler ist.
Ich sehe aber den tieferen Grund für die wohl vorhandenen Tendenzen zur übergreifenden Zusammenarbeit in der weit verbreiteten und vielfach dogmatisierten Abstinenz von tiefgründiger Lehre. Oft unter dem Vorwurf sie pflegten nur tote Rechtgläubigkeit sind nicht erst seit ProChrist Christen unter Beschuss geraten, die auf lehrmäßige Inhalte Wert legen.
„Nur nicht zuviel Lehre“ heißt die Devise … auch in der Evangelisation
„Nur nicht zuviel Lehre“ heißt die Devise in der Predigtlehre, im Gemeindeaufbau, in der Seelsorge, in der charismatischen Bewegung und auch in der Evangelisation. Das Ergebnis dieser Jahrzehnte dauernden Politik sind Gemeinden, die die Gabe der Geisterunterscheidung verloren haben. Weithin können Gemeindeglieder nicht mehr unterscheiden, was gepredigt wird. Maßstäbe sind bei genauem Hinsehen nicht der Lehrinhalt einer Predigt und die Übereinstimmung mit der Bibel, sondern ihr Unterhaltungswert, ihre Erbaulichkeit oder ihre praktische Umsetzbarkeit. Das aber hat längst dazu geführt, dass das genaue Wissen über die Unterschiede zwischen evangelisch und katholisch oder reformatorisch und charismatisch gegen Null tendiert. Für viele scheint es darum keine wirklichen Unterschiede mehr zu geben. Sie können gar nicht verstehen, wie man sich in einer so wichtigen Sache wie der Evangelisation an theologischen Spitzfindigkeiten auseinander dividiert.
Das Ergebnis dieser Politik sind Gemeinden, die die Gabe der Geisterunterscheidung verloren haben
Macht es eigentlich Sinn, der ProChrist-Bewegung diesen Umstand vorzuwerfen? Sie hat ihn nicht ausgelöst, und sie selbst befördert ihn wahrscheinlich nicht einmal. Wenn eine Gemeinde mit der Gabe der Geisterunterscheidung mit einer anderen zusammen arbeitet, dann wird diese Zusammenarbeit doch nicht dazu führen, dass sie ihre Überzeugungen über Bord wirft, sondern dass bei dieser Zusammenarbeit die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede deutlich zu Tage treten. Hinterher sagt man entweder „Mit denen machen wir’s wieder“ oder „Wir ziehen nicht am gleichen Strick“. Nur wer vorher seine Überzeugungen aufgegeben hat, wird durch eine Zusammenarbeit eventuell vom Weg abkommen. Das könnte dann aber durch alles mögliche andere genauso geschehen. Ich kenne kein einziges Beispiel (und die Kritiker von ProChrist haben bisher auch keines genannt), dass eine Gemeinde, die in Lehre und Unterscheidung klar stand, sich durch eine ProChrist-Koalition von ihrem Weg hat abbringen lassen.
Wenn die Gemeinden die Fähigkeit zur Unterscheidung der Geister haben, dann wird man vor Ort sehr schnell feststellen, ob man mit einem Christen, der Mitglied der katholischen Kirche ist, zusammenarbeiten kann oder nicht. Man wird schnell merken, ob man mit einer „charismatischen“ Gemeinde evangelisieren kann oder nicht. Die Grundlage ist dann nicht der kleinste gemeinsame Nenner, sondern die Gemeinschaft in Glaube und Lehre. Hier wäre es allerdings ein falscher Anspruch an Ulrich Parzany und das ProChrist-Komitee, sie sollten in quasi päpstlicher Autorität den Gemeinden vor Ort sagen, mit wem sie zusammenarbeiten dürfen. Soweit ich die Politik des ProChrist-Komitees kennen gelernt habe, hat man dort beschlossen, angesichts der vielen zum Teil irrationalen Abgrenzungstendenzen Gemeinden zu ermutigen, die Zusammenarbeit mit allen zu versuchen. Dabei schwingt die Hoffnung mit, dass vor Ort dann die Grenzen erkannt werden. Diese Hoffnung mag aus den dargestellten Gründen zu optimistisch sein, sie spiegelt aber ein neutestamentliches Prinzip wider. Dort erhalten die Gemeinden durch die Lehre der Apostel nicht eine Liste aller, mit denen sie zusammenarbeiten dürfen, sondern bekommen die Grundlagen, auch ohne einen Papst selber zu entscheiden (z. B. 1Joh 4).
