„Er habe wissen wollen, wie es sei, Sex mit einer Frau zu haben“ – sagte der homosexuelle 25-Jährige vor dem Bonner Schwurgericht. Drei Monate nach dem gewaltsamen Tod der 14 Jahre alten Hannah aus Königswinter hat der Angeklagte vor Gericht gestanden, das Mädchen entführt, vergewaltigt und erstochen zu haben. Das Mädchen war auf dem Heimweg verschwunden, seine Leiche fünf Tage später in einem Gebüsch gefunden worden.
„Eigentlich habe er am Abend des 29. August mit dem Fahrrad zu Freunden fahren wollen“ – so der Täter. „Dann sei ihm aber die Idee gekommen, eine Frau zu vergewaltigen“. Aus einem Container an seinem Arbeitsplatz, einem Parkplatz für Busse in der Nähe der Stadtbahn, nahm er Kabelbinder und Klebeband. Dann ging er in Richtung Haltestelle. Dort begegnete er Hannah, die gerade mit der Bahn angekommen war.
Eine unfassbare Tat! Ein widerwärtiges, grausames Verbrechen! – Jeder auch nur einigermaßen normal empfindende Mensch schreit innerlich vor Empörung und Abscheu auf, wenn er davon hört und liest. Und nun versetzen Sie sich einmal in die Lage der Eltern und Angehörigen, die diese qualvolle „Hölle“ mit erleiden, die ihre Tochter durchgemacht hat. Alle unvorstellbaren Ängste ihrer Seele, alle brutale Gier dieses homosexuellen Mannes, „der wissen wollte, wie es sei, Sex mit einer Frau zu haben“. Wie er dann mit einem Messer auf sie einsticht und ihre Tochter elendig verblutet. Wehrlos, hilflos – einsam und trostlos.
Machen Sie sich einmal bewusst: Sie wären die Eltern dieser erst 14 Jahre alten Hannah. Ob Sie dann noch beten könnten: … auch wir vergeben jedem, der an uns schuldig geworden ist!? (Lk 11,4). Ich frage Sie das als jemand, der bekennt: Ich bin Christ! Also ein Mensch, der Jesus Christus nachfolgt – und darum auch entsprechend zu handeln hat, wie es Jesus gelehrt und gesagt hat: Auch wir vergeben jedem, der an uns schuldig geworden ist.
Nicht wahr: Wer im warmen Zimmer sitzt, kann immer gut über die Kälte reden! In der Theorie können wir alle schnell und überzeugend von „Vergebung“ reden – und sie von anderen einfordern. Was aber, wenn Ihnen oder einem Ihrer Lieben solch grenzenloses Leid und Unrecht zugefügt worden ist, wie Hannah und ihren Eltern? – und sie flugs aufgefordert werden, einfach zu vergeben? Einfach so!
Ich denke da an eine andere junge Frau. Nennen wir sie Nicole. Aufgewachsen ist sie in einer christlichen Familie. Jahrelang wurde sie als kleines Mädchen von einem Onkel ihrer Familie missbraucht. Einem Onkel, der wie ihre Eltern zu einer christlichen Gemeinde gehörte und bekennt, ein gläubiger Christ zu sein. Aber anstatt ihren Kinderschänder zu stellen, wurde sie aufgefordert zu vergeben – obwohl da kein Täter sein durfte, der seine Schuld bekannt und bereut hätte.
Als sie sich als junge Frau dann doch endlich entschließt, die Vergehen ihres Onkels noch anzuzeigen, stößt sie bei vielen in der frommen Verwandtschaft und in der Gemeinde auf kein Verständnis für diesen Schritt. Es wird ihr mangelnde Vergebungsbereitschaft vorgeworfen. Am ersten Verhandlungstag bestreitet der Onkel noch das Meiste. Danach legt er ein umfassendes Geständnis ab. Er wird zu vier Jahren Gefängnis verurteilt. Für Nicole jedenfalls ist es nicht nachvollziehbar, dass sich ein weltliches Gericht mehr um Gerechtigkeit kümmert als die christliche Gemeinde, die das Ganze am liebsten vertuscht hätte.
Nicole bekennt, dass ihr Glaube an die Güte Gottes durch den sexuellen Missbrauch schweren Schaden genommen hat. Biblische Verheißungen, Gott werde seine Nachfolger „an keinen Stein stoßen lassen“, liest sie irritiert. „Er hat damals Böses zugelassen, er könnte so böse Dinge wieder zulassen“ – beschreibt sie ihr Lebensgefühl. Am übelsten findet sie den in Predigten häufig zu hörenden Satz, Jesus Christus sei einem Gläubigen auch in den schlimmsten Situationen nahe. Die Vorstellung, wie sich ihr Onkel an ihr befriedigt und Jesus schaut zu, geht über ihre Kraft. Für ihren Glauben war der Missbrauch ihres frommen Onkels ein bis heute nicht zu überwindender Schlag. Den Glauben, dass Gott ihre Wunden wieder völlig heilen wird, hat sie bis heute noch nicht.
Können Sie sich in das seelische Leid dieser jungen Frau hineinversetzen? – und mitempfinden, dass ihr Glaube keine Geborgenheit und keinen Halt mehr hat? Weil die hässlichen Bilder des Missbrauchs immer wieder ihre Seele heimsuchen – und diese Wunde nicht heilen will? Auch wir vergeben jedem, der an uns schuldig geworden ist! – Immer und immer wieder ist ihr das von vielen aus der Gemeinde gesagt worden. Aber wie soll sie vergeben, wo doch dieser Mensch ihr gegenüber bis heute weder seine Schuld eingestanden noch bereut hat?
Vergebung scheint ja eine Angelegenheit zu sein, zu der Christen verpflichtet sind – und zwar unabhängig davon, wer ihnen – wie auch immer – Unrecht, Leid und Böses angetan und zugefügt hat. Denn Jesus hat ja seine Nachfolger gelehrt: Vergib uns unsere Schuld; auch wir vergeben jedem, der an uns schuldig geworden ist!
Ich behaupte: Als Christen sind wir nicht verpflichtet, ohne Wenn und Aber zu vergeben
Das ist aber nicht alles, was Jesus zum Thema „Vergebung“ zu sagen hat. Jesus hat keineswegs gelehrt, bedingungslos zu vergeben. Ich behaupte: Als Christen sind wir nicht verpflichtet, ohne Wenn und Aber zu vergeben. Keineswegs. Warum ich das so sage, fragen Sie? Nun: Gott vergibt uns unsere Schuld und Sünden auch nicht bedingungslos. Wenn ich das Evangelium richtig verstanden habe, dann vergibt mir Gott meine Schuld grundsätzlich nur in Jesus Christus. Durch sein Leiden und Sterben, durch seinen Tod am Kreuz von Golgatha, ist er die Sühne für unsere Sünden geworden. Ohne Jesus Christus und an Jesus vorbei gibt es bei Gott keine Vergebung der Sünden. Und so vergibt mir Gott nur dann, wenn ich ihm meine Sünden auch bekenne, sie konkret eingestehe und beim Namen nenne – und soweit möglich, das geschehene Unrecht meines Lebens wieder in Ordnung bringe. Im 1. Johannesbrief sagt uns Gottes Wort:
„Wenn wir unsere Sünden bekennen, dann erweist Gott sich als treu und gerecht: Er vergibt uns unsere Sünden und reinigt uns von allem Unrecht, das wir begangen haben“ (1Joh 1,9).
Ohne Frage: Gott vergibt Schuld, aber eben nur dann, wenn ich mich meiner Schuld persönlich stelle – und sie ihm bekenne. Wo dies geschieht, vergibt mir Gott meine Sünden. Wo nicht, wird Gott meine Sünden nicht vergeben. Denn er handelt nicht gegen sein Wort. Ich frage daher: Erwartet nun Gott von seinen Kindern mehr als er selber bereit ist zu gewähren? Haben wir als Nachfolger von Jesus ohne Wenn und Aber zu vergeben? Einfach so! – wie immer auch das Böse und Unrecht aussieht, das man ihnen zufügt?! Ist Vergebung eine Einbahnstraße?
Diesen Eindruck kann man haben, wenn Christen über Vergebung reden. Dann sieht es fast immer so aus, dass ein Christ „selbstverständlich“ denen bedingungslos zu vergeben hat, die an ihm schuldig geworden sind. Egal, ob der Betreffende sein Unrecht und seine Schuld einsieht, dies bereut – und den um Vergebung bittet, an dem er schuldig geworden ist. Jedenfalls: der „Täter“ darf in jedem Fall damit rechnen, dass ihm für sein böses Tun und Unrecht Vergebung zuteil wird, wenn der andere denn Christ ist. Er ist ja zur Vergebung verpflichtet.
Damit macht man es sich aber zu einfach. Denn im Lukasevangelium ist es aufgezeichnet, was Jesus auch noch zur Vergebung zu sagen hat. Dort heißt es:
„Wenn dein Nächster gegen dich sündigt, weise ihn zurecht, und wenn er es bereut, dann vergib ihm. Selbst wenn er siebenmal am Tag an dir schuldig wird, sollst du ihm verzeihen, wenn er kommt und sagt: Ich bereue es!“ (Lk 17,3 b -4).
