Eigentlich sollte man sich ja freuen: Den christlichen Kirchen stehen die Schulen offen. An praktisch allen Schulen können sie in allen Klassen – also 9 bis 13 Jahre lang – Schülern den christlichen Glauben nahe bringen. Der Staat stellt dafür die Räume und die Lehrmittel. Er bezahlt die Religionslehrer und die Hochschuleinrichtungen für Religionspädagogik. Er stellt den Religionsunterricht (RU) unter den Schutz des Grundgesetzes:
„Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt …“ (GG § 7.3)
Die Kirchen sind durch diese institutionelle Garantie des Staates geradezu aufgefordert, den RU gemäß ihren Bekenntnisschriften bibeltreu zu gestalten. RU ist in Deutschland also – im Unterschied zu anderen europäischen Staaten – keine weltanschaulich neutrale Religionskunde. Nein, hier wird Religion in Gestalt eines bestimmten Glaubensbekenntnisses gelehrt. So jedenfalls sieht es das Grundgesetz. Und die Kirchen haben das zunächst auch, mehr oder weniger, umgesetzt. Bis in die 1960er Jahre hinein galt das Konzept der Evangelischen Unterweisung. Doch lang ist’s her. Seither ist nicht nur die Methode geändert worden. Im Bekennen und Unterweisen sind die Kirchen seltsam kleinlaut geworden. Die hermeneutischen Verfahren der letzten 40 Jahre geben dem aktuellen (Problem-)Kontext nicht selten Vorrang vor dem (biblischen) Text. Dem gegenüber lässt aufhorchen, wenn die Hessische Kultusministerin Karin Wolff schreibt:
„Religionsunterricht hat glücklicherweise keine Pflicht, den Zeitgeist zu bedienen.“ Und: „Kinder haben ein Recht auf Orientierung!” (Evang. Verantwortung 10/2001, S.2).
Beachtlich ist auch, dass die Länder Rheinland-Pfalz und Hessen inzwischen russlanddeutschen Aussiedlergemeinden erlauben, einen eigenen freikirchlich-mennonitischen Religionsunterricht an Schulen auf Kosten des Staates anzubieten. Und diese gestalten den RU denn auch als bibeltreu-bekenntnisgebundenen biblischen Unterricht. Ihre Religionslehrer lassen sie an evangelikalen Ausbildungsstätten (Korