ThemenGemeindeleben, Kultur und Gesellschaft, Zeitgeist und Bibel

Der Psycho-Klerus

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit den Grundlagen und Zielen der „Biblisch-Therapeutischen Seelsorge“ (BTS).

Vom 24.-27. Juni 1996 fand in Fellbach bei Stuttgart der diesjährige Kongreß der „Deutschen Gesellschaft für Biblisch-Therapeutische Seelsorge“ (DGBTS) statt. Er stand unter der Gesamtthematik: „Der Mensch in der Gemeinschaft-Seelsorge am System in Familie und Gemeinde“. Die Gesellschaft, 1985 im Auftrag der Ludwig-Hofacker-Vereinigung gegründet, wird von Univ.-Prof. Dr. Michael Dieterich und seinen Mitarbeitern geleitet. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, Interessierte aus verschiedenen Gemeinden zum Seelsorgedienst auszubilden. BTS bietet dazu gestaffelte Kurse an, die in Seminarform an verschiedenen Orten stattfinden. Wer alle Kurse erfolgreich absolviert, schließt mit dem BTS-Diplom ab. Inzwischen existieren auch österreichische und schweizerische Zweige der Gesellschaft.

BTS und die Psychologie

BTS nahm von Anfang an eine offene Haltung zur Psychologie ein. Die Gesellschaft will Erkenntnisse der modernen Psychologie und Therapie mit der Verpflichtung zu einem biblischen Menschenbild verbinden. Dr. Dieterich ist davon überzeugt, daß es dabei „keine Schwierigkeiten mit möglicherweise damit verbundenen Ideologien gibt“ (Vorwort zum BTS-Kursprogramm 1996).

Welches Ausmaß der Einfluß (oder das Diktat?) der Psychologie jedoch inzwischen angenommen hat, wurde auf dem Fellbacher Kongreß deutlich. Die hilfreichen Vorträge einiger Gastreferenten (z. B. Prof. Jay Adams), hoben sich auffallend positiv von denen der BTS-Mitarbeiter ab. Insbesondere dürfen die Ausführungen von Dr. Ulrich Giesekus über „Krankmachende Strukturen in der Gemeinde“ nicht unwidersprochen bleiben, weil der Gesamttenor der Aussagen nach meinem Dafürhalten die Ehre Gottes und seiner Gemeinde verletzt. Dieser Vortrag stand richtungsweisend am Anfang der Konferenz und wurde mit lang anhaltendem Beifall bedacht.

Wenn ich im folgenden jenen Vortrag nach einer Kassettenaufnahme kritisch kommentiere, so will ich damit weder über den persönlichen Glauben noch über die Motive des Referenten (bzw. der BTS-Leitung) urteilen. Das steht allein Gott zu.

Giesekus studierte in den USA Erziehungs- und Sozialwissenschaften sowie Psychologie. Bei der Deutschen Gesellschaft für Biblisch-Therapeutische Seelsorge (DGBTS) ist er seit 1988 Mitarbeiter und inzwischen Studienleiter für Psychologie und Psychotherapie.

Macht Glaube krank

A. Im Vorspann des Vortrages von Dr. Giesekus werden von einer Sprecherin zwei Extrempositionen gegenübergestellt. Auf der einen Seite stehe Sigmund Freud (und seine Vertreter), der Glaube als „neurotische Störung“ und Religion als „kollektive Neurose“ bezeichnete. Auf der anderen Seite befänden sich jene Christen, die behaupteten: „Wer richtig glaubt, der wird nicht krank.“

Dr. Giesekus, der in den Staaten Erziehungs- und Sozialwissenschaften sowie Psychologie studierte, erzählt in seiner Einführung, daß er vor 20 Jahren Zivildienst in einer Psychiatrischen Klinik ableistete. Zitat:

„Ich war entsetzt als frommer Mensch, wie viele Menschen aus meinen Gemeindekreisen, frommen Gemeinschaftsbewegungen und Freikirchen, Brüder und Schwestern, dort als Patienten waren, weil ich gedacht hatte, so etwas gibt es bei uns gar nicht …“

  1. Von Dr. Giesekus wird hier einerseits der Eindruck erweckt, daß die Psychiatrischen Kliniken und Praxen von überdurchschnittlich vielen Gläubigen bevölkert werden. Den statistischen Nachweis – geschweige denn einen objektiven Beweis – bleibt er aber schuldig.
  2. Andererseits behauptet er, daß diese Christen wegen „pathogener Strukturen ihrer Gemeinde“ dorthin gekommen sind. Könnte es nicht auch zutreffen, daß viele Gläubige wegen ihrer Persön-lichkeitsstruktur oder wegen schwerer Erlebnisse, mit denen sie nicht fertig wurden, in die Klinik mußten? Warum differenziert Dr. Giesekus in diesem Zusammenhang nicht? Will er vielleicht mit Absicht dieses Bild in solch schwarzer Farbe malen?

