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„Der Bildschirm ist kein Babysitter“

Ein Beitrag zu einem Interview mit Michael Schanze.

„Nach dem Massaker von Erfurt entbrannte erneut eine Diskussion über Gewalt im TV. Gibt es zu viel davon?“

So lautet die erste Frage an Michael Schanze. Das grauenvolle Geschehen lag wie ein Alb auf der ganzen Stadt, dem ganzen Land. Unvorstellbares hatte sich ereignet. Ganz langsam klang die Betäubung ab und Fragen keimten auf. Was konnte jemanden zu einer derartig abgebrühten Bluttat veranlassen? Dafür musste es doch eine Erklärung, einen Grund geben. Viele Stimmen meldeten sich zu Wort wegen der Freizügigkeit im Zugang zu Waffen. Sie mahnten, dies strenger an altersmäßige Reife zu binden.

Mit dem Interview – der Untertitel lautet übrigens: „…über zu viel Gewalt im Fernsehen“ – setzt Schanze bemerkenswerte Achtungszeichen.

Was macht Schanze überhaupt zum geeigneten Interviewpartner – und zu einem selbstbewussten dazu? Schanze, Jahrgang 1947 ist nicht nur als sehr vielseitiger Entertainer bekannt geworden. Er widmete sich intensiv Kindersendungen und 1994 wird er zum Kinder-Entertainer Europas gewählt. Einer der Söhne (22) aus seiner inzwischen geschiedenen Ehe lebt bei ihm. Dennoch kann man wohl davon ausgehen, das Schanze ein enges Verhältnis zu Kindern hat. Aus Bemerkungen im Interview wird dies ersichtlich. Er kennt die Verhältnisse landauf, landab.

Wir Christen könnten dies Thema für überholt halten. Denn wir sind ja eigentlich alle dagegen. Beinahe wohlwollend nehmen wir die Bestätigung zur Kenntnis. Das Fernsehgerät! Nur Übel setzt es in die Welt. Zumindest aber fördert es sie. Jetzt begreift es auch der Letzte.

In der Tat. Schanze nimmt kein Blatt vor den Mund: Es gibt zu viel Gewalt auf dem Bildschirm. Er nennt auch ungeschönt die Gründe dafür: Jeder deutsche Fernsehsender muss an seine Quote denken.

„Und offensichtlich kommen vor allem Gewaltfilme gut beim Publikum an …“

Und hier beginnt der Kreislauf von Angebot und Nachfrage. In einer Spiralbewegung schraubt sich dies immer weiter nach oben. Oder sollte man besser sagen, nach unten? Von einer positiven Geschmacksbildung kann jedenfalls keine Rede sein.

Beunruhigend ist folgendende Statistik, die Schanze anführt:

„… dass 83 Prozent der Drei- bis Neunjährigen zwischen 18.00 und 20.00 Uhr vor der Flimmerkiste sitzen. Das ist genau die Zeit, in der sich im Programm die Gewaltdarstellungen in Filmen, Serien und Nachrichten häufen.“

Beispiele müssen nicht mühsam gesucht werden.

Unter solchen Umständen ist die Erkundigung verständlich, wie es bei Familie Schanze mit dem Nachwuchs war. Durften sie, wann immer die Drei- bis Neunjährigen wollten? Pustekuchen! Der Fernseher war gesichert! Ohne Eltern kamen die Burschen nicht ran. Wer hätte das von Schanzes gedacht!

Gönnt der Entertainer den eigenen Kindern nicht das Unterhaltungsangebot? Ist er neidisch auf alles, was nicht von ihm kommt? Nein, er besitzt vielmehr eine Überzeugung. Eine höchst bemerkenswerte zudem:

„Kinder sollten grundsätzlich nur im Beisein ihrer Eltern fernsehen, damit sie anschließend Fragen stellen können. Kinder wollen geführt werden, und das sind wir ihnen auch schuldig, wenn wir nicht wollen, dass sie uns entgleiten. Kinder brauchen Werte!“

Wir Christen reden ständig von Werten und beklagen den tragischen Werteverlust in der Gesellschaft. Kinder brauchen Werte, so hörten wir. Doch wer gibt sie ihnen? Wer gibt sie ihnen in dieser Gesellschaft? Können die Eltern unter den jetzigen Verhältnissen von Doppelberufstätigkeit und übermäßigem Stress das überhaupt noch leisten? Sind sie nicht viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und empfinden alles und jeden als Störung? Kinder vermehren noch mit ihren Bedürfnissen die Probleme und verwehren das Ruhebedürfnis oder auch nur einfach den eigenen Anspruch an das Leben.