Damit ist auch H. Stadelmanns Pro-Argument, die Teilnahme an den ProChrist-Evangelisationen habe den Gemeinden in Gießen nicht geschadet und auch nicht zur Ökumenisierung beigetragen, bei genauer Betrachtung kein Argument für ProChrist, sondern für die Ausrichtung der Gemeinden in Gießen. Sie haben ProChrist genutzt, soweit sie es für richtig hielten, haben sich aber von ihrer Linie nicht durch eine Evangelisationsform beeinflussen lassen, die alle 2-3 Jahre für eine Woche im Jahr stattfindet. Sie waren in der Lage, den Wünschen liberaler Pfarrer entgegenzutreten. Sicher hat H. Stadelmann durch seine Autorität in Lehrfragen kräftig dazu beigetragen.
Widerstandskraft gegen Irrlehren kommt noch nicht durch Bekehrung, sondern durch Belehrung in Gottes Wort
Umso weniger ist es zu verstehen, dass er in der ProChrist-Strategie die Gefahr wittert, dass „man alle für Jesus gewönne – und hinterließe doch eine gegen Verführungen und Irrlehren künftig widerstandslose Gemeinde“. Das ProChrist-Komitee ist kein evangelikal gefärbter Papst, sondern im besten Fall eine Dienstgruppe der Gemeinden. Die Gemeinden können von ihrer „Dienstgruppe“ weder erwarten, dass sie alle für Jesus gewinnt, noch sollten sie befürchten, dass sie ihre – hoffentlich vorhandene – Widerstandskraft zersetzt. Erstens kann was nicht vorhanden ist, weder zersetzt werden, noch sollte es ersetzt werden durch ein Komitee, dass uns in Zukunft sagt, mit wem wir reden dürfen und mit wem nicht. Und zweitens ist es doch so: Durch wen jemand den ersten Schritt zu Christus tut, entscheidet kaum über seine Widerstandskraft gegen Irrlehren, sondern wie er anschließend in Gottes Wort gelehrt wurde. Wie gut das dann geschieht, darauf hat weder ProChrist wirklich Einfluss, noch bieten irgendwelche Gemeinde-Bezeichnungen eine Garantie für die reine Lehre. Oder wollen wir ProChrist als Gemeinde-TÜV?
Noch etwas fällt auf: Die von ProChrist so hoch gepriesene Allianz gibt es faktisch nur an wenigen Orten. Wo 1993 noch viele Gemeinden eine gemeinsame Veranstaltung organisiert haben, da waren es 1995 schon viele kleine von jeweils einer Einzelgemeinde verantwortete, ebenso 1997 und 2000 (in Essen, wo 1993 B. Graham in der Gruga sprach, sind es jetzt 12 Veranstaltungen). Die Reklame mit über 1000 Veranstaltungen ist im Hinblick auf die große Allianz aller Kräfte eher ein Armutszeugnis, denn tatsächlich gehen viele Gemeinden längst getrennte Wege. Dabei sind die Gründe unterschiedlich, nach meiner Beobachtung aber häufig pragmatischer Natur. Das Argument heißt dann etwa: „Für unsere Gemeinde hat die letzte ProChrist-Evangelisation wenig gebracht, und zwar im Hinblick auf die Mitarbeiter wie auf die Integration ‚Neubekehrter‘.“ Die Folge ist, dass man zwar die gemeinsame Werbung nutzt und auch die angebotenen Schulungen, aber in der Ausführung der Veranstaltung auf die eigene Gemeinde setzt.
2. ProChrist kann sich als freies Werk eine größere Zurückhaltung in Lehrfragen gönnen als jede örtliche Gemeinde
Die Bewegung hat beschlossen, zwischen falsch und richtig in Bezug auf die Lehre nicht oder jedenfalls kaum zu unterscheiden
Selbst der Vorwurf, ProChrist verharmlose falsche Lehren trifft nicht wirklich. Die Bewegung hat beschlossen zwischen falsch und richtig in Bezug auf die Lehre nicht oder jedenfalls kaum zu unterscheiden, und liegt damit im Trend der Zeit. Das sei eben nicht ihr Auftrag, den sie im Übrigen von Gott selbst erhalten haben will. Man kann namentlich Ulrich Parzany und den meisten Mitgliedern im Komitee nicht vorwerfen, sie könnten zwischen „katholisch“ und „evangelisch“, zwischen „reformatorisch“ und „charismatisch“ nicht unterscheiden. Sie können es und haben doch beschlossen, dass Lehrfragen nur thematisiert werden, soweit sie die Berechtigung der ProChrist-Evangelisation und ihrer einzelnen Elemente betreffen (siehe die Theologischen Flugblätter ). Und hier sollte auch W. Nestvogel so gerecht sein, festzustellen, dass in den Verlautbarungen des ProChrist e.V. Begriffe wie „evangelisch“, „katholisch“, „charismatisch“ keine Lehrinhalte bezeichnen, sondern die Zugehörigkeit zu Gemeinden dieses Namens oder dieser Prägung. H. Stadelmann trägt in seiner für ProChrist geschriebenen Argumentation diesem Umstand auch zu wenig Rechnung. Er fordert vom ProChrist e.V., die Grenzen bei der Kooperation genauer zu definieren. Aber schon sein eigener Versuch, das Problem mit einer Unterscheidung zwischen „Geschwisterlicher Gemeinschaft“, „Lehrgemeinschaft“, „Ekklesialer Gemeinschaft“ und „Dienstgemeinschaft“ zu lösen, erscheint konstruiert und kann sich kaum auf Aussagen des Neuen Testamentes berufen. Warum eigentlich sollte ProChrist darauf eingehen?
Ehrlich gesagt: Ich habe eine gewisse Sympathie für die Haltung von ProChrist, genau das nicht zu tun. Ein übergemeindliches Werk sieht eine definierte Aufgabe, in diesem Fall die Pflege einer bestimmten Evangelisationsform, und sagt, die anderen Fragen und Aufgaben gehören auf die Ebene der Gemeinden. Das Problem liegt nicht bei ProChrist, sondern bei den Gemeinden, die aufgehört haben, lehrmäßige Auseinandersetzungen zu führen und ihre Glieder darin zu schulen. Diese Aufgabe kann nicht auf den ProChrist e.V. abgewälzt werden.
Völlig überflüssig ist es aber eine Anti-ProChrist-Koalition zu bilden
Leider ist eine Folge dieser Entwicklung auch, dass Gemeindeglieder den richtigen Umgang mit Aussagen von Personen, die die Geister noch unterscheiden wollen (zu diesen zähle ich W. Nestvogel), nicht kennen. Man meint vielfach, es ginge darum, sich wie im Streit der politischen Parteien, auf die eine oder andere Seite zu schlagen, statt die Argumente zu hören und zu prüfen. Prüfen heißt dabei, dass einzelne Aussagen auf ihre inhaltliche und biblische Berechtigung hin untersucht werden, um dann festzustellen, welche persönliche und gemeindliche Relevanz vor Ort die angesprochene Kritik hat, sprich, ob man sein Denken und Handeln ändern muss oder nicht. Völlig überflüssig ist es aber eine Anti-ProChrist Koalition zu bilden oder über die Geschwister im ProChrist-Komitee zu Gericht zu sitzen. Das kann man getrost Gott überlassen. Positiv gilt das gleiche. Sonst werden Fronten aufgerichtet, die gerade nicht die Unterscheidungskraft der Gemeinden stärken, sondern nur die Parteibildung. Mit seiner pauschalen Ablehnung des fundierten Beitrages im Informationsbrief der Bekenntnisbewegung von Karsten Ernst „Wie sollen wir das Evangelium verkündigen?“ tut H. Stadelmann den Gemeinden deswegen genauso wenig einen Gefallen, wie die Bekenntnisbewegung, wenn sie ihre z. T. berechtigten Anfragen an Entwicklungen unter den Evangelikalen benutzt, um ein Lagerdenken zu befördern.
3. ProChrist ist nicht die Evangelisation, sondern nur eine eher bizarre Erscheinungsform von Evangelisation
W. Nestvogel und noch mehr H. Stadelmann erwecken in ihren Beiträgen den Eindruck als handele es sich bei der (Groß-)Veranstaltungs-Evangelisation á la ProChrist um die Normalform von Evangelisation. Sonst wäre kaum zu verstehen, dass W. Nestvogel als Alternative zu ProChrist nur die Deutsche Zeltmission einfällt und H. Stadelmann sich zu der Behauptung versteigt, die Kritiker von ProChrist hätten „praktisch sehr wenig für die Evangelisierung der Verlorenen getan“. Auch der Gegensatz von theologischen Lehrern und Evangelisten hat seinen Ursprung nicht etwa im Neuen Testament, sondern in den eigenartigen Entwicklungen unseres Evangelisationsverständnisses. Als Evangelisten nennt H. Stadelmann namentlich nur die herausragenden Veranstaltungsprediger, die zur Bekehrung aufgerufen haben. Zwar fördern die ProChrist-Veranstaltungen das allgemein vorhandene Bild von Evangelisation, aber das ProChrist-Komitee selbst hat immer wieder deutlich gemacht, dass es ihre Evangelisationsform nur als eine unter vielen ansieht. Nun habe ich ProChrist eine eher bizarre Erscheinungsform von Evangelisation genannt und will das genauer begründen.
Die Gemeindeaufbaubewegung hat in den letzten Jahren mit einigem Recht darauf aufmerksam gemacht, dass Evangelisation nicht gleichzusetzen ist mit (Groß-)Veranstaltungs-Evangelisation. Tatsächlich zeigen alle ihre Untersuchungen, dass nur sehr wenige Menschen durch Veranstaltungs-Evangelisation in die Gemeinde finden. Der Normalfall von Evangelisation ist das persönliche Gespräch in der Familie und unter Freunden. Die Befragungen zeigen, dass rund 3/4 aller glaubenden Gemeindeglieder durch das Zeugnis ihrer Freunde und Verwandten den wesentlichen Anstoß zum Glauben bekamen. Weit dahinter, aber noch nennenswert mit rund 1/5 der Antworten rangiert das persönliche Gespräch mit einem Pastor oder Prediger. Veranstaltungs-Evangelisationen spielen nur eine untergeordnete Rolle und geben oft nur die Gelegenheit für den schon Glaubenden, seinen Glauben z.B. durch „Nach-vorn-gehen“ deutlich und öffentlich kundzugeben. Daran ändern Einzelbeispiele, wie H. Stadelmann sie vorbringt nichts.
Ein Blick ins Neue Testament verrät, dass es praktisch kein Beispiel gibt für das, was bei uns der Normalfall von Evangelisation zu sein scheint, nämlich die Organisation einer Veranstaltung mit Unterhaltungs- und Verkündigungselementen, die für Nicht-Glaubende gestaltet wird und zu der sie selbst hingehen müssen. Gerade die von H. Stadelmann zitierten Verse aus 1Kor 9, 20-22 zeigen – sobald man in der Apostelgeschichte herauszufinden sucht, wie denn Paulus den Juden ein Jude und den Heiden ein Heide geworden ist – dass er zu den Menschen hinging und zwar mit dem klaren Ziel den gekreuzigten Christus zu verkündigen. Er besuchte sie in ihren Synagogen und Tempeln, auf Straßen und Plätzen und in Privathäusern. Wurde jemand gläubig, so luden diese Menschen ihre Freunde in die Privathäuser ein, um sie mit der Predigt des Apostels in Kontakt zu bringen. Damit war auch gleich die Basis geschaffen, auf der die Menschen, die daraufhin zum Glauben fanden, in eine Gemeinde integriert wurden. Das gerade ist nämlich ein weiteres Problem der Veranstaltungsevangelisation vom Schlage ProChrist.
Die Effektivität von Veranstaltungsevangelisationen ist allen Untersuchungen nach erschreckend gering
Die Effektivität von Veranstaltungsevangelisationen ist allen Untersuchungen nach erschreckend gering, wenn man danach fragt, wie viele Menschen in eine Gemeinde fanden. Selbst die Hoffnung mit dem öffentlichen „Ruf nach Vorne“ die Ernte direkt einzufahren wird enttäuscht. Von den bei ProChrist 95 Nach-vorn-Gekommenen waren nur etwas mehr als 1/3 Neubekehrte. Leider weiß man nicht genau, wie viele davon heute in unseren Gemeinden zu Hause sind. Untersuchungen der Evangelisation von B. Graham legen die Vermutung nahe, dass es weniger als 4 % (in Worten „vier Prozent“) sind. Erschreckend, wenn man sich vorstellt, dass vielleicht nur 100 Menschen von den rund 2500 „Neubekehrten“ von ProChrist 95 heute Glieder einer Gemeinde sind. Und die Übrigen? Wolfgang Simson befürchtet wohl nicht ganz zu unrecht, dass
„ProChrist – genau wie ähnlich strukturierte Veranstaltungsevangelisationen – in der Gefahr steht, einen ungewollten Beitrag an die flächendeckende Immunisierung der Bevölkerung gegen das Evangelium zu leisten“ ( Praxis 1/96, S. 9-10).
Die jetzige Situation, in der Kritik an Evangelisten oder Evangelisationsformen gleich als Gegnerschaft gegen Evangelisation überhaupt ausgelegt werden und damit als Gegnerschaft gegen Gott, der der Evangelisation „eine ganz hohe Priorität“ (Stadelmann) einräumt, ist durch das verbreitete (Miss-)Verständnis von Evangelisation begünstigt. Evangelisten sind oft Angestellte freier Werke, die keiner Gemeinde verpflichtet sind. Sie geben die Modelle vor, wie Evangelisation zu geschehen hat und die Gemeinden beugen sich darunter oder sehen nur die Rücklichter des fahrenden Zuges. Dabei sehen sich die Evangelisten von Gott selbst berufen. U. Parzany über ProChrist:
„Wir haben uns diese Arbeit nicht selbst gesucht. Gott hat sie uns vor die Füße gelegt“.
In dieser Situation ist es schwer, einen bekannten Evangelisten zu ermahnen oder an einer Veranstaltungsform Kritik zu üben. Im Übrigen ist H. Stadelmann zuzustimmen, dass die Kritik zuerst persönlich zu geschehen hat, und da findet man nach meiner Erfahrung meist offene Ohren.
Evangelisten sind oft Angestellte freier Werke, die keiner Gemeinde verpflichtet sind
Löst man sich aber erst einmal von der Verengung im Blick auf die Evangelisation, dann entdeckt man: die meisten Evangelisten haben ihre Heimat in unseren Gemeinden. Es sind solche Menschen, die andere durch ihr Zeugnis von Christus zum Glauben führen: Menschen, die ihren Berufen nachgehen, hoch gebildet oder einfache Leute, die den Menschen in ihrer näheren Umgebung bezeugen, wie wunderbar die Rettung durch Jesus Christus ist. Durch sie finden andere zum Glauben. Sie stehen aber auch in der ständigen Ermahnung ihrer Gemeinden.
Die (Groß)Veranstaltungs-Evangelisation ist eine Nebenform von Evangelisation. Ich sehe nicht, dass sie der Heiligen Schrift widerspricht. Sie spiegelt aber auch nicht die Breite und Tiefe von Evangelisation wider. Nur ist es ungerecht, dafür ProChrist verantwortlich zu machen, denn ProChrist ist nur eine spezielle Form dieser Nebenform von Evangelisation. Wir müssten dem ProChrist Komitee dann deutlich entgegentreten, wenn sie ihre Form als einzig von Gott legitimierte darstellte.
Wenn Anfragen an ProChrist gestellt werden, dann sollten sie die ProChrist-Form selber betreffen und nicht ProChrist für Entwicklungen verantwortlich machen, für die es nachweislich nicht verantwortlich ist. Darum noch ein paar vorsichtige Anfragen, die das ProChrist-Konzept selber betreffen.
4. Wie beeinflusst das Medium die Botschaft?
ProChrist ist eine Art Fernsehevangelisation, die sich die moderne Technik der Satellitenübertragung zu nutze macht. Ich bin kein Feind der Technik, möchte aber daran erinnern, dass diese Technik inzwischen fast ausschließlich der Unterhaltung dient. Der gesamte Fernsehbetrieb ist Unterhaltung. Das gilt auch für die sogenannten Informationssendungen, die inzwischen unter der bezeichnenden Rubrik „Infotainment“ gehandelt werden. Auch die Nachrichtensendungen wollen nicht wirklich informieren, also Tatsachen mitteilen, die für das aktuelle Denken und Handeln von Belang sind, sondern gebrauchen die Informationen zur Unterhaltung.
Wird der Unterschied zwischen Unterhaltung und lebensverändernder Information deutlich?