Jesus setzt hier also Einsicht der Schuld und Umkehr des Schuldigen voraus. Jesus redet hier nicht davon, dass seine Leute einfach bedingungslos zu vergeben haben, egal, was ihnen auch immer an Bösem, Unrecht und Leid zugefügt wird. Die Bedingung zur Vergebung heißt hier:
Wenn er (der an dir schuldig geworden ist) es bereut, dann vergib ihm. Und wenn er dir siebenmal am Tag Unrecht tut und dich immer wieder um Vergebung bittet: Vergib ihm!
In der Tat: Selbst wenn uns jemand siebenmal oder mehr am Tag Unrecht tut, sind wir als Nachfolger von Jesus gerufen, zu vergeben – vorausgesetzt, dass der, der uns Unrecht tut, bereut und uns um Vergebung bittet. Wenn er bereut, dann vergib ihm! – sagt Jesus. Wo nicht, kann es auch nicht zur Vergebung kommen. Genauso wenig, wie Gott uns vergeben kann, wenn wir uns unserer Schuld nicht stellen und unsere Sünden nicht bekennen.
Die Weisung von Jesus im Vaterunser: „Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir denen vergeben, die an uns schuldig wurden“ (Mt 6,12) ist nicht von seinem Wort im Lukas-Evangelium zu trennen:
„Wenn dein Nächster gegen dich sündigt, weise ihn zurecht, und wenn er es bereut, dann verzeih ihm. Selbst wenn er siebenmal am Tag an dir schuldig wird, sollst du ihm verzeihen, wenn er kommt und sagt: Ich bereue es!“ (Lk 17,3b-4)
Beide Worte sind eine nicht trennbare Einheit, zwei gleichwertige Seiten ein und derselben Münze.
Ich erinnere Sie an die Eltern der 14-jährigen Hannah, die jener homosexuelle Mann, „der wissen wollte, wie es sei, Sex mit einer Frau zu haben“, brutal vergewaltigte und ermordete. Und ich erinnere Sie an das Leid und die Qualen jenes kleinen Mädchens, die von ihrem frommen Onkel jahrelang immer wieder missbraucht wurde – und deren Glaube an Gottes Liebe entsetzlich verwüstet worden ist. Wie sollten sie denn denen vergeben können, die an ihnen schuldig geworden sind? – wenn ihre Täter das Unrecht, das sie begangen haben, weder bereuen noch ihre Opfer um Vergebung bitten?
Vergebung hat ja nicht nur eine vertikale Dimension: „Gott und Mensch“, sondern auch eine horizontale: „Mensch und Mensch“
Vergebung hat ja nicht nur eine vertikale Dimension: „Gott und Mensch“, sondern auch eine horizontale: „Mensch und Mensch“. Vergebung hat (fast immer) drei Beteiligte: Gott, den Täter und das Opfer. Gewiss: Gott vergibt alle Schuld, wenn wir zum Unrecht unseres Lebens stehen und ihm unsere Sünden bekennen. Wo wir aber auch an Menschen schuldig geworden sind, ist die Schuld nicht nur Gott zu bekennen, sondern auch gegenüber Menschen zu bereinigen. Die gestörte Beziehung zum Mitmenschen muss ebenfalls wieder in Ordnung gebracht werden. Alles andere ist Selbstbetrug!
Als Täter:
Ohne Wenn und Aber: Wer am anderen schuldig geworden ist – sei es mit Worten oder Taten – der ist vor Gott verpflichtet, die gestörte oder sogar zerstörte Beziehung zu seinem Nächsten zu bereinigen: Geh hin und söhne dich mit dem aus, der etwas gegen dich hat (eben weil du durch dein Reden und Tun an ihm schuldig geworden bist). Jesus sagt das. Wer durch sein Reden oder Tun an Menschen schuldig geworden ist, darf dieses Unrecht nicht einfach zwischen sich und dem Nächsten stehen lassen. Er hat die um Vergebung zu bitten, an denen er schuldig geworden ist. Und wo etwas wiedergutzumachen ist, da ist in Ordnung zu bringen, was noch zu retten ist. Das betrifft auch die materielle Seite der Schuld. Der Schaden, den wir anderen zugefügt haben (z. B. durch Betrug oder Diebstahl), ist wiedergutzumachen, sofern das noch möglich ist. Ein verletztes Gewissen jedenfalls erfährt nicht den Frieden der Vergebung.