Was liegt unter diesen Umständen näher, als den lieben Kleinen großmütig dieses und jenes Stündchen vor der Klotze zu genehmigen. Sie geben Ruhe und verschaffen den Eltern die dringend benötigte Verschnaufpause.

Doch dafür ist ein Preis zu entrichten. Zum einen entgleiten den Eltern die Kinder immer mehr. Schöne Stunden finden einfach nicht statt und werden nie in die Erinnerung altgewordener Eltern und herangewachsener Persönlichkeiten eingehen. Schade. Aber das ist noch nicht alles. Den folgenden Preis müssen zunächst ausschließlich die Kinder entrichten. Schanze gewohnt deutlich:

„So wird die TV-Welt für die Kinder der Ort des Suchens nach den Gefühlen, die ihm die Eltern wegen der eigenen geistigen Armut oder auch aus Zeitnot nicht verschafften. Das Fernsehen wird so zum wichtigsten Gefährten des Kindes.“

Er verblüfft dann noch mit etwas Statistik: 85,5% der Kinder werden in Sprache, Verhalten oder beim Spiel vom Fernsehen beeinflusst. Eigentlich nicht sonderlich überraschend. Besonders mühelos lässt sich das „geschaffene“ Vokabular hören. Manchmal findet man die Art zum Schmunzeln, ein andermal eher widerlich. Geprägt von Fernsehen ist aber nicht allein die Sprache, sondern die ganze Person, die ganze kindliche Persönlichkeit. Sie wird geformt. Ohne Korrektur durch eine „dritte Kraft“ wie den Eltern.

Es genügt überhaupt nicht, dagegen zu sein. Lange Zeit schien das für christliche Eltern ausreichend zu sein. Ganz gewiss veranlasste sie dabei das Wohl ihrer Kinder zu radikalen und unpopulären Schritten. Dem Übel begegnete man ihrer Meinung nach dadurch, dass überhaupt kein derartiges Gerät angeschafft wurde. Mag sein. Dummerweise besaßen Oma und Opa eines. Überaus gerne besuchten die Enkel ihre Großeltern und die wussten ihnen eine Freude zu machen. Später verlagerte sich alles mehr zu Freunden und Freundinnen und man „zog sich ein Video rein“. Alles von Eltern unkontrolliert und unkontrollierbar. So einigermaßen beruhigten sie ihr Gewissen damit, dass sie selbst noch immer kein solches Gerät hatten.

Doch dies genügte den Herausforderungen nicht. Ihre Kinder brauchten mehr. Von wem sonst sollten sie es bekommen, wenn nicht von ihnen?

Deswegen hat nicht das Fernsehen schlechthin Schuld an der zunehmenden Gewalt, sondern die mangelnde Verarbeitung des Gesehenen. Kinder stehen mit ihren Problemen allein da. Sicher aus unterschiedlichen Gründen.

Der Attentäter von Erfurt stammte aus einer sogenannten „guten Familie“. Gewöhnlich rechnet man derartige Konflikte eher krisenbelasteten Familien am sozialen Rand zu. Doch ganz allgemein ist unserer Gesellschaft zu sehr auf sich selbst konzentriert. Eltern nehmen durchgehend nur noch in eingeschränktem Umfang ihre Verantwortung für die Kinder wahr.

Schanze wurde gefragt, ob er sich nach Erfurt der allgemeinen Forderung gegen Gewaltfilme und -videos anschließen würde. Seine Antwort überrascht nur auf dem ersten Blick. Er hält von dieser Kampagne nichts. Seiner Meinung nach verlagert sie nur das Problem. Er sprach sich eindeutig gegen Gewalt aus, gewiss. Aber, was wäre denn gewonnen, wenn durch einen großen Kraftakt – sollte er gelingen – die Gewalt vom Bildschirm in der Kinderfernsehzeit verbannt wäre? Nicht so sehr viel, steht zu befürchten. Kinder waren vorher sich selbst überlassen und würden es anschließend sein. Kinder hatten vorher zum ein Gerät „Kameraden“ und würden sich anschließen nicht besser stehen. Ihre Prognosen würden sich nicht bessern. Sie würden emotional verarmen, Phantasie und Entdeckerlust hingegen verkümmern.

Kinder suchen sich nicht von selbst einen guten Weg. Sie brauchen die Hilfe der Eltern, zuerst und dringend. Sie gehören zu unseren Allernächsten.