B. Dr. Giesekus führt dann weiter aus, daß er in Nachgesprächen mit ehemaligen Patienten folgende Beobachtung machte: Nach Beendigung des Klinikaufenthalts fühlten sich diese Christen gut; doch durch die Seelsorge ihrer Heimatgemeinde wurden sie wieder krank.

  1. Mit wie vielen solcher ehemaligen Patienten mag der damalige Zivildienstleistende Giesekus wohl solche Nachgespräche geführt haben?
  2. Bei wieviel Prozent dieser Gespräche trat wirklich das oben geschilderte Ergebnis zu Tage? Schloß Herr Giesekus hier vielleicht von Einzelfällen auf die Allgemeinheit?

Werden psychiatrische Kliniken überdurchschnittlich von Gläubigen bevölkert?

C. Dr. Giesekus berichtet weiter, wie Eberhard Schätzing und Klaus Thomas als erste der Frage nachgingen: „Warum werden die Leute in der Gemeinde so häufig krank?“ Diese beiden prägten bereits 1955 den Begriff „Ekklesiogene Neurose“ (mit diesem Begriff meinten die Autoren jene Störungen, die überwiegend oder ausschließlich in christlichen Sozialisationen vorkommen).

Anschließend führt Giesekus den Tiefenpsychologen Helmut Harck als Kronzeugen an und zitiert:

„Es gibt eine bestimmte Form neurotischer Erziehung, die mit sehr viel Enge zu tun hat. Sie tendiert dazu, bestimmte Glaubensformen zu suchen, und diese Glaubensformen tendieren wieder dazu, diese Enge zu fördern.“

Anschließend zitiert Giesekus aus dem Buch „Gottesvergiftung“ von Tilmann Moser:

„Du, Gott, bist in mich eingezogen wie eine schwer heilbare Krankheit, als mein Körper und meine Seele klein waren. Beide wurden entgegen einer freien Bestimmung zu deiner Wohnung gemacht, und ich war stolz, daß du auch in mir kleinem Jungen Wohnung nehmen möchtest. Es gab Jahre, wo ich dir mein Leben weihen wollte, wo zwischen dir und mir verhandelt wurde über einen Erwählungsvertrag. Du hast schon ganz früh mit meinem Größenwahn gespielt, ihn genährt, ihn an geheiligten Vorbildern gesteigert, die mir in deinem Namen vor Augen gehalten wurden. Ich habe dir so schreckliche Opfer gebracht an Fröhlichkeit, Freude an mir und anderen, und der Lohn war – neben der Steigerung des Erwähltheitsgefühles oder dem Sieg darum – ein Quentchen Geliebtsein vielleicht, vielleicht ein Quentchen weniger Verdammnis.“

  1. Auch wenn Dr. Giesekus die in den schwerwiegenden vorangegangenen Zitaten zum Ausdruck gebrachte Sichtweise ekklesiogener Neurosen in einem Nachsatz als unzureichend bezeichnet, so bleiben doch die Fragen offen: Welche Form religiöser Erziehung meinte Harck? Und welche religiöse Erziehung genoß Moser? Handelt es sich um die einer altpietistisch geprägten Familie oder die katholischer Ordensschwestern?
  2. Welchen Eindruck suggeriert Giesekus (absichtlich oder unabsichtlich) mit dem Zitat von Tilmann Moser? Werden hier nicht gottesfürchtige Eltern verunsichert, auf die Bekehrung ihrer Kinder hinzuwirken? Wird ihnen nicht unterschwellig abgeraten, ihren Kindern an Christus hingegebene Vorbilder aus Bibel und Geschichte vor Augen zu stellen?
  3. Welches Gottesbild vermittelt Giesekus, wenn er den falschen und bösen Satz aus Mosers kranker Seele „Du, Gott, hast schon ganz früh mit meinem Größenwahn gespielt, ihn genährt, ihn an geheiligten Vorbildern gesteigert …“ unkommentiert im Raum stehen läßt? Diesen Gott, von dem da gesprochen wurde, gibt es nicht!

D. Dann kommt Dr. Giesekus auf den Punkt. Er verkündet, daß BTS seit einiger Zeit „Gemeindetherapie“ anbietet. Sie soll den Gemeinden helfen, ihre krankmachenden Strukturen zu erkennen bzw. abzubauen.

