Unter der Rubrik „Zur Diskussion gestellt“ wollen wir Beiträge zu Themen veröffentlichen, bei denen es auch unter bibeltreuen Christen unterschiedliche Auffassungen gibt. Auf diese Weise wollen wir erreichen, dass wichtige Themen nicht unter den Tisch fallen, weil sie umstritten sind, andererseits will der Bibelbund sich nicht einseitig festlegen und die Erkenntnis einiger Mitglieder zur Norm für alle erheben. Die Grundlage der uneingeschränkten Wahrheit der Bibel ist davon in keinem Fall betroffen. d. Red.
Diese Beobachtungen sollen das Thema eröffnen:
- Wahrscheinlich kennt jeder von uns einige Christen, die er – zumindest in bestimmten Detailfragen – als gesetzlich beschreiben würde. In seiner Vorstellung hat er sogleich bestimmte Gesichter vor sich, denen er dieses Etikett aufkleben könnte: Gesetzlich!
- Erstaunlich ist, dass es im Gegensatz dazu keine Christen gibt, die sich selbst als gesetzlich verstehen. Sie wollen der Schrift zur Geltung verhelfen, sie betonen, was andere vernachlässigen – es ist lediglich ein Markenzeichen ihrer christlichen Ernsthaftigkeit. Wir haben es also hier mit einer Erscheinung zu tun, die es immer nur bei anderen gibt. Deshalb könnten wir auch recht entspannt über dieses Thema nachdenken. Könnten – wenn es nicht 2. gäbe.
- Es gibt aber auch Beobachtungen, die verhindern, dass wir uns dem Thema allzu unbekümmert nähern: 13 Jahre vollzeitliche Jugendarbeit haben mir gezeigt, dass junge Leute nicht darunter leiden, wenn sie in einer bibeltreuen Gemeinde leben und ihnen biblische Ordnungen gesagt und erklärt werden. Sie leiden aber unter Gesetzlichkeit – und es sind Hunderte, die aus den Gemeinden auswandern, weil ihnen dort nicht die Schönheit des Evangeliums oder der Wert christlicher Ethik begegnen, sondern der Grabeshauch der Gesetzlichkeit. Deshalb handelt es sich bei diesem Thema nicht nur um Gedankenakrobatik, sondern um ein Problem, das vielen – mehrheitliche jüngeren – Christen das Leben in einer Gemeinde schwer macht.
1. Zum Begriff „Gesetzlichkeit“
Wie bei vielen christlichen Vokabeln merkt man auch hier erst beim Versuch der Definition, dass nicht leicht in Worte zu fassen ist, was völlig klar scheint. Deshalb soll zunächst dargelegt werden, welches Verständnis diesen Ausführungen zugrunde liegt.
Unter den Geschöpfen Gottes nimmt der Mensch mit Abstand eine Sonderstellung ein. Er ist zwar intelligent und kreativ, aber trotzdem darauf angewiesen, dass ihm in vielerlei Hinsicht gesagt werden muss, was richtig ist. Er hat nicht automatisch „in sich“, was für die Gestaltung seines Lebens nötig ist.
Tiere dagegen sind auf diese Art Unterweisung nicht angewiesen. Sie sind mit einem fertigen Programm ausgestattet. Deshalb kann ein Huhn, das in einem Brutapparat das Licht der Welt erblickt, problemlos als Huhn leben. Es wird alles tun, was man von einem Huhn erwartet.
Dem Menschen also muss von außen gesagt werden, was gut ist. Er braucht ein Gesetz. Die beiden folgenden Grafiken können den Zusammenhang zwischen Gesetz und Gesetzlichkeit gut beschreiben.
Der Menschen braucht Anweisung für sein Leben. Diesem Bedürfnis kommt Gott entgegen und gibt ihm diese lebensnotwendigen Ordnungen. Man kann hier an die Gesetzgebung am Sinai denken. Aber schon vorher (bereits vor dem Sündenfall!) als auch danach offenbart sich Gott und sagt, was der Mensch beachten soll. Zwei bemerkenswerte Züge verdienen dabei eine besondere Betonung:
Der Modus der Entstehung: Das Gesetz entsteht nicht im Dialog. Der Mensch ist nicht am Entwurf beteiligt, sondern er ist lediglich Empfänger. Deshalb war die Umsetzung auch nie Verhandlungssache.
Der Charakter des Gesetzes: Das Gesetz ist einem Rahmen vergleichbar. Es steckt die Grenzen ab, die nicht überschritten werden sollen. Dazwischen aber gibt es viel Freiheit – die Detailregelungen fehlen nahezu vollständig. Das Gesetz ist der Zaun, innerhalb dessen es Freiheit gibt.
Gesetzlichkeit kommt aus einer anderen Richtung und hat einen anderen Absender. Sie kommt von der Seite, vom Menschen. Sie ist der Zaun vor dem Zaun, das Gesetz vor dem Gesetz. H. Burkhard beschreibt Gesetzlichkeit als „… horizontale Absolutsetzung bestimmter Verhaltensnormen, die um ihrer selbst willen einzuhalten sind“.1
Natürlich ist der „Gesetzliche“ überzeugt, damit die Interessen Gottes zu vertreten.
Natürlich ist der „Gesetzliche“ überzeugt, die Interessen Gottes zu vertreten
Schon an der kleinen Grafik lassen sich zwei problematische Folgen ablesen:
- Die Freiheit wird eingeschränkt: Das schon deshalb, weil zusätzlich zum göttlichen Gesetz engere selbst geschaffene Regulare zu beachten sind. Das kann dazu führen, dass Beobachter (und nicht nur sie) das Christsein als simple Gleichung verstehen: Christsein = christliche Spielregeln kennen und einhalten.
- Der Blick für das Gesetz Gottes wird eingeschränkt: Das hausgemachte „Gesetz vor dem Gesetz“ nimmt man zuerst wahr, es wird häufig mit größerem Eifer vertreten als das wirkliche biblische Gebot. Langfristig geht häufig das Unterscheidungsvermögen verloren, was Gottes Gebot und was menschliche Regeln sind.
2. Wie gedeiht Gesetzlichkeit?
2.1. Der Nährboden
Gesetzlichkeit findet man nicht immer und überall. Sie braucht einen bestimmten Humus, um sich gut entwickeln zu können. Den findet sie besonders in Bewegungen mit dem erkennbaren Bemühen um Frömmigkeit, wie etwa dem Pietismus, bei Nachkommen von Erweckungs- und Heiligungsbewegungen oder in bibeltreuen Freikirchen. Also überall dort, wo man Wert darauf legt, dass das Glaubensbekenntnis im Leben sichtbar wird.
Man kann davon ausgehen, dass am Anfang einer gesetzlichen Entwicklung eine gute Absicht steht
Man kann davon ausgehen, dass am Anfang einer gesetzlichen Entwicklung in der Regel eine gute Absicht steht. Es ist der Wunsch, sich selbst und andere vor dem Verstoß gegen Gottes Gebot zu schützen. Zu diesem Zweck erscheint es ratsam, vorbeugend die Grenze etwas enger zu stecken, das Warnschild schon ein paar Meter vor dem Abgrund aufzustellen. Dafür finden wir auch in der Heiligen Schrift Beispiele:
Adam wird von Gott unterwiesen: „Von jedem Baum des Gartens darfst du essen; aber vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, davon darfst du nicht essen; denn an dem Tag, da du davon isst, musst du sterben.“ (1Mose 2,16+17)
Eva aber war so unterwiesen (wohl von Adam): „… aber von den Früchten des Baumes, der in der Mitte des Gartens steht, hat Gott gesagt: Ihr sollt nicht davon essen und sollt sie nicht berühren, damit ihr nicht sterbt!“ (1Mose 3,3)
Durfte Adam – angenommen, das „nicht berühren“ stammte von ihm – überhaupt so etwas sagen? Ist es schon „gesetzlich“, was hier geschieht? Bestimmt nicht! Es ist sogar verständlich, dass Adam, der beauftragt war, den Garten „zu bebauen und bewahren“, diesen Sicherheitsabstand eingeführt hat. Es gibt deswegen auch keinerlei Kritik im Text. Vielleicht, so kann man vorsichtig überlegen, hätte er den Zugang zum Baum noch besser abdichten können. Ob das geholfen hätte, ist fraglich, außerdem sind wir mit Vorschlägen zu spät dran.
2.2. Warum das Bedürfnis nach menschlichen Zusatzregelungen?
Sowohl im Judentum als auch im Christentum kann man beobachten, wie immer wieder gewisse Zusatzregelungen zum Gesetz von Menschen installiert werden. Warum tut man das? Es hat sicher damit zu tun, dass Gott in beiden Testamenten Menschen in die Verantwortung stellt, die Worte Gottes an das Volk und die nächste Generation weiterzugeben. So sollen sie dafür sorgen, dass das Volk Gottes vor Sünde, Schaden und dem Verlust geistlicher Substanz geschützt bleibt.
Dabei geht es nicht nur um eine dürre Auflistung von Geboten, sondern darum, das ganze Leben mit Gott in Übereinstimmung zu bringen. Es hatte sich ja sehr früh gezeigt, dass man zwar formal dem Willen Gottes entsprechen, aber trotzdem gottlos sein konnte.
Um das zu vermeiden, war und ist es erforderlich, dass die Beeinflussung nicht erst unmittelbar an der Grenze des Gebotes einsetzt, sondern schon früher. Ein Beispiel kann zeigen, was damit gemeint ist.
Wer christliche Jugendarbeit betreibt, hat immer wieder mit Fragen der Sexualethik zu tun. Nun ist es völlig korrekt, wenn man z. B. lehrt, dass das „Ein-Fleisch-Werden“ ausschließlich der Ehe vorbehalten ist. Das ist sachlich richtig, aber ist es auch ausreichend? Bestimmt nicht!
Um dieses Ziel in unserer Kultur zu erreichen, muss zugleich gesagt werden, wie es erreichbar ist – und was man deshalb vermeiden sollte. Deshalb kann es sinnvoll sein, dass wir neben die biblische Regel eine Empfehlung setzen: Fahrt nicht als Verliebte zwei Wochen völlig allein (mit einem Zelt) zelten. Oder wir regeln es bei einem gemeinsamen Urlaub der Jugendgruppe so: Jungs und Mädchen schlafen getrennt. Das ist zwar kein biblisches Gebot, aber doch eine sinnvolle Regelung. Noch mehr: Den Leitern würde man mit Recht Verletzung ihrer Pflichten vorwerfen, wenn sie darauf nicht achten würden.
Menschliche Zusatzregelungen können helfen, die von Gott gesetzten Ziele zu erreichen
Warum also menschliche Zusatzregelungen? Wir brauchen sie manchmal, um problematische Entwicklungen zu vermeiden. Sie können Hilfskonstruktionen sein, um die von Gott gesetzten Ziele zu erreichen.
2.3. Die kritische Grenze zur Gesetzlichkeit
Wenn es nun eine Rechtfertigung für praktische Regelungen zusätzlich zum Wort Gottes gibt, wo liegt dann die Grenze zur Gesetzlichkeit? Vielleicht kann man sie mit diesen zwei Entwicklungen abgrenzen:
- Wenn eine mehrheitlich gewollte Übereinkunft zum Gesetz wird. Nehmen wir an, eine Freikirchliche Gemeinde habe sich vor 50 Jahren entschieden, wegen des guten mehrstimmigen Gesangs auf die Begleitung durch ein Instrument zu verzichten. Das können sie gerne auch im Jahr 2000 beibehalten. Diese Übereinkunft ist aber zur Gesetzlichkeit geworden, wenn die letzten zehn Überlebenden der damaligen Generation fordern, das es so bleibt, obwohl der Gesang schlechter ist und 80% der Geschwister eine Instrumentalbegleitung wünschen.
- Wenn eine zeitbedingte Gepflogenheit zu einer zeitlosen (geistlichen) Ordnung erhoben wird. Es gab Zeiten, in denen es quer durch die christliche Landschaft üblich war, dass Männer und Frauen getrennt sitzen. Das war eine menschliche Regelung, die nicht aus der Bibel ableitbar war, aber doch als angemessen empfunden wurde. Was in dieser Hinsicht „angemessen“ ist, hat sich im Lauf der Zeit gewandelt. „Gesetzlich“ wäre, wenn jemand die vor 150 Jahren übliche Sitzordnung – die lediglich eine menschliche Regelung war – auch heute noch als die allein geistliche und richtige verstehen würde.