Sicher ist der Weg der Wiedergutmachung kein leichter Weg. Es fällt uns meist weitaus schwerer, unser Unrecht vor Menschen einzugestehen und sie um Vergebung zu bitten, als unsere Schuld vor Gott zu bekennen. Aber nur wer wirklich aufräumt und klare Sache macht, kann von der Vergangenheit nicht mehr eingeholt werden. Jede unbereinigte Vergangenheit ist eine böse Belastung für die Zukunft. Wir werden schwer daran zu tragen haben und früher oder später wird sie uns einholen – zu unserem Verderben. Spätestens dann, wenn wir – und das schreibt der Apostel Paulus den Christen – „vor dem Richterstuhl Christus offenbar werden müssen, damit jeder seinen Lohn empfange für das, was er getan hat bei Lebzeiten, es sei gut oder böse“ (2Kor 5,9-10).
Nicht von ungefähr sagt Jesus darum:
„Wenn du zum Altar gehst, um Gott deine Gabe zu bringen, und dort fällt dir ein, dass dein Bruder oder deine Schwester etwas gegen dich hat, dann lass deine Gabe vor dem Altar liegen, geh zuerst hin und söhne dich aus. Einige dich mit deinem Gläubiger rechtzeitig, solange du noch mit ihm auf dem Weg zum Gericht bist. Sonst wird er dich dem Richter ausliefern und der wird dich dem Gerichtsdiener übergeben, damit er dich ins Gefängnis steckt. Ich versichere dir: Dort kommst du erst wieder heraus, wenn du deine Schuld bis auf den letzten Pfennig bezahlt hast“ (Mt 5,23-26).
In christlichen Kreisen wird gelehrt, dass Christen zur Vergebung verpflichtet sind. Das stimmt! – aber eben nicht bedingungslos. Wer an seinem Mitmenschen schuldig geworden ist, den fordert Gottes Wort dazu auf, sich mit dem zu versöhnen, an dem er schuldig geworden ist. Nur so ist Vergebung möglich. Wenn jemand etwas gegen uns hat, so ist das fast immer dann der Fall, wenn und weil wir ihn durch unser Verhalten in Wort oder Tat verletzt, gekränkt oder sonstwie Unrecht zugefügt haben. Ob bewusst oder unbewusst spielt dabei zunächst keine Rolle. Der andere hat etwas gegen uns! – das genügt. Und wenn uns dies bewusst wird – und wir alle spüren es sehr genau, ob unsere Beziehung zum anderen stimmig oder unstimmig ist – dann ist es unsere Verpflichtung, den anderen daraufhin anzusprechen: Geh hin und söhne dich mit dem aus, der etwas gegen dich hat.
Als Opfer:
Auch der, dem Unrecht zugefügt worden ist, darf dies nicht nur einfach hinnehmen
Aber nicht nur der „Täter“ ist aufgerufen, mit dem „Opfer“ seiner Worte oder seines Tuns ein klärendes Gespräch zu suchen, mit dem Ziel der Versöhnung. Auch der, dem Unrecht zugefügt worden ist, darf dies nicht nur einfach hinnehmen, sondern hat den betreffenden Menschen daraufhin konkret anzusprechen. Jesus sagt: Wenn dein Nächster gegen dich sündigt, weise ihn zurecht (Lk 17,3). Wem Unrecht zugefügt wird, darf das Unrecht nicht widerspruchslos hinnehmen, sondern hat den, der ihm Unrecht tut, ernstlich zurechtzuweisen.
Als der Apostel Paulus seinerzeit vom Hohen Rat in Jerusalem verhört wurde, befahl der Hohepriester Ananias den anwesenden Dienern, Paulus auf den Mund zu schlagen. Und was hat Paulus getan? Hat er unterwürfig geschwiegen? – und dies Unrecht widerspruchslos hingenommen? Die Bibel berichtet:
„Da sprach Paulus zu ihm: ‚Gott wird dich schlagen, du getünchte Wand! Im Namen des Gesetzes sitzt du über mich zu Gericht, doch du selbst missachtest das Gesetz, indem du mich schlagen lässt‘“!? (Apg 23,3)
Oder nehmen wir Jesus Christus, als er ebenfalls vom Hohen Rat verhört wurde. Der Hohepriester befragte ihn über seine Jünger und über seine Lehre. Jesus erklärte:
„Ich habe immer frei und offen geredet und so, dass alle Welt es hören konnte. Ich habe nie im Geheimen gelehrt, sondern immer in den Synagogen und im Tempel, wo alle Juden zusammenkommen. Warum fragst du mich also? Frag die, die mich gehört haben; sie wissen, was ich gesagt habe.“ Empört über diese Worte, schlug ihn einer der Gerichtsdiener, die dabeistanden, ins Gesicht und sagte: „Wie kannst du es wagen, dem Hohenpriester so eine Antwort zu geben?“ Jesus erwiderte ihm: „Wenn ich etwas Unrechtes gesagt habe, dann weise es mir nach! Bin ich aber im Recht, warum schlägst du mich?“ (Joh 18,19-23)
Weder Jesus noch Paulus haben gesagt: Was immer mir auch an Unrecht angetan und zugefügt wird, ich nehme alles widerspruchslos hin – und vergebe einfach. Einfach so. Von dieser Art der „Vergebung“ ist im Neuen Testament nicht die Rede. Wohl aber von der Vergebung, deren Bedingung Jesus so beschreibt: Wenn dein Nächster gegen dich sündigt, weise ihn zurecht – und wenn er es bereut, dann vergib ihm.