  1. Alle, die mit offenen Augen durch die Welt gehen, wissen, daß „die Gemeinde Jesu in irdischer Gestalt“ mit mancherlei Schwachheit behaftet ist. Diesen Aspekt wollen wir weder negieren noch beschönigen. An dieser Stelle sind alle Verantwortlichen in der Gemeindearbeit gefordert.
  2. Aber erweckt Dr. Giesekus mit seiner Aussage nicht den Eindruck, als seien die Gemeinden ohne „Psycho-Fachleute“ aufgeschmissen?
  3. Soll mit BTS gar eine Art „Psycho-Klerus“ aufgebaut werden, der die armen, hilflosen Gemeinden von den krankmachenden Strukturen befreit?

E. Dr. Giesekus hebt dann auf sogenannte sozial-psychologische Aspekte eines Gemeindelebens ab. Er behauptet, daß Gruppen, die sich in bestimmter Hinsicht von ihrer Umwelt abgrenzen, unter Umständen in einer Art von gruppendynamischem Prozeß, ein geschlossenes Gruppendenken (engl.: group think) entwickeln würden, das sehr verhängnisvoll werden könnte.

  1. Natürlich sind solche Phänomene von sektiererischen Gruppen und Psychokulten hinreichend bekannt. Aber warum differenziert Giesekus hier wiederum nicht? Will er wirklich jede Gemeinde, die im Blick auf Bereiche, die den Lebensstil betreffen, feste Überzeugungen hat, in die Nähe sektiererischer Entartung rücken?
  2. Ist es vor Gott verantwortlich, wenn Giesekus in diesem Zusammenhang sogar von „Gehirnwäsche“ spricht? Wird hier nicht unterschwellig suggeriert: „Hüte dich vor Gemeinden mit klar definierten Schriftüberzeugungen; du könntest dort unter starken Konformitätsdruck geraten!“?

„Gehirnwäsche“ in Gemeinden?

F. Danach kommt Dr. Giesekus zum Thema „Persönlichkeitsstruktur eines Menschen“ und führt Riemann an. Dieser stellte die These auf, daß der Mensch zwar in seinen Wesenszügen, nicht aber in seiner Tiefenstruktur anpassungsfähig sei. Giesekus folgert daraus, daß sich in bestimmten Gemeinden nur bestimmte Persönlichkeitstypen sammeln würden. Dr. Giesekus spricht dann weiter über soziale Normen. Er behauptet, daß die theologische Richtung einer Gemeinde enorm geprägt sei von der Persönlichkeitsstruktur ihrer Mitglieder, und daß die Persönlichkeitsstruktur der nächsten Generation wiederum geprägt sei von der Gemeinde.

  1. Wo ist hier wiederum der klare Beweis, daß dem so ist? Ich persönlich bin überzeugt, daß in einer Gemeinde ab einer bestimmten Größe alle möglichen Charaktere zu finden sind.
  2. Giesekus sieht auch die Zusammensetzung einer Gemeinde ausschließlich durch die sozial-psychologische Brille. Daß sich Christen anschließen, weil sie dort das neutestamentliche Gemeindeleben am weitesten verwirklicht sehen und Gott am meisten verherrlichen können, kommt für Giesekus überhaupt nicht in Betracht.
  3. Giesekus läßt hier erneut wichtige Faktoren außer acht, die einer Gemeinde theologisch Richtung geben. Seine Sichtweise klingt sehr deterministisch. Weiß er nicht, daß der souveräne Gott immer wieder Christen (und sogar ganze Gemeinden) erweckt und sie zum Gehorsam gegenüber neutestamentlichen Grundsätzen zurückführt?
  4. Hat nicht das Wort Gottes mehr Kraft als die von Generationen gepflegten Traditionen und Gewohnheiten?
  5. Wenn Gemeinden geistlich degenerieren, liegt m. E. der Hauptgrund in der Vernachlässigung des Wortes Gottes und nicht in sozial-psychologischen Defiziten.

G. Dr. Giesekus führt eine Reihe von „sozialen Normen“ an, deren vollständige Kommentierung den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Ein Beispiel möchte ich herausgreifen. Giesekus konstatiert, daß in vielen Gemeinden der Großteil der Arbeit von einigen wenigen getan würde. Diese litten dann häufig an „Erschöpfungsdepressionen“, während viele Gemeindeglieder passiv seien und Sinnlosigkeitsgefühle hätten. Ursache dafür sei die Tatsache, daß viele Christen keine Ausgewogenheit zwischen Arbeit und Entspannung, zwischen Leistung und Genuß praktizierten.

  1. Leider hat Dr. Giesekus mit seiner Beobachtung nicht Unrecht. Tatsächlich tun in vielen Gemeinden zu wenige zu viel.
  2. Aber er irrt sowohl in der Diagnose als auch in der Therapie. Ursache für dieses Phänomen ist nicht mangelnde Genußfähigkeit bei christlichen Leitern, sondern die völlig ungenügende Umsetzung des Leib-Glieder-Prinzips von 1Korinther 12. In Gemeinden, die das allgemeine Priestertum der Gläubigen (1.Petr.2,9) in Struktur und Leben konsequent zu verwirklichen suchen, dienen viele Glieder aktiv dem Herrn. Ihre Leiter tragen zwar dann immer noch die Last der Verantwortung, müssen aber nicht notwendigerweise überarbeitet sein.

