ThemenGemeinde und Mission

Pro Evangelisation: Warum ich trotz vorhandener Probleme zu ‚ProChrist‘ stehe

Ein persönliches Statement von Prof. Dr. Helge Stadelmann.

1. Evangelisation mit Schönheitsfehlern war oft die einzige Alternative zu einer Orthodoxie ohne Evangelisation.

Evangelisation hat unter erweckten Christen zu Recht immer einen hohen Stellenwert gehabt. Orthodoxe und Konfessionalisten der Vergangenheit haben zum Teil Jahrhunderte lang über Details der Bekenntnisunterschiede gestritten. Die Weltmission wurde darüber für einige Jahrhunderte völlig vergessen. Wären da nicht die Pietisten, die Freikirchler und die Erweckten gewesen, der Aufbruch in die Weltmission wäre vielleicht bis heute nicht erfolgt. August Hermann Francke mag die Rolle des Menschen im ‚Bußkampf‘ übertrieben haben, trotzdem war die von Halle ausgehende Mission ein enorm wichtiger Startschuss. Zinzendorf mag einige gravierende theologische Probleme gehabt haben, und doch ging von Herrnhut ein missionarischer Segensstrom in die Welt. Wesley und der Methodismus mögen die Souveränität Gottes nicht so deutlich erkannt und gewichtet haben wie Luther und Calvin, und doch hat Gott sie reich gesegnet und gebraucht als Träger von Evangelisation und Erweckung im 18. und 19. Jahrhundert. Wenn sich heute eine neue Orthodoxie quasi gegen die gesamte Evangelisationsbewegung der letzten beiden Jahrhunderte stellt – von Wesley über Finney, Moody, Graham, Hybels bis ProChrist (man könnte noch Elias Schrenk, Jakob Vetter, Wilhelm Busch, Leo Janz, Anton Schulte, Theo Lehmann u.a. mit dazu nehmen) – und diese wegen ihrer Betonung menschlicher Faktoren und bestimmter Methoden nicht nur in Einzelpunkten, sondern grundsätzlich kritisiert und ablehnt1 bin ich zurückhaltend. Man darf theologische Fragen auch an die Evangelisationsbewegung stellen. Aber man sollte es nicht tun ohne große Dankbarkeit gegenüber Gott für die Scharen von Menschen, die er durch diese Evangelisten und ihren Dienst zum Glauben gerufen hat! Und man sollte es auch nicht tun ohne das bescheidene Eingeständnis, dass manche Theologen, die den Evangelisten lehrmäßig so überlegen waren, praktisch sehr wenig für die Evangelisierung der Verlorenen getan haben.

2. Evangelisation braucht den Liebesdienst theologischer Begleitung.

Als Theologischer Lehrer sehe ich die Verpflichtung, den Evangelisten den Liebesdienst lehrmäßiger Begleitung und Korrektur zu erweisen. Wesentlich ist dabei vor allem, in Heilsfragen immer von der Souveränität Gottes, seiner grundlosen Gnade, seinem unverdienten Erlösungsgeschenk in Jesus Christus auszugehen. Der Mensch hat in Heilsfragen keinen freien Willen – das haben die Reformatoren völlig richtig gesehen. Von sich aus fragt der Sünder nicht nach Gott, von sich aus sucht der geistlich Tote nicht den Weg des Lebens. Es ist Gott, der in seiner Gnade den Sünder durch sein Wort anspricht, ihm das Herz öffnet, als Frucht des Geistes den Glauben weckt und zu einer Entscheidung für die Umkehr befreit. Diese Gnade kann man mit keiner Methode ersetzen, man kann sie nicht erzwingen – aber man kann sie erbitten. Im Vertrauen auf dieses Gnadenhandeln Gottes soll der Evangelist auf biblischer Basis das Evangelium predigen. Dieses Evangelium hat immer Jesus, den für uns gekreuzigten und auferstandenen Herrn, zum zentralen Inhalt.

Wenn im Zentrum der Evangelisationspredigt nicht mehr das Evangelium von Jesus, sondern menschliche Tipps zur glücklicheren Lebensbewältigung zu stehen kommen, muss korrigierend die Stimme erhoben werden

Die Methoden der Evangeliumsverkündigung können dagegen unterschiedlich sein. Wenn in der Apostelgeschichte zu schriftkundigen Juden gepredigt wurde, haben die Apostel das Evangelium durch Auslegung der alttestamentlichen Heilsgeschichte erklärt. Wenn in der Apostelgeschichte Heiden angesprochen wurden, haben die Apostel sie durch Anknüpfung an ihre Situation und Vorstellungswelt abgeholt, jedoch ihre Predigt am Ende auf Jesus als die Antwort zugespitzt. Immer aber ging und geht es um die klare Verkündigung des Evangeliums.

Die Einsicht in diese Heilswahrheiten muss der Wetzstein sein, an dem der Evangelist immer wieder seine Sense schärft. Es muss und darf ihm gesagt werden, dass ein Vernachlässigen der Souveränität Gottes und eine Überbetonung des menschlichen Wollens, Könnens und Handelns immer die Gefahr werkgerechter Gesetzlichkeit oder suggestiver Seelenmassage mit sich bringt. Und erst recht, wenn im Zentrum der Evangelisationspredigt nicht mehr das Evangelium von Jesus, sondern menschliche Tipps zur glücklicheren Lebensbewältigung zu stehen kommen, muss korrigierend die Stimme erhoben werden – am besten im direkten Gespräch mit dem Evangelisten. Wenn sich herausstellt, dass er das Evangelium vom gekreuzigten und auferstandenen Herrn nicht mehr vollumfänglich glaubt, ist er als Evangelist abzulehnen. Wenn sich aber zeigt, dass der Evangelist das Evangelium ohne Abstriche glaubt, es aber irgendwie aus dem Zentrum verloren hat – vielleicht, weil Lebenshilfethemen mit ein paar netten Tipps so gut beim Publikum ankamen – soll man ihm lehrmäßig wieder zurecht helfen. Zugleich ist es tröstlich zu wissen, dass Gott in seiner Souveränität auch durch unvollkommene Evangelisten Menschen zur Umkehr gerufen und mit seinem Heil beschenkt hat. Die Freude, die im Himmel darüber herrscht, sollten wir nicht durch das irdische Gegenstück grundsätzlicher Kritik in Vergessenheit geraten lassen.

3. Beim Thema Evangelisation dürfen die Grenzen nicht enger gezogen werden, als die Bibel das tut.

Jesus und seine Apostel gingen weite Wege um verlorene Sünder da abzuholen, wo sie waren

Als bibeltreuer Christ bin ich aus biblischen Gründen sehr zurückhaltend, vor Evangelisten, Evangelisationen und Evangelisationsmethoden zu warnen und öffentlich Fronten gegen sie aufzubauen. Bei Gott hat Evangelisation eine ganz hohe Priorität! Jesus und seine Apostel gingen weite Wege, wenn es darum ging, verlorene Sünder da abzuholen, wo sie waren. Jesu Sendung hatte ihre Priorität darin, zu suchen und zu retten, was verloren ist. Er hat mit Zöllnern und Sündern gegessen, um sie so – sehr zum Ärger der Pharisäer – mit dem Evangelium zu erreichen. Er konnte auch schon mal die 99 Gerechten beiseite lassen, um das eine Verlorene zu suchen. Paulus, der den grundsätzlichen theologischen Streit im Blick auf die Beschneidung nicht gescheut hat, wenn es um die rechte Lehre der Rechtfertigung durch Glauben allein ging (Galater), konnte evangelistisch doch sehr pragmatisch vorgehen, wenn er Timotheus selbst beschnitt um des Zugangs zu den Juden willen (Apg 16,3). Überhaupt konnte der Weltmissionar Paulus sagen:

„Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen, die unter dem Gesetz sind, bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin – damit ich die, die unter dem Gesetz sind, gewinne. Denen, die ohne Gesetz sind, bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern unterstehe dem Gesetz Christi – damit ich die, die ohne Gesetz sind, gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise einige rette“ (1Kor 9,20-22).

Selbst wenn die Evangeliumsverkündigung aus niederen Motiven geschah, konnte der Apostel um der Priorität der Evangelisation willen schreiben:

„Was tut’s aber? Wenn nur Christus verkündigt wird auf jede Weise, es geschehe zum Vorwand oder in Wahrheit, so freue ich mich darüber“ (Phil 1,18).

Wenn uns als bibeltreue Leute heute immer diese Motivation Jesu und seiner Apostel bewegte und wir ihre evangelistische Praxis persönlich und in unseren Gemeinden noch Tag für Tag lebten, würde meines Erachtens die Debatte um die rechten Evangelisationsmethoden und Evangelisationsmodelle anders laufen müssen als in den letzten Jahren. Der Akzent läge dann auf „Pro Evangelisation“ (und zwar so klar wie irgend möglich in der Botschaft, und in der Art so kulturell angepasst wie nötig). Er läge nicht auf dem „Contra“ angesichts der zweifellos vorhandenen Problempunkte hier und dort. Der Dienst der Evangelisation würde dann nicht beschädigt oder behindert, sondern gefördert und verbessert.

4. „ProChrist“ kann vor Ort durchaus mit Gewinn und ohne Schaden eingesetzt werden.

„ProChrist“ hat in Gießen seit 1993 regelmäßig auf Allianzebene oder in einzelnen Gemeinden mit positiven Auswirkungen stattgefunden. Meine eigene Gemeinde hat sich in dieser Zeit allerdings auch zwei Mal die Freiheit genommen, anstelle von „ProChrist“ andere Evangelisationsformen mit einem Evangelisten vor Ort zu wählen. Die Verkündigung von Billy Graham 1993 sowie von Ulrich Parzany seither war jedes Mal eindeutig und klar vom biblischen Evangelium bestimmt. Vom Rahmenprogramm haben wir jeweils so viel übernommen, wie es uns vor Ort geeignet erschien. Als ein theologisch liberaler Pfarrer die Beteiligung seiner Gemeinde anbot, und zwar unter der Bedingung, dass die Übertragung vor dem ‚Ruf zur Entscheidung‘ beendet und anschließend über die Evangelisationspredigt mit den Anwesenden diskutiert würde, haben wir als Evangelische Allianz das abgelehnt. Jedes Mal sind Menschen zum Glauben gekommen und haben den Weg in die Gießener Gemeinden gefunden.

Eine Öffnung zur Kooperation mit dem theologischen Liberalismus oder dem römischen Katholizismus hat „ProChrist“ in Gießen nicht bewirkt. Die örtliche Allianz und die evangelikalen Gemeinden würden dies auch nicht zulassen. Hinsichtlich der breiten Medienunterstützung in der Werbung, der Mischung von Eigenprogramm vor Ort und professionellem Rahmenprogramm über Satellit, wie auch hinsichtlich einer im Medienzeitalter durchaus attraktiven und zugleich inhaltlich klaren Predigt über den Bildschirm, erwies sich „ProChrist“ als eine kulturell relevante Möglichkeit, ein relativ großes Spektrum von Menschen heute mit dem Evangelium zu erreichen.

5. „ProChrist“ weist Schwächen und Gefahren auf, denen begegnet werden muss.

Kritik erwächst häufig aus einer apokalyptisch gefärbten Technik- und Medienfeindlichkeit konservativer Kreise

Trotz aller begrüßenswerten Seiten sehe ich auch Problempunkte bei „ProChrist“, die genannt werden müssen und die von den Verantwortlichen bedacht werden sollten. Dabei geht es heute nicht mehr um Kritik, die aus einer apokalyptisch gefärbten Technik- und Medienfeindlichkeit konservativer Kreise erwächst, wie einst bei der „Euro 70“ in Dortmund („Das sprechende Bild!“). Es geht aber sehr wohl um Fragen, die mit den Stichworten „Evangelistische Ökumene“ bzw. „Große evangelistische Koalition“ zu tun haben. Zu fragen ist: Geht es den Pro-Christ-Verantwortlichen hier ausschließlich darum, das klare Evangelium in möglichst viele ‚christliche‘ Kreise und durch sie in breiteste Schichten unseres nachchristlichen Kontinents hineinzutragen? Oder mischt sich in diesen Impuls eine Art Umerziehungsprogramm der Gemeinden, das zwar an dem allseits befürworteten Engagement für die Evangeliumsverkündigung anknüpft, von da aus aber zu grenzenloser Kooperation erzieht, um derentwillen es theologisch unschicklich wird, Wahrheitsfragen überhaupt noch zu stellen? Letzterer Tendenz wäre umso bewusster zu widerstehen, als der gegenwärtige Zeitgeist der Postmoderne es ohnehin schwer macht, für die für alle gleichermaßen verbindliche Wahrheit einzutreten, statt jeden mit seiner Partikular-`Wahrheit‘ einfach nur stehen zu lassen. Wer das Prüfen von Lehre unterläuft, steht in der Gefahr, das Immunsystem der Gemeinde zu beschädigen. Das aber macht geistlich krank und anfällig für jede Art von Irrtum. Es müsste aus biblischen Gründen gelingen, beides zusammenzuhalten: „Allen alles zu werden“, um möglichst alle mit dem Evangelium zu erreichen – und zugleich das Bewusstsein der Gemeinden für den unumgänglichen Lehrstreit im Spannungsfeld von Wahrheit – Erkenntnisunterschieden – und falscher Lehre zu schärfen. Hier sind einige Beispiele für das, was ich meine:

5.1 Die Kooperation mit Liberalen

Wer das Prüfen von Lehre unterläuft, steht in der Gefahr, das Immunsystem der Gemeinde zu beschädigen

Dass die Leitung von „ProChrist“ einen theologisch liberalen Mann wie den badischen Landesbischof Ulrich Fischer in ihr Kuratorium beruft, der in Zentralfragen des Evangeliums („Leibliche Auferstehung Jesu“) anders akzentuiert als Paulus (1Kor 15), verwischt wesentliche Konturen. Um zu erreichen, dass möglichst viele badische Pfarrer ihre Kirchen für Pro-Christ-Evangelisationen öffnen, gibt es sicher geeignetere Wege, als den in Evangeliumsfragen andersdenkenden Bischof in ein hohes Gremium dieser Evangelisationsbewegung aufzunehmen. Man kann Gespräche führen. Billy Graham hat es oft so gehalten, dass er liberale Kirchenführer, in deren Gemeinden er das Evangelium hineinsagen wollte, zu Grußworten oder Schriftlesungen auf die Bühne bat. Seine diesbezügliche Sicht hat er so erklärt:

„Meine eigene Position war, dass wir mit allen bereit sein sollten zusammen zu arbeiten, die bereit sind, mit uns zusammen zu arbeiten. Unsere Botschaft war klar, und wenn jemand mit einer theologisch völlig anderen Sicht irgendwie beschlossen hat, sich uns bei einer Großevangelisation anzuschließen, die Christus als den Weg der Errettung verkündigte, dann hat er oder sie die eigenen persönlichen Überzeugungen kompromittiert, nicht wir“.2

Sicher werden hier Chancen und Gefahren abzuwägen sein. Die Gefahr ist eine doppelte. Zum einen schüttet der liberale Partner, wenn er Redegelegenheit hat, eventuell Wasser in den Wein der Evangeliumsverkündigung. So nahm der rheinische Präses Peter Beier 1993 bei „ProChrist“ in Essen die Gelegenheit wahr, in einem einführenden Gebet in kurzen Worten eine ganz andere Konzeption von Evangelisation und Christwerden zu entfalten, als Billy Graham sie in seiner anschließenden Predigt vertrat.3 Zum andern kann auf Gemeindeebene der Eindruck entstehen (wenn diesem nicht deutlich von den Verantwortlichen entgegengetreten wird), dass liberale Theologie gar nicht so schlimm sein kann, wenn doch anerkannte evangelikale Leiter mit Liberalen kooperieren.4

Ist liberale Theologie vielleicht gar nicht so schlimm, wenn doch anerkannte evangelikale Leiter mit Liberalen kooperieren?

Auf der anderen Seite können begrenzte Kooperationen mit Andersdenkenden zweifellos auch Türen dafür öffnen, dass das klare biblische Evangelium auch in Kreisen verkündigt werden kann, in denen es sonst nicht erklingt. Der bibeltreue Professor Michel Lawson vom Dallas Theological Seminary erzählte mir einmal, dass er aus einer liberalen Episkopalen Kirchgemeinde stammte, in der er nie zur Bekehrung gerufen wurde. Als Billy Graham in diese Stadt kam, wurde der liberale Pfarrer der Episkopalen zu einer Schriftlesung bei der Evangelisation eingeladen und machte daraufhin Werbung für den ‚Kreuzzug‘ in seiner Gemeinde. So kam es, dass Mike Lawson das Evangelium hörte und zum Glauben kam. Heute ist er einer der führenden evangelikalen Gemeindepädagogen der U.S.A. Und doch: Wenn um solch eines Zieles willen vom Evangelisten eine begrenzte Kooperation gesucht wird, muss zugleich für die glaubende Gemeinde deutlich bleiben, wo die Unterschiede liegen und in wieweit und warum man kooperiert. Es wäre die Herausforderung, dass „ProChrist“ Wege findet, dies zu tun.