Ohne Einsicht der Schuld und der Bitte um Vergebung kann es keine Vergebung geben. Bei Gott nicht – und auch nicht in der Beziehung von Menschen. Es gilt zwar: Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir denen vergeben, die an uns schuldig wurden (Mt 6,12). Aber dieses „wie auch wir denen vergeben, die an uns schuldig wurden“ kann nur dann geschehen, wenn auch stattfindet, was Jesus als Bedingung der Vergebung unter Menschen nennt: Wenn dein Nächster gegen dich sündigt, weise ihn zurecht – und wenn er es bereut, dann vergib ihm (Lk 17,3).
Nehmen wir noch einmal den Apostel Paulus. Dieser Mann hatte ja sehr viel Böses und Unrecht zu erleiden: von Menschen in und außerhalb der Gemeinde (Vgl. 2Kor 2,5-10). Er hat denen, die ihm Unrecht taten, nicht „einfach so“ vergeben, sondern sie zur Rede gestellt. Den Gerichtsdienern der Stadt Philippi sagte er:
„Erst haben uns die Stadtobersten ohne jedes Gerichtsverfahren öffentlich schlagen lassen, obwohl wir das römische Bürgerrecht besitzen, dann haben sie uns ins Gefängnis geworfen, und jetzt wollen sie uns still und heimlich abschieben? Das kommt nicht in Frage! Sie sollen selbst hier erscheinen und uns persönlich aus dem Gefängnis herausführen!“ (Apg 16,37).
Die Stadtobersten kamen dann auch, berichtet die Apostelgeschichte.
Sie begaben sich persönlich zu ihnen und entschuldigten sich (für das, was geschehen war). Daraufhin führten sie die beiden aus dem Gefängnis und baten sie, die Stadt zu verlassen (Apg 16,39).
Und eben, weil sie ihr Unrecht bereuten, das sie Paulus und seinem Gefährten Silas angetan hatten – und sich dafür entschuldigten, darum war Vergebung auch möglich. Ganz anders verhielt sich Paulus gegenüber einem Mann aus der Gemeinde, mit Namen Alexander. In einem Brief an seinen Mitarbeiter Timotheus schreibt er ihm:
„Alexander, der Schmied, hat mir viel Böses getan; der Herr wird ihm vergelten, wie es seine Taten verdienen. Nimm auch du dich vor ihm in Acht, denn er ist unseren Aussagen scharf entgegengetreten“ (2Tim 4,14-15).
Paulus schreibt nicht:
Paulus schreibt nicht:
Alexander, der Schmied, hat mir viel Böses getan; ich habe ihm einfach alles vergeben!
Alexander, der Schmied, hat mir viel Böses getan; ich habe ihm einfach alles vergeben! – sondern er handelte hier so, wie er es allen Christen im Römerbrief nahelegt:
„Rächt euch nicht selbst, liebe Freunde, sondern überlasst die Rache dem Zorn ‘Gottes‘. Denn es heißt in der Schrift: Das Unrecht zu rächen ist meine Sache, sagt der Herr; ich werde Vergeltung üben“ (Röm 12,19).
Entsprechend schreibt er Timotheus, wie er mit dem Bösen, das der Schmied Alexander ihm angetan hat, umgeht. Er hat es in Gottes Hände gelegt: Der Herr wird ihm vergelten, wie es seine Taten verdienen.
Vergebung ist ein Herzstück der Nachfolge des Herrn
Offenbar war dieser Alexander nicht bereit, sich für all das Böse, was er Paulus zugefügt hatte, auch nur in irgendeiner Weise zu entschuldigen. Darum war es auch nicht möglich, zu vergeben, sondern Paulus legte alles erlittene Unrecht in die Hände dessen, der gerecht richtet: in die Hände Gottes. So hat es auch Jesus getan. So sollten auch wir es tun, wenn uns Böses und Unrecht zugefügt wird – und der betreffende Mensch nicht bereit oder willens ist, sein Unrecht einzusehen und es wieder gut zu machen.