- Wenn die menschlichen Regelungen das Gebot Gottes außer Kraft setzen. Gibt es das überhaupt? Doch. Im fortgeschrittenen Stadium können aus solchen Hilfsregeln eigenständige Gesetzeswerke werden, die das göttliche Gebot nicht nur verdecken, sondern außer Kraft setzen. In Markus 7 kritisiert der Herr diese Entwicklung mit scharfen Worten. Dort geht es um die Versorgung alter Eltern, zu der alle durch das Gesetz verpflichtet waren. Das Judentum jedoch hatte Regelungen entwickelt, mit denen es möglich war, diese Pflicht auszuhebeln. Man brauchte nur die vorgesehenen Mittel in den Tempel umzuleiten – und schon war der Gesetzesbruch legal.
Manchmal geht es gar nicht mehr um Auslegung, sondern nur noch um ein persönliches Empfinden
Der Schlusssatz des Herrn „… und ähnliches dergleichen tut ihr viel.“ (Mk 7,13) lässt ahnen, dass er auch in vielen anderen Zusammenhängen die Frömmigkeit auf Abwegen sah. Das sagt er zu Leuten, deren Markenzeichen die Gesetzestreue sein sollte.
Was wird der Herr heute bei denen sehen, deren Markenzeichen „bibeltreue“ ist?
3. Woher bezieht die Gesetzlichkeit ihre Lebenskraft?
3.1. Aus theologischer Unmündigkeit
Mit diesem Punkt ist nicht gemeint, dass gesetzliche Gläubige keine Bibelkenntnis hätten. Sie kann sogar sehr ausgeprägt sein. Was fehlt, ist eine Mündigkeit, die allein mit der Schrift in der Hand biblische Lehre entwickelt. Wo Gesetzlichkeit herrscht, versucht man natürlich auch, die maßgeblichen Lehren aus der Schrift zu gewinnen, aber man greift mit der zweiten Hand nach einem anderen Griff: So klammert man sich an die Tradition (wie haben wir das früher gesehen?), oder daran, was andere Gemeinden tun. Oder man hängt sich an die Lehren irgendwelcher vergangener Größen und traut sich nicht mehr, Bibeltext ohne deren Auslegungsbrille zu lesen.
3.2. Aus dem Gefühl der Kontinuität und Sicherheit
Wer Formen und Abläufe tradiert, hat damit weder den Inhalt gerettet noch der Schrift Genüge getan
Wo man Gesetzlichkeit feststellt, wird man in der Regel auch die Überzeugung finden, völlig geradlinig das gute Erbe der Väter zu verwalten. Da mögen die Abläufe der Gemeindestunden genauso sein wie früher, da mögen Leute mit der gleichen Frisur wie damals sitzen. Man hat es vermocht, äußerlich eine bestimmte Epoche zu konservieren. Wenn dennoch Niedergang zu beobachten ist, dann löst das lediglich die Frage aus, wo man vom Weg der Vorfahren abgewichen sein könnte.
Was dabei übersehen wird: Wer Formen und Abläufe tradiert, hat damit weder den Inhalt gerettet noch der Schrift Genüge getan. Wir werden eben nicht aufgefordert, jeden Mittwoch 19.30 Uhr eine Bibelstunde mit dieser bestimmten Form und jenem Ablauf durchzuführen, sondern wir haben Ziele, die es zu erreichen gilt.
3.3 Aus unangebrachter Auslegungsgewissheit
Wie weiter oben schon erwähnt, sind die meisten Gläubigen bereit, klare Schriftaussagen zu akzeptieren, auch wenn sie vordergründig nicht angenehm sind. Der Ärger beginnt aber, wenn sehr merkwürdige, spitzfindige oder anderweitig unsichere Auslegungen zur Forderung erhoben werden. Wer in 5Mose 22 nichts anderes liest, als das Frauen keine Hosen anziehen dürfen2 ist auf dem Weg zwischen Text und Anwendung von seiner Phantasie aus der Kurve getragen worden. Wenn der Text zu diesem Thema überhaupt etwas sagen will – was nicht sicher ist3 – muss mit Ernsthaftigkeit geprüft werden, was „Männerzeug“ überhaupt ist. Wer definiert das? Jedenfalls nicht der Modegeschmack des Auslegers.