5.2 Die Kooperation mit Charismatikern

„ProChrist“ hat die – von Ort zu Ort unterschiedlich gehandhabte – Praxis punktueller Zusammenarbeit zwischen nichtcharismatischen und charismatischen evangelischen Christen zwar nicht erfunden, aber man wird sagen können, dass „ProChrist“ in den 90er Jahren solch eine Kooperation auf dem Gebiet der Evangelisation bewusst weiter gefördert hat. Nun scheint es mir hilfreich, das komplexe Thema der Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Gegensätze zwischen Evangelikalen und Charismatikern differenziert anzugehen. In einer idea-Dokumentation habe ich diesbezüglich zwischen ‚Geschwisterlicher Gemeinschaft‘, ‚Lehrgemeinschaft‘, ‚Ekklesialer Gemeinschaft‘ und ‚Dienstgemeinschaft‘ unterschieden.5

Die geschwisterliche Gemeinschaft ist zwischen vielen Charismatikern und Evangelikalen durch den gemeinsamen Glauben an das biblische Evangelium gegeben. Sicher wird es ein biblisch legitimes evangelistisches Anliegen sein, dass diese geschwisterliche Gemeinschaft in irgendeiner Form auch glaubwürdigen Ausdruck erfährt, denn Jesus sagt: „Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Joh 13,35); und er betet zu seinem Vater, dass seine Jünger „eins seien, damit die Welt erkenne, dass Du mich gesandt hast“ (Joh 17,23).

Auch punktuelle ‚Dienst-gemeinschaften‘ zwischen Evangelikalen und Charismatikern sind nicht unproblematisch

Bei der ‚Lehrgemeinschaft‘ wird es schon schwieriger, denn neben dem Verbindenden in der Gotteskindschaft durch den Glauben an den gekreuzigten und auferstandenen Herrn ist konsequent zu fragen, wie weit die lehrmäßigen Gemeinsamkeiten reichen. Und da wird es gerade bei den Sonderanliegen der Charismatiker deutliche Abgrenzungen in der Sache geben müssen – bis hin zu der Frage, ob in manchen extremen Phänomenen im pfingstlich-charismatischen Bereich nicht tatsächlich ein anderer Geist wirken könnte.6

Von daher wird es dann auch hinsichtlich der ‚Ekklesialen Gemeinschaft‘ nicht selten Probleme geben, besonders wenn Charismatiker ihre Sonderanliegen, die viele Evangelikale nicht als schriftgemäß erkennen können, in die Gemeinden hineintragen wollen und dadurch Spannungen und Spaltungen verursachen. Auf diesem Hintergrund zeigt sich dann auch, dass punktuelle ‚Dienstgemeinschaften‘ zwischen Evangelikalen und Charismatikern nicht unproblematisch sind. Sicher wird sich ein Evangelikaler freuen, wenn ein verlorener Mensch durch einen Charismatiker zum Glauben an das Evangelium von Jesus Christus kommt. Bei einer gemeinsamen Großevangelisation würde aber bereits die Frage brisant sein, wie man verhindern will, dass charismatische Seelsorgehelfer Neubekehrten pfingstlich-charismatische Sonderlehren wie die Geistestaufe durch Handauflegung als eine über die Wiedergeburt hinausgehende (zweite) Erfahrung nahe bringen – und wie man verantworten will, dass in der Folge Jungbekehrte in charismatische Gemeinden mit all ihren problematischen Praktiken7 kanalisiert werden.Selbst wenn man in dieser Hinsicht verbindliche Absprachen mit gemäßigt-charismatischen Kreisen trifft, stellt sich die Frage, ob solch eine Vereinbarung nur zum Türöffner wird, durch die dann die extremeren Kräfte eindringen.