Mehr die Bibel durch die Brille der Psychologie betrachten, als die Psychologie durch die Brille der Heiligen Schrift?

H. Die abschließende Zusammenfassung des BTS-Therapeuten Giesekus zitiere ich wörtlich:

„Ich glaube, das ist der Ansatzpunkt der Gemeindetherapie, daß wir Gemeinden erstens gründlich diagnostizieren müssen und sehen müssen: wo stehen die von den sozialen Normen, sozialpsychologisch, wo stehen die geistlich, und daß wir dann aufgrund einer solchen Diagnose eigentlich eine Art von Selbstwahrnehmung fördern müssen, die, ich glaube, bei uns Frommen besonders den Schwerpunkt haben wird, daß wir diese sozial-psychologischen Aspekte deutlicher wahrnehmen.“

  1. Was sagt dieses Schlußzitat über das Selbstverständnis der BTS-Therapeuten? Drängt sich hier nicht der Eindruck auf, daß sich die BTS-Leute quasi als „Retter in der Not“ verstehen, die der Gemeinde Jesu endlich ihre sozial-psychologischen Defizite nehmen können? Da fragt man sich wirklich, wie der Leib Christi 1900 Jahre lang ohne Hilfestellung der modernen Psychologie zurechtgekommen ist!
  2. Ich bin persönlich davon überzeugt, daß das schlichte Wort Gottes genügt, um Christen zur richtigen Selbstwahrnehmung zu führen.
  3. Ich würde mich hierin gerne täuschen; aber ich hege die Befürchtung, daß besonders die „Chef-Ideologen“ von BTS mehr die Bibel durch die Brille der Psychologie betrachten, als die Psychologie durch die Brille der Heiligen Schrift. Aber echtes Christentum und Psychologie lassen sich nicht gut vermischen. Wer das tut, erhält nicht eine christliche Psychologie, sondern ein verwässertes Christentum.

Ich will noch einmal betonen, daß ich Dr. Giesekus und den anderen BTS-Mitarbeitern weder den Glauben abspreche, noch Ihnen böse Motive unterstellen will. Aber ich habe mich schon gefragt, welches Gemeindebild sie haben, insbesondere Herr Giesekus.

Gibt es eine Alternative

Ich persönlich bin der Auffassung, daß die Gemeinde Jesu Grund hat, sich in diesem Zusammenhang vor dem Herrn zu beugen. In unserer Wissenschafts- und Ideologieanfälligkeit haben wir der Psychologie und Psychotherapie allzu leichtfertig die Türen geöffnet. Gleichzeitig haben wir versäumt, in schlichtem Vertrauen und Gehorsam biblische Seelsorge zu üben. In der gemeindeinternen Ausbildung und Zurüstung von Seelsorgern haben wir ebenfalls größtenteils versagt.

Nur so ist es zu erklären, daß sich heute selbsternannte Fachleute aufschwingen, um den Leib Christi in einer Art von „Psycho-Klerus“ zu therapieren. Klerus meint hier eine elitäre Schicht, die eine andere Schicht kraft ihrer Überlegenheit an Wissen und Macht beherrscht.

Dr. Martin und Deidre Bobgan zeigen in ihrem Buch „Psychotherapie oder biblische Seelsorge“ (CLV Bielefeld, 1991) im 17. Kapitel, wie ein Seelsorgedienst innerhalb einer Gemeinde geplant und aufgebaut werden kann. Im Unterschied zu BTS verzichtet Ehepaar Bobgan auf die sehr zweifelhaften Erkenntnisse der Psychologie. Die Autoren zeigen in ihrem Buch, wie – ohne die Hilfestellung christlicher Psychologen von außen – allein auf der Grundlage der Schrift zuverlässige Seelsorger ausgebildet werden können.

Diplom-Psychologe Roland Antholzer und seine Mitarbeiter verfolgen mit ihrer „Gemeindeorientierten Initiative für Biblische Beratung“ (GIBB) ein ähnliches Ziel.

Ich schließe mit einem Zitat aus dem o. a. Buch von Ehepaar Bobgan (S. 233):

„Was der Herr durch seine Gemeinde, sein Wort und den Heiligen Geist zur Verfügung gestellt hat, reicht aus, um seelisch- geistliche Gesundheit zu bringen und zu erhalten. Statt Psychologen hinterherzulaufen, die ihren psychologischen Weg predigen, sollten wir zum biblischen geistlichen Weg zurückkehren und den Seelsorgedienst in der Gemeinde wieder einrichten.“