Manchmal geht es gar nicht mehr um Auslegung, sondern nur noch um ein persönliches Empfinden. Wer bei der Aufforderung „singt dem Herrn ein neues Lied“ genau weiß, welchen Takt und welchen Rhythmus dieses neue Lied haben muss und aus welchem Verlag es nicht kommen darf, darf sich nicht über Ablehnung wundern.
4. Die problematischen Folgen Gesetzlichkeit
4.1 Vergeblich verehren sie mich …
Es ist schlimm, dass das Bemühen um Frömmigkeit mit solchen Worten gewertet werden kann.4 Vergeblicher Gottesdienst! Dabei war es gar nicht leicht, diese und viele andere Forderungen zu erfüllen. „Schwer zu tragende Lasten“ nennt sie der Herr anderer Stelle.5
Hier wird der Stellenwert aller menschlichen Regelung deutlich: Entweder sie dienen dazu, den Willen Gottes zu erfüllen, oder sie sind wertlos. Sie sind kein Wert an sich, sondern haben nur dienende Funktion. Selbst wenn sie eine Übereinkunft zwischen vielen gleich denkenden Menschen wäre, erhöht das ihren Wert vor Gott nicht.
4.2. Der Glaube erfährt eine Veräußerlichung
Vor längerer Zeit machten wir uns Sorgen um einen Jugendkreis, weil dort manches schräg lief. Bei einem Gespräch mit den Ältesten in dieser Angelegenheit war die Antwort: „Aber am Sonntag sind sie im Gottesdienst, die meisten sogar mit Krawatte“.
Gesetzlichkeit schafft aber, ohne dass sie es will, eine Veräußerlichung der Frömmigkeit.
Das ist das Problem der Gesetzlichkeit: Es ist alles bestens, solange bestimmte Äußerlichkeiten eingehalten werden. Damit betrügen die sich selbst, die diese Forderung stellen. Und auch die, die diese Forderungen erfüllen sollen, werden verführt. Geistliches Leben ist eben nicht nur die Erfüllung von ein paar Formfragen oder Anwesenheit bei Gottesdiensten. Was der Glaube wirklich ist, zeigt sich erst abseits der offiziellen Termine und „kontrollierten“ Momente. Gesetzlichkeit schafft eine Veräußerlichung der Frömmigkeit
4.3. Die Abhängigkeit von der Heiligen Schrift wird untergraben
Das ist die Rückseite des vorigen Punktes. Wo es genügt, von Menschen aufgestellten Erwartungen zu genügen, wird die Abhängigkeit von der Schrift geringer. Man hat ja genug Bestätigung, wenn man bestimmte Dinge tut oder lässt. Vielleicht kommt noch die Erfahrung dazu, dass man sich Ärger einhandelt, wenn man anhand der Schrift „unpassende“ Fragen nach dieser und jener Praxis stellt; warum bestimmte Dinge so unabänderlich festgelegt sind, zu denen die Schrift eigentlich schweigt.
Ob diese oder jene Erfahrung – sie sind keine Einladung, sich enger an die Schrift zu binden. Und damit stehen die Chancen wieder schlechter, zu der Quelle zurückzukommen, bei der es heilendes Wasser gibt.
5. Schlussfolgerungen
„Wir sind gegen Gesetzlichkeit“ ist ein guter Satz, den vermutlich jeder Christ unterstreichen würde, auch der Gesetzliche. Deshalb reicht dieser Satz allein nicht.
Die kritischen Worte des Herrn zur jüdischen Führung seiner Zeit lehrt uns, das der gute Wille und relativ breite Übereinstimmung noch keine ausreichende Sicherheit bieten, das vor Gott Richtige zu tun.
Wo Menschen zusammen leben, wo sie Gemeinde Gottes gestalten, sind sie auf gewisse menschliche Regelungen und hilfreiche Abmachungen angewiesen. Das ist völlig normal und soll in diesem Artikel nicht hinterfragt werden.
Was wir aber immer wieder fragen müssen:
- Dienen sie dem Ziel, dem Wort Gottes zu entsprechen?