Es ist kein Segen, wenn durch gemeinsames Evangelisieren gravierende Lehrprobleme (mit langfristiger Spaltgefahr) in Gemeinden hineingetragen werden

 Vielleicht wäre die geschwisterliche Gemeinschaft am Evangelium am besten ausgedrückt, wenn bei einer stadtweiten Evangelisation statt einer gemeinsamen Großevangelisation mit den genannten Problemen, „ProChrist“ auch den Charismatikern per Satellitenempfang in eigenen Sälen angeboten wird.8 Kein Segen, jedenfalls, kann es sein, wenn durch gemeinsames Evangelisieren gravierende Lehrprobleme (mit langfristiger Spaltgefahr) in Gemeinden hineingetragen werden, wenn ‚Kinder im Glauben‘ falschen Lehren ausgesetzt werden und wenn öffentlich der Eindruck vermittelt würde, es gebe keine gewichtigen Lehrdifferenzen zwischen Evangelikalen und Charismatikern mehr. Nur in dem Maße, in dem sich Charismatiker von den Problemströmungen ihrer Tradition trennen, ist über die geschwisterliche Gemeinschaft hinaus wachsende Kooperation möglich.

5.3 Die Kooperation mit Katholiken

Immer wieder wird von leitenden Vertretern von „ProChrist“ darauf hingewiesen, dass diese Evangelisationsform auch Katholiken offen stehen soll. Nicht ganz deutlich ist, was damit letztlich gemeint ist. Will man nur erreichen, dass sich Hauskreise von gläubig gewordenen Katholiken oder gar einzelne katholische Kirchgemeinden des Empfangs der „ProChrist“-Übertragung bedienen, um so die biblisch-reformatorische Verkündigung des Evangeliums („Allein Christus rettet aufgrund der Gnade durch den Glauben“) durch die Predigt von B. Graham bzw. U. Parzany auch in diese katholischen Kreise hinein zu transportieren? Ich vermute dies. Oder will man den Eindruck vermitteln, die lehrmäßigen Unterschiede zwischen katholischer und evangelikaler Theologie beträfen nur nebensächliche Fragen und seien heute um der großen gemeinsamen Aufgabe der Neuchristianisierung Europas willen zu vernachlässigen? Verzichtet man, um mit dem Evangelium noch nicht erreichte Katholiken mit der Heilsbotschaft zu erreichen, grundsätzlich darauf, die Lehrprobleme des Katholizismus zu benennen, und schickt man jung bekehrte Katholiken um der guten Beziehungen willen prinzipiell in die Katholische Kirche zurück (mit dem Risiko, dass sie dort dann nicht weitergeführt, sondern in mancher Hinsicht weiter verführt werden)?

Schickt man jung bekehrte Katholiken um der guten Beziehungen willen prinzipiell in die Katholische Kirche zurück?

 Ich will die Thematik nicht vereinfachen. Vielleicht gibt es auf Seiten der „ProChrist“-Verantwortlichen hier ein taktisches Schweigen zu den bekannten unbiblischen Lehren des römischen Katholizismus, um so Vertrauen aufzubauen und in der Folge Katholiken mit dem Evangelium zu erreichen.Dann sollten im inner-evangelikalen Gespräch aber zumindest andere ermutigt werden, sich kritisch mit der katholischen Lehrtradition zu befassen, darüber die Gemeinden aufzuklären und so auch gläubig gewordenen Katholiken eine Chance zu geben, aus den Irrtümern ihrer Kirche herauszufinden. In einem vereinten Europa, in dem über 80% der nominellen Christen katholisch und weniger als 20% evangelisch sind, darf der christlichen Gemeinde nicht suggeriert werden, es gäbe hier keinen Grund zur Wachsamkeit! In solch einem Kontext darf der Evangelist nicht die Ausübung des Hirten- und Lehramts verhindern. Und umgekehrt sollte der Lehrer auch nicht jedes von der Liebe zu den Verlorenen bestimmte Taktieren des Evangelisten diskreditieren. Ich kenne bibeltreue FETA-Absolventen in Österreich, die als Pfarrer der lutherischen Diasporakirche gute menschliche Kontakte zur Katholischen Kirche pflegen, und in deren Gottesdiensten sowie durch Evangelisationen wie „ProChrist“ Katholiken zum Glauben gefunden haben. Um die Tür für das Evangelium offen zu halten und um Jungbekehrten den Sippendruck anlässlich einer Konversion zu ersparen, thematisiert man den an sich nahe liegenden Kirchenaustritt nicht, sondern ist zufrieden, wenn sich diese ‚katholischen Evangelikalen‘9 in Hauskreisen treffen und als Besucher in den evangelischen Gottesdienst kommen. Zu befürchten ist nur, dass das Glaubenswachstum eines bekehrten Katholiken irgendwann ins Stocken geraten wird, wenn man ihm gegenüber auf die Auseinandersetzung mit dem Heils-, Sakraments-, Amts- und Kirchenverständnis der römischen Weltkirche verzichtet. Peter Welsch, der als bekehrter Katholik lange Zeit einen Hauskreis von bekehrten Katholiken leitete, hat sich dieser Frage grundsätzlicher gestellt und ist schließlich zu der Überzeugung gekommen, dass der Klärung der Heilsfrage auch die Klärung der Gemeindefrage (usw.) folgen muss. In einem Buch, das in der Gemeindebauliteratur Beachtung verdient, macht er deutlich, dass die Heilige Schrift auch in diesen Fragen der Maßstab für Glauben, Denken und Leben sein muss.10 Eine Evangelisationsbewegung wie „ProChrist“ sollte sich diesen Überlegungen nicht verschließen.

