Oberhofprediger Franz Volkmar Reinhard (geb. 1753) dürfte kaum noch bekannt sein. Auch nicht in Sachsen, seiner Wirkungsstätte. Dort bekleidete er in Dresden diese Stelle von 1792 bis zu seinem Tod 1812.
Immerhin predigte er Sonntag für Sonntag vor etwa 3.000 bis 4.000 Kirchgängern. Seine Predigten wurden gesammelt und in ca. 40 Bänden veröffentlicht. Deren Verbreitung über ganz Deutschland hinweg, verschaffte ihm entsprechende Bekanntheit. Obwohl seine Predigten keineswegs feurig wirkten, hörte man sie gern.
Dennoch sollte er noch eine ganz besondere Rolle spielen. Am Reformationstag vor 200 Jahren, also am 31.10.1800, hielt Reinhard in der Dresdner Sophienkirche ein Predigt, die einen Wendepunkt darstellen sollte. Obwohl Reinhard ganz in seiner Zeit eingewurzelt war und Ideen des Rationalismus vertrat, äußerte er dazu recht kritische Gedanken.
Er begann seine Predigt wie folgt:
„Ob ich gleich, wie ich aufrichtig versichern und vor Gott bezeugen kann, das Evangelium von Jesu, seitdem ich das Lehramt führe, fast an keinem Tage des Jahres mit mehr Rührung und Dankbarkeit gegen Gott, mit mehr Freudigkeit und Mut verkündigt habe als an dem Feste, welches wir heute feiern: so bin ich doch, ich kann es nicht leugnen, schon seit einigen Jahren an eben diesem Tag mit einem heimlichen Kummer und mit einer Verlegenheit unter euch aufgetreten, …, die ich kaum verbergen kann und die ich nicht umhin kann, euch endlich zu gestehen und bemerklich werden zu lassen.“
Ihm sei jetzt erst klar geworden, dass „sich unsere Kirche … von der eigentlichen Lehre Luthers“ entfernt habe. So will er nun „an den eigentlichen wahren Ursprung der Kirche“ erinnern, an die „Haupt- und Grundlehre“.
An diesem Tag predigt er über Römer 3,23.25:
„Es ist hier kein Unterschied, sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“
Seinen Zuhörern erläutert er, dass dies das eigentliche und ganze Evangelium und zugleich Anlass und Ziel der Reformation gewesen ist. Im Leben wie im Sterben eines jeden Christen sei dies das einzige Fundament.
Seine Predigt stieß bei seinen Zuhörern auf tiefe Aufnahme und die Einsicht, dass genau dies ihnen gefehlt habe. Seine Ermahnung zum Festhalten dieser Wahrheit fiel aber nicht nur auf fruchtbaren Boden. Das Lager der Rationalisten lehnten die Predigt radikal ab. Maßgebliche Unterstützung erfährt Reinhard durch Minister von Burgsdorff, der Druck und Verbreitung seiner Predigt veranlasst. Reinhard trete für die Grundlehre von der freien Gnade Gottes in Christo und der Rechtfertigung allein durch den Glauben ohne Verdienst ein. Menschliche Tugenden seinen ohne diesen Glauben unzulänglich.
Von seinen Gegnern wurde ihm Anpassung vorgeworfen. Dieser Vorwurf ist um so unverständlicher, da die Vorherrschaft des Rationalismus nahezu vollständig war. Die Rede vom alleinigen Vertrauen auf die Rechtfertigung allein aus Gnaden war damals ein Anachronismus und man vermutete, dass Reinhard diese Überzeugung eigentlich gar nicht haben könne.
Solche Einschätzung ist viel zu oberflächlich und wird Reinhard in keiner Weise gerecht. Zumal er ja aus seiner Neigung zum Rationalismus keinen Hehl machte. In seiner Reformationsrede verweist er darauf, dass er bereits seit einigen Jahren „an eben diesem Tag mit einem heimlichen Kummer und mit einer Verlegenheit unter euch aufgetreten“. Dafür muss es Gründe gegeben haben.
Zum einen sind die schweren inneren Kämpfe im Umgang mit den philosophischen Systemen zu nennen. Während seiner Lehrtätigkeit in Wittenberg (bis 1792) hatte er sich mit allen ihren Systemen zu beschäftigen. Keines von ihnen, weder die älteren noch die jüngeren (z. B. von Kant), vermochten ihm zu geben, was er sich erhoffte. Allenfalls suchte er sich ein Bild aus Mosaiksteinchen zu erstellen, indem er aus jedem System das Brauchbarste entnahm.
Andererseits gab es in seinem Leben ein „Vorurteil seiner Jugend“. Darunter verstand er seine Prägung aus den Jugendjahren, während der er mit größtem Eifer in der Bibel las und darin alles fand, was er brauchte. Die Autorität der Bibel stand ihm fest. Darum vermochte er sich nicht der rationalistischen Denkweise anzuschließen, die die Tatsächlichkeit göttlicher Offenbarung verwarf. Dennoch darf man sich von ihm kein zu verklärtes Bild machen. Er stand mitten in den geistigen und geistlichen Stürmen. Mit Tränen in den Augen rang er in innigem Gebet. Doch die zahlreichen Streitigkeiten verschafften ihm keine Ruhe.
Unverkennbar ist jedoch, dass er zunehmend vom Zentrum der biblischen Botschaft her verkündigte und argumentieret. Dies verleiht seinem Wirken ein anderes Gewicht und ist für die Predigt am Reformationstag verantwortlich.
„Er redet nicht mehr nur von Unvollkommenheiten und moralischen Schwächen, sondern von Sünden und Lastern und von dem einen Heiland Jesus Christus, als dem Mittler zwischen Gott und den Menschen.“
Und er bekennt:
„Ich bedarf … eines Heilandes und Mittlers, und zwar eines solchen, desgleichen Christus ist. Mein Herz und Gewissen lehren mich, wie verwegen es ist, auf seine Tugend zu trotzen. Was man menschliche Tugend nennt, steht sehr tief unter allen Forderungen Gottes, dass ich keine Möglichkeit absehen kann, wie der Sünder sich selbst und ohne eine besondere Veranstaltung und Hilfe Gottes in ein besseres Verhältnis zu Gott setzen und der Gnade Gottes würdig und gewiss werden soll. … So lebe nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“
Deutlicher kann man sich nicht in Widerspruch zum herrschenden Rationalismus setzen, die vom Wert der Tugenden überzeugt sind und reden. Rechtfertigung gibt es allein aus Gnade.
Dass ein Mann in dieser Position solch sensationelle Äußerungen wagte, muss hoch gewertet werden. Schließlich wurde das Kernstück der biblischen Lehre und der Reformation wieder einmal thematisiert, nachdem es fast verloren schien. Immerhin schadete es ihm nicht so sehr. Denn 1809 erfolgte eine Berufung nach Berlin als Staatsrat in die oberste Kirchenbehörde, die er jedoch ablehnte. Andererseits blieb natürlich der Rationalismus noch fest im Sattel und sollte es noch viele Jahre bleiben.
Vom Wort Gottes erreicht und mutig gepredigt, was zu damaliger Zeit unerwünscht war. Nicht vollkommen und zuweilen zaghaft, doch von Gott zur Wende benutzt.