Und wie sieht die Praxis aus?
Wo aber geschieht, was Gottes Wort als Voraussetzung zur Vergebung nennt? Seit 34 Jahren stehe ich im Dienst als Verkündiger des Evangeliums: als Evangelist, Pastor und Seelsorger. Ich habe zig Gemeinden kennengelernt, die alle bekennen, dass sie sich als Gemeinde von Jesus Christus verstehen und ihre Nachfolge nach den Weisungen ihres Herrn leben. Aber nur selten habe ich erlebt, dass Vergebung dem entspricht, wie es Jesus gebietet: dass der, dem Unrecht und Böses angetan wurde, seinen Schuldiger zur Rede stellt und zurechtweist, damit ihm vergeben werden kann, wenn er sein böses Tun – sei es in Wort oder Tat – einsieht und bereut. Und ebenso selten habe ich erlebt, dass jemand, dem bewusst ist, dass er sich gegen seinen Nächsten versündigt hat, sich auf den Weg macht, um sich mit dem auszusöhnen, der etwas gegen ihn hat.
So ist es dazu gekommen, dass Vergebung zu einer leeren Floskel geworden ist und nicht mehr stattfindet. Jedenfalls: Wenn von Vergebung die Rede ist, dann ist fast immer nur jene unbiblische Vergebung gemeint, die diejenigen, an denen man schuldig geworden ist, einseitig zur Vergebung verpflichtet: … wie auch wir denen vergeben, die an uns schuldig wurden. Einfach so! Aber von denen, die schuldig wurden, wird weder Einsicht noch Bekenntnis ihrer Schuld erwartet, geschweige denn Reue.
Damit wir uns nicht missverstehen: Vergebung ist ein Herzstück der Nachfolge des Herrn. „Vergebt einander, wenn einer dem andern etwas vorzuwerfen hat. Wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr!“ – schreibt der Apostel Paulus im Kolosserbrief (3,13). Aber eben: Wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr. Und seine Bedingung zur Vergebung lautet schlicht und einfach:
„Wenn wir unsere Sünden bekennen, dann erweist er sich als treu und gerecht: Er vergibt uns unsere Sünden und reinigt uns von allem Unrecht“ (1Joh 1,9).
Jedenfalls: Auch alle Schuld des Menschen in seinen Beziehungen untereinander kann nur dann ausgeräumt und vergeben werden, wenn sie ohne Wenn und Aber bereinigt wird. Und zwar dadurch, dass Schuld als Schuld bekannt wird – gegenüber dem, an dem man schuldig geworden ist. Nur so lässt sich ein verletztes und verwundetes Herz zu einem neuen Miteinander öffnen. Wo nicht, da bleiben die Vorbehalte – und statt Vergebung wächst der Groll, die Bitterkeit und der Hass. Machen wir uns da nichts vor: Vergebung ist nicht billig. Biblische Vergebung ist kein einseitiges Handeln – es betrifft immer das Verhältnis von mindestens zwei Personen. Ich denke da an eine Gemeindeversammlung. Die Kontrahenten kamen in einen heftigen Wortwechsel und gerieten scharf aneinander.
Und plötzlich nannte jemand einen der Gemeindeältesten einen Lügner. Empört stellte der den zur Rede, der dies gesagt hatte. Aber der sagte es abermals und noch einmal: Du bist ein Lügner! Und viele in der Gemeinde klatschten unter lautem Gejohle Beifall. Das Tischtuch war damit zerschnitten. Tief verletzt verließ die als Lügner beschimpfte Person die Versammlung. Es stellte sich bald heraus, dass die Behauptung, jener Gemeindeälteste sei ein Lügner, jeder Grundlage entbehrte – und sich als schamlose Verleumdung entpuppte.
Wie diese böse Angelegenheit geklärt wurde? Der Gemeindevorstand versuchte, die Sache entsprechend der Weisung von Jesus zu bereinigen: „Wenn dein Bruder gegen dich sündigt, weise ihn zurecht, und wenn er es bereut, dann verzeih ihm“ (Lk 17,3b). Aber der dachte gar nicht daran, sich für sein böses Gerede zu entschuldigen. Im Gegenteil: Obwohl er mit nichts beweisen konnte, was er behauptete, blieb er uneinsichtig bei seiner Verleumdung, jener Gemeindeälteste sei ein ganz elendiger Lügner.