6. Evangelisation treiben, fördern und überprüfen als das Gebot der Stunde.

Das unverfälschte Evangelium vom gekreuzigten und auferstandenen Herrn darf nicht durch Lebenshilfethemen verdrängt werden

Als Fazit empfehle ich, dass bibeltreue Christen es sich – bei allen Problemen – nicht nehmen lassen, nachdrücklich „Pro Evangelisation“ zu sein, und zwar nicht nur als ein Lippenbekenntnis, sondern als echte Priorität. Ich trete dafür ein, dass bei denen, die evangelisieren, das unverfälschte Evangelium vom gekreuzigten und auferstandenen Herrn als alleinigem Heilsgrund im Zentrum bleibt und nicht durch Lebenshilfethemen und Ratschläge für eine erfolgreiche Daseinsgestaltung verdrängt wird. Ich empfehle gleichzeitig, dass meine lieben konservativen Brüder mögliche Neigungen, zeitgemäße Gestaltungsformen oder auch das Benutzen von Anknüpfungspunkten, um entchristlichte Zeitgenossen da abzuholen, wo sie sind, nicht immer gleich negativ bewerten und gegen die Alleinwirksamkeit des Wortes Gottes ausspielen. Wenn es nun um „ProChrist“ geht, möchte ich die Verantwortlichen ermutigen: Bleiben Sie bei Ihrer biblisch klaren Verkündigung des Evangeliums und investieren Sie weiterhin so viel abholende Liebe in das Rahmenprogramm und die Methodik wie bisher. Aber nehmen Sie Korrekturen vor hinsichtlich der Propagierung einer scheinbar problemlosen „Evangelistischen Ökumene“! Denn was nützte es der Sache Gottes in unserem Land, wenn man alle für Jesus gewönne – und hinterließe doch eine gegen Verführungen und Irrlehren künftig widerstandslose Gemeinde. Auf dem Weg in die Endzeit bleibt als Handlungsrahmen die doppelte Herausforderung zum Wachen gegenüber falschen Lehren und zur universalen Evangeliumsverkündigung (Mt 24,4+14). Keins von beiden darf um des andern willen beschädigt werden! Darum geht es mir.