- Sind diese Regelungen unserer Zeit angemessen?
Das können Hilfen sein, die Grenze zwischen „nützlicher Abmachung“ und „Gesetzlichkeit“ nicht zu übersehen.
6. Reaktionen
Zum vorstehenden Aufsatz haben uns noch vor Redaktionsschluss folgende Stellungnahmen erreicht, die zu weiterer Diskussion – auf der Grundlage der Heiligen Schrift – ermutigen sollen.
Otto Wiebe aus Frankenthal merkt an:
Mir scheint, in keinen anderen Begriff hat man so viel aburteilenden Stoff verpackt wie in diesen. Verstärkt wird der Tatbestand noch dadurch, dass man Jesu Urteil über die Pharisäer auf alles mögliche Fehlverhalten von heute überträgt und beides mit der Diagnose „gesetzlich“ kennzeichnet. Deshalb wären zweierlei Dinge wichtig:
- Sorgfältige Differentialdiagnose. Lassen gleiche Krankheitssymptome auch wirklich auf die gleiche Krankheit schließen?
- Wenn man von der tatsächlichen Erkrankung „Gesetzlichkeit“ spricht, muss sie genauer definiert werden.
So frage ich mich zum Beispiel, an welchen Rand eines geistlichen Analphabetentums wir denn angekommen sind, wenn man einem gläubigen (!) verliebten Paar von einem Urlaub zu zweit mit einem Zelt abraten muss? Haben wir aus Furcht vor der Gesetzlichkeit unseren Lehrauftrag an Jugendliche verkürzt?
Was soll das Wettern gegen Menschengebote, wo man doch um die Beschlüsse des Apostelkonzils von Apg 15 weiß? Weshalb verurteilt man alles, was über die Gebote Gottes hinausgeht und schätzt in aller Regel doch die Weisheitsliteratur mit all ihren Lebensregelungen?
Entgegnung des Verfassers:
Im Blick auf meinen Artikel war mir schon beim Schreiben ein Manko sehr bewusst: Ich schrieb ihn aus einem bestimmten Erfahrungshorizont, den andere Leser zu einem ganzen Teil so nicht kennen. Auch die Beispiele kommen aus eben diesem Rahmen. Deshalb halte ich es gut für denkbar, dass sie nur sehr begrenzt die Erfahrungen anderer widerspiegeln.
Ich glaube aber, dass Br. Wiebe im Blick auf den Begriff „Gesetzlichkeit“ etwas erwartet, was meines Erachtens nicht zu leisten ist. Eine exakte biblische Abgrenzung zwischen „Gesetzlichkeit“ und „nützlichen Abmachungen“ lässt sich kaum markieren, weil die Begriffe eben nicht biblisch sind. Sie stehen für Sachverhalte, die in der Bibel vorkommen, aber eben nicht scharf definiert sind. Wie will man das schärfer machen, wenn man nicht in eine endlose Kasuistik mit dem Versuch aller möglichen Detailregelungen abrutschen will.
Artikel „Gesetzlichkeit“ S. 208, in: H. Burkardt, E. Geldbach, K. Heimbucher (HG), Evangelisches Gemeindelexikon, R. Brockhaus: Wuppertal, 1986. ↩
5Mose 22,5: „Männerzeug darf nicht auf einer Frau sein, und ein Mann darf nicht das Gewand einer Frau anziehen. Denn jeder, der dieses tut, ist ein Gräuel für den Herrn, deinen Gott.“ ↩
Es ist auch denkbar, bei der angesprochenen Verkleidung an ein Verweigerung des Mann-Seins oder Frau-Seins zu denken; also das, was wir heute als Transvestismus bezeichnen. Das wäre ein Angriff auf das Schöpferhandeln Gottes und würde eher zu dem starken Ausdruck „Gräuelsünde“ passen. ↩
„Vergeblich verehren sie mich, indem sie als Lehren Menschengebote lehren“ (Mk 7,7). ↩
„Sie binden aber schwere und schwer zu tragende Lasten zusammen und legen sie auf die Schultern der Menschen, sie selbst aber wollen sie nicht mit ihrem Finger bewegen“ (Mt 23,4). ↩