Ich frage: Wie kann diesem Menschen vergeben werden? – von Gott und seitens desjenigen, den er als Lügner verleumdet und beschimpft? Vergebung von Gott kann ihm nur dann zuteil werden, wenn er sich entschließt, die Weisung in Gottes Wort zu befolgen: „Wenn wir unsere Sünden bekennen, erweist Gott sich als treu und gerecht: Er vergibt uns unsere Sünden und reinigt uns von allem Unrecht“ (1Joh 1,9). Und Vergebung von Menschen kann er erst dann erwarten, wenn er sein böses Reden über seinen Nächsten als Schuld eingesteht, und dafür um Vergebung bittet. Ihm einfach so – mir nichts, dir nichts – zu vergeben, würde die Vergebung Gottes zu einer „Lachnummer“ verkommen lassen. Vergebung hat ihren Preis. Es hat Jesus Christus sein Leben gekostet, für unsere Sünden zu sterben und in den Tod zu gehen.
Wir haben keinen automatischen Anspruch auf Vergebung unserer Sünden
Jedenfalls: Wir haben keinen automatischen Anspruch auf Vergebung unserer Sünden. Nicht im Geringsten. Es ist allein Gottes Güte, die uns in Jesus Christus die Gnade der Vergebung schenkt, wenn wir denn unsere Sünden bekennen. Und wir haben auch keinen Anspruch auf Vergebung derer, an denen wir – durch unsere bösen Worte oder unser ungerechtes Tun – schuldig geworden sind. Wenn diejenigen uns mit Vergebung beschenken, an denen wir uns versündigt haben, dann geschieht auch das im Namen von Jesus Christus, wenn wir denn ihnen gegenüber unsere Schuld eingestehen und sie um Vergebung bitten. Billiger ist Vergebung nicht zu haben.
Nun höre ich schon den Einwand, dass Gottes Vergebung doch für jeden hinfällig wird, wenn er seinen Schuldigern nicht vergibt? Steht das nicht ohne Wenn und Aber in der Bibel? Hat Jesus nicht gesagt:
„Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, wird euer Vater im Himmel euch auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater ´im Himmel` euch eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Mt 6,14-15).
Vergebung darf nicht verweigert werden, wenn der Schuldige seine Schuld eingesteht, sie bekennt und um Vergebung bittet
Das ist so! – aber es ist damit nicht gesagt, dass alles andere, was Jesus hinsichtlich „Vergebung“ lehrte, keine Bedeutung mehr hat. Ohne Frage: Vergebung darf nicht verweigert werden, wenn der Schuldige seine Schuld eingesteht, sie bekennt und um Vergebung bittet. Aber wo der Schuldige seine Schuld nicht bekennt und nicht um Vergebung bittet, kann es auch keine Vergebung geben – weder bei Gott, noch bei Menschen.
Wo wir am anderen schuldig werden, hinterlässt das im Leben der Betroffenen immer tiefste Verletzungen und Wunden. Sind doch unsere bösen Worte wie Schlangengift. Alle Lieblosigkeit und Unbarmherzigkeit, die wir unserem Nächsten zufügen, hinterlässt in seiner Seele eine furchtbare Spur der Verwüstung. Zerstörung und Jammer sind auf unseren Wegen (Röm 3,14-15). Machen wir uns da nichts vor: Jedem, dem Böses, Unrecht und Leid angetan und zugefügt wird, hat daran schwer zu tragen. Böse und ungerechte Worte und Taten hinterlassen tiefe Spuren von Groll und Bitterkeit. Und sie können nur anfangen auszuheilen, wenn der böse Stachel des Unrechts entfernt wird. Was vor allem dadurch geschieht, dass der Schuldige seine Schuld dem gegenüber bekennt und eingesteht, an dem er schuldig geworden ist – und ihn um Vergebung bittet. Wo das geschieht, da ist Vergebung möglich und darf nicht verweigert werden. Wo sie aber dennoch verweigert wird, geschieht dann tatsächlich das, was Jesus so gesagt hat:
„Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, wird euer Vater ‘im Himmel‘ euch eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Mt 6,15).
Was ist aber, wenn der Täter sein Unrecht nicht bereut und sein Opfer nicht um Vergebung bittet?
Nun ist es ja leider so, dass es selten vorkommt, dass diejenigen, die uns durch ihr böses Reden und Tun verletzt und verwundet haben, ihr Unrecht eingestehen und um Vergebung bitten. Wie aber kann dann der Groll und die Bitterkeit meines verwundeten Herzens ausheilen, wenn derjenige, der an mir schuldig geworden ist, weder seine Schuld eingesteht noch um Vergebung bittet? Dann sollte man unbedingt so handeln, wie es Jesus für seine Nachfolger im Matthäus-Evangelium angeordnet hat:
„Hört er (der sich an dir versündigt hat) nicht auf dich, dann geh mit einem oder zwei anderen noch einmal zu ihm, damit der ganze Sachverhalt durch den Mund von zwei oder drei Zeugen bestätigt werde“ (Mt 18,16).