7. Lernen, wie man streiten und sich dennoch lieben kann.

Es sind bibeltreue Leute gefragt, die ein Herz für Evangelisation haben

Es ist heute schwierig, weder rechts noch links vom Pferd herunter zu fallen. Der eine zieht die Grenzen enger, als die Bibel es tut. Ist das bibeltreu? Der andere möchte theologische Kritik an aktuellen Evangelisationsmodellen am liebsten verbieten. Der nächste bekämpft nicht nur jedes Evangelisationsmodell, an dem er Fehler feststellt, sondern trennt sich auch noch von jedem Bruder, der mit seiner Beurteilung nicht 100% übereinstimmt. Und der vierte kennt keine Grenzen mehr, sondern ist nur noch beglückt über alles, was zeitgemäß erscheint und funktioniert. Die einen kennen nur noch ängstliche oder auch scharfe Abgrenzung, die andern suchen ihr Heil in kritikloser Weite. Schnell werden nach der einen oder anderen Seite evangelikale Parteilinien vorgegeben, die dem schwierigen Prozess des Abwägens, was in der persönlichen und örtlichen Situation vor Gott das Richtige ist, kaum eine Chance geben. Die Fähigkeit, Konflikte auszutragen und sich dabei zugleich wert zu schätzen, wird zu einer seltenen Tugend. In dieser Situation sind besonnene Köpfe gefragt, die Situationen fair einschätzen und biblisch beurteilen können. Es sind bibeltreue Leute gefragt, die ein Herz für Evangelisation haben. Und zugleich sind die Gemeinden herausgefordert zu lernen, wie man streiten und sich dennoch lieben kann. Denn Liebe und Wahrheit, Bibeltreue und Evangelisation gehören zusammen.


  1. In diese Richtung geht der Beitrag von Karsten Ernst, „Wie sollen wir das Evangelium verkündigen?“, Informationsbrief, Nr.195 (August 1999), S.9-25. 

  2. B. Graham, Just as I am, London: HarperCollins, 1998, S.303f [Übersetzung des Zitats H. Stadelmann]. 

  3. Ähnliches erleben die landeskirchlichen Gemeinschaften immer wieder, wenn sie den andersdenkenden örtlichen Pfarrer bei ihrem Jahresfest zu einem Grußwort einladen. Und auch bekenntnistreue Pfarrer und ihre Gemeinden erleben dies, wenn zu ihrer Ordination ein dem Pluralismus verpflichteter Bischof (Bischöfin) bzw. Superintendent spricht. 

  4. Diese Gefahr ist allerdings nicht nur bei „ProChrist“ gegeben, sondern es ist ebenso ein Problem bekenntnistreuer Pfarrer innerhalb ihrer Landeskirchen und Kirchenkreise sowie weithin ein Problem für die innerkirchliche Gemeinschaftsbewegung. Eine einfache Lösung ist nicht gegeben, es sei denn, man entscheidet sich für die Separation. 

  5. „Ist zwischen Pietisten und Charismatikern Einheit möglich? Ein Streitgespräch zwischen dem Gründer und Leiter der evangelikal-charismatischen Anskar-Kirche, Wolfram Kopfermann (Hamburg), und dem Rektor der Freien Theologischen Akademie (FTA) Gießen, Prof. Helge Stadelmann“, idea-Dokumentation 5/98, S.13ff. 

  6. Vgl. die idea-Dokumentation 14/99, „Ein Jahrhundertereignis mit weitreichenden Folgen – 90 Jahre Berliner Erklärung“, 36 Seiten, mit Beiträgen von St.Holthaus, Chr.Morgner, W.Nestvogel und M.Hofmann. 

  7. Vgl. H.Stadelmann, „Neue Praktiken innerhalb der pfingstlich-charismatischen Bewegungen: Eine Problemanzeige zu Entwicklungen innerhalb der letzten 30 Jahre“, idea-Dokumentation 1/93, S.6-12; abgedruckt in Bibel und Gemeinde, 93 (3/1993), S.207-215; erhältlich als Sonderdruck (1999) bei Patrick Tschui, Heuweidlistr. 12, CH-8340 Hinwil. 

  8. Wenn in einem charismatischen Zentrum eine „ProChrist“-Evangelisation mit Ulrich Parzany stattfindet, erscheint mir das allemal besser, als wenn die charismatische Gemeinde eigene pfingstlich-charismatische (Heilungs-)Evangelisten einlädt. 

  9. Vgl. auch die sogenannten „Katholischen Evangelikalen“, die sich seit den 70er Jahren wohl auf charismatischem Hintergrund in Irland gebildet haben. Ihr Kompromisspapier „What is an Evangelical Catholic?“, Dublin 1990, ist allerdings eine weder Katholiken noch Evangelikale befriedigende Mixtur aus reformatorischen Wahrheiten und römisch-katholischen (am 2.Vatikanum anknüpfenden) Traditionen. 

  10. P. Welsch, Bewahren oder verlassen? Warum die Mehrheit immer noch römisch-katholisch denkt, Emmelsbüll: C&P, 1996, 206 Seiten.