Das Evangelium von Jesus Christus ist echte Information, das heißt Nachricht von Tatsachen, die für Leben, Denken und Glauben von wesentlicher Bedeutung sind. Ich frage mich, ob es den Zuhörern und Zusehern bei ProChrist gelingen kann, hier zu unterscheiden. Jeder ProChrist-Abend muss auch einen hohen Unterhaltungswert haben. Die Gestaltung der Abende vom Programmablauf über die Kameraführung bis hin zur Predigt zeugt davon. Wird der Unterschied zwischen Unterhaltung und lebensverändernder Information deutlich? Und diese Frage sollten wir nicht den 80% Christen bei den ProChrist-Veranstaltungen stellen, die durch ihre evangelikale Brille hören und sehen, sondern den 20 % Nicht-Glaubenden, für die die Veranstaltung eigentlich sein soll, und hier besonders denen, die nicht evangelikal sozialisiert sind. Kommt bei diesen Menschen eigentlich die Botschaft von Jesus nur als Unterhaltungselement an?
Das hätte weitreichende Folgen und zwar sowohl für die, die es ablehnen als auch für die, die daraufhin Christen werden. Diejenigen, die sich abwenden, würden darin bestätigt, dass es eben einen unterschiedlichen Geschmack gibt. Den einen gefällt Volksmusik, den anderen Rockmusik. Wir gäben ihnen gar nicht die Chance, Christus abzulehnen. Und diejenigen, die Christen werden wollen, bekehren die sich zu einer bestimmten Unterhaltungskultur?
Meine Frage an ProChrist: Macht ihr bei der Benutzung der modernen Medien ausreichend deutlich, welcher Unterschied zwischen Unterhaltung und Information besteht? Oder geht die Botschaft letztlich im Medium unter?
5. Fördert ProChrist den Eindruck, Evangelisation müsse einen hohen Grad an Professionalisierung haben?
Ein gewisser Stolz war im ProChrist-Komitee schon zu spüren als man 1993 als erste in Deutschland eine so große Videokonferenz ohne größere Probleme zustande gebracht hatte. Inzwischen scheint das fast Routine zu sein. Der Umgang mit Kameras, Bildausschnitten, Ton- und Lichttechnik ist ein wichtiger Bestandteil dieser Evangelisation. Und da muss Auftreten und Sprache der Redner so gut sein, dass man mit modernen Fernsehentertainern konkurrieren kann. Die Zusammenarbeit mit Willow Creek Deutschland verstärkt diese Tendenz. In den Gemeinden wird plötzlich Maß genommen an einer Professionalität, die geprägt wird von Leuten wie Bill Hybels, der als Leiter und Kommunikator ein Jahrhundertgenie ist. So wird wohl das Selbstbewusstsein der örtlichen Gemeinden gestärkt, die stolz darauf sind, dass „wir Evangelikale“ so etwas zustande bringen, nur findet örtliche Gemeinde in Deutschland zu 95 % nicht auf diesem Niveau statt.
In den Werbematerialen von ProChrist wird meines Erachtens zu stark suggeriert, jede Gemeinde könnte und sollte an ProChrist teilnehmen. Zu wenig oder gar nicht kommen Maßstäbe zur Sprache, an denen eine Gemeinde prüfen kann, ob eine ProChrist Evangelisation überhaupt das richtige für sie ist. Die Frage nach dem Umgang mit dem Professionalitätsanspruch wäre für mich so ein Kriterium. In den meisten real-existierenden Gemeinden sind diese Ansprüche unangebracht. Wir können nicht so viel Kraft in die Professionalisierung der Evangelisation stecken, die wir für die Evangelisation selber bräuchten. Und hier meine ich das Gespräch und Zeugnis von Mensch zu Mensch. Ich plädiere nicht für schlecht gemachte öffentliche Veranstaltungen. Wir sollten jede Veranstaltung so gut machen, wie wir können, aber sie sollte auch das widerspiegeln, was wir können. Wir müssen uns nicht an Professionalitätsmaßstäben messen, die unsere moderne Medienwelt geprägt hat.
Wir müssen uns nicht an Professionalitätsmaßstäben messen, die unsere moderne Medienwelt geprägt hat
Die Beobachtungen von Wolfgang Simson treffen:
„In Großveranstaltungen wie ProChrist werden in der Regel ungewollt schon durch die Wahl des Kommunikationsmittels und des Szenarios einer rauschenden Großveranstaltung Versprechungen und Verheißungen über ein Leben als Christ gemacht, die in der Praxis der Lokalgemeinden nicht eingelöst, sondern nur in weiteren Großanlässen erahnt werden können. Ergebnis: Neben der Förderung einer unchristlichen Konferenzmentalität erlebt ein neu am Christentum Interessierter, dass er sich zu einem Christentum ‚in Farbe‘ bekehrt hat, und erkennt anschließend ernüchtert, dass er sich im Alltag seiner Lokalgemeinde höchstens mit einer blassen Schwarz-Weiß-Version des Christentums zu begnügen hat“ (praxis 1/96, S.10).
Meine Frage an ProChrist: Tragt ihr in der Vorbereitung der Gemeinden, die an ProChrist teilnehmen, genug dafür Sorge, dass Gemeinden nicht nur zur Teilnahme ermutigt werden, sondern ihnen gezeigt wird, dass sie besser nicht mitmachen sollten, wenn ProChrist nicht in ihre Landschaft passt?
6. Was heißt eigentlich öffentliche Verkündigung des Evangeliums?
ProChrist erweckt den Eindruck, als ob öffentliche Verkündigung des Evangeliums hieße, dass Christen in der vielfältigen Medienwelt, in Zeitungen, Radio, Fernsehen und an Plakatständern, wahrgenommen werden. Das aber ist eindeutig ein Maßstab, den uns diese Medienwelt selber vorgibt. Sie behauptet: „Wenn du nicht bei uns auftauchst, dann gibt es dich nicht“. Wenn Jesus uns aufforderte, dass Licht auf den Leuchter zu setzen, dann kann das heute seinen Ausdruck finden im Erscheinen in der Medienwelt, aber das ist weder nötig noch wirklich wichtig. Wir könnten auf einem anderen Wege viel besser unsere Stadt mit der Botschaft von Jesus erfüllen, nämlich mit dem persönlichen Zeugnis der Glaubenden. Wenn sie von ihrem Glauben und dem herrlichen Evangelium überzeugt sind, dann werden sie das zum Gesprächsthema machen und keine Macht der Welt kann sie wirklich daran hindern. Es ist aber das Evangelium selber, das die Attraktivität in sich trägt, so dass man mit Freude darüber reden kann. Es bekommt die Attraktivität nicht erst dadurch, dass es beim Medienereignis ProChrist ein Rolle spielt oder weil Personen des öffentlichen Lebens daran glauben.
Das Evangelium von Jesus selber hat in den Medien gar keinen Widerhall – es ist vielmehr die Religiosität die transportiert wird
Und hier sollte man auch einmal prüfen, was die Öffentlichkeit der Medienwelt mit dem Evangelium macht. Nach meiner Beobachtung hat in den Medien das Evangelium von Jesus selber gar keinen Widerhall. Es ist vielmehr die Religiosität die transportiert wird. Die Kampagne für ProChrist 2000 zeigt das. „Gott ist da“ ist die Botschaft. Mehr ist nicht drin. Selbst wo der Name „Jesus“ vorkommt ist er eine Chiffre für Religiosität. Mehr ist in der modernen Medienwelt wohl auch nicht möglich. Wenn wir hier die Dynamik der Religiosität der Menschen unterschätzen, kommt dabei das Evangelium unter die Räder. Das Evangelium muss von Mensch zu Mensch transportiert werden.
Hier fördert ProChrist z.T. einen Eindruck, der Evangelisation nicht voranbringt, sondern am Ende hindern kann. Nämlich dann, wenn dem einfachen Zeugen Jesu vermittelt wird, das Zeugnis brauche die Öffentlichkeit der Medienwelt und die Attraktivität durch ihre Anerkennung. Und leider ist es noch kein Grund zum Jubel, wenn die Menschen wieder „an Gott glauben“. Ich will allerdings anerkennend feststellen, dass im ProChrist-Konzept versucht wird, dieser Tendenz entgegen zu wirken.
Meine Frage an ProChrist: Achtet ihr genug darauf, die vielen Evangelisten, die die eigentliche Evangelisationsarbeit in Deutschland tun, nicht zu entmutigen?
Die Diskussion um Evangelisation und Evangelisationsmethoden muss geführt werden. Wir sollten dabei aber die Sache selbst befördern. Darum hoffe ich, dass das Gespräch dazu führt, dass Gemeinden und viele Christen ihre Freude an der Botschaft des Evangeliums zurückgewinnen und mutig Zeugnis geben, von Mann zu Mann und Frau zu Frau. Helfen können wir ihnen am besten durch gute tiefgründige Lehre, wie sie uns die Heilige Schrift reichlich bietet.