Sich als Opfer jemand zu offenbaren, der dann die Konfrontation mit dem Täter sucht, ist nicht nur für das eigene geistliche Leben entlastend, sondern auch und gerade unter seelsorglichen Gesichtspunkten sehr wichtig. Warum?
Damit uns die Verwundung unseres Herzens nicht ebenfalls zur Schuld wird, weil wir den Groll und die Bitterkeit unseres Herzens in uns hineinfressen, gibt es nur einen Weg: Alles im Gebet an Gott abzugeben und in seine heilenden Hände zu legen. Das erlittene Unrecht ebenso, wie auch alle damit empfundenen Gefühle der Bitterkeit, des Grolls und der Vergeltung.
Gott weiß um alle unsere Empfindungen, Gefühle und Gedanken – und er steht auf der Seite derer, die durch Unrecht ein verwundetes Herz haben. Bei seiner Ehre: Gott macht sich zum Anwalt derer, die da Leid tragen, weil ihnen Böses und Unrecht angetan wurde. Nicht von ungefähr heißt es im Buch der Sprüche (20,22):
„Nimm dir nicht vor, erlittenes Unrecht selber zu vergelten! Vertrau auf Gott, er wird dir Recht verschaffen!“
Worauf es ankommt, ist die Bereitschaft zur Vergebung. Dies aber von den „Opfern“ des Unrechts einfach zu erwarten oder gar einzufordern, ist eine geradezu unmenschliche – und unbiblische – Überforderung. Hand aufs Herz: Können wir denn denen so einfach vergeben, die uns zutiefst verletzt haben – ohne Wenn und Aber? Einfach so! Auch dann, wenn die Tochter vergewaltigt und ermordet wurde? Auch dann, wenn man als kleines Mädchen oder Junge von einem Onkel aus der Verwandtschaft, oder vielleicht vom eigenen Vater, missbraucht worden ist? Auch dann, wenn man vor den Augen und Ohren aller in der Gemeinde als Lügner beschimpft und verleumdet wurde – und unsere Würde und Ansehen in den Schmutz getreten worden ist?
Wichtig ist, dass wir vergebungsbereit bleiben
Solche Wunden sitzen unermesslich tief. Sie benötigen einen langwierigen Heilungsprozess. Manchmal braucht es Jahre und Jahrzehnte, bis solche Verletzungen aufhören zu schmerzen und langsam anfangen zu heilen. Es braucht Zeit, bis wir fähig sind, das uns zugefügte Unrecht loszulassen um es Gott zu überlassen. Und ihm zu sagen, dass wir bereit und willens sind, zu vergeben – und seinem Urteil die anheimstellen, die an uns schuldig geworden sind, auch wenn diese weder ihre Schuld einsehen noch uns um Vergebung bitten.
Wichtig ist, dass wir vergebungsbereit bleiben, aber alle Gefühle und Empfindungen des Grolls, der Bitterkeit, des Hasses und der Vergeltung immer wieder (neu) an Gott abgeben, sobald sie wieder in unserem Herzen aufsteigen und sich unserer bemächtigen wollen.
Über die, die uns Böses und Unrecht zufügten und nicht bereit sind, ihre Schuld einzugestehen und um Vergebung zu bitten, wird zu seiner Zeit der Richter über Lebende und Tote sein gerechtes Urteil fällen. Jeder wird einmal für sein Leben vor ihm Rechenschaft ablegen müssen. Und ER wird alles Verborgene ans Licht bringen, alles, was jetzt noch im Dunkeln liegt, und wird die geheimsten Gedanken der Menschen aufdecken (1Kor 4,5) – ohne Ansehen der Person.
„Denn wir alle müssen einst vor dem Richterstuhl Christus offenbar werden, damit jeder seinen Lohn empfängt für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat“ (2Kor 5,10).
Davon bin ich überzeugt – und darum bemühe ich mich auch, Vergebung so zu leben, wie es dem Willen von Jesus Christus für seine Jünger entspricht: Als Täter: Geh hin und söhne dich mit dem aus, der etwas gegen dich hat (weil du ihm Unrecht getan hast – Mt 5,23-24). Als Opfer: Wenn dein Nächster gegen dich sündigt, weise ihn zurecht – und wenn er es bereut, dann vergib ihm (Lk 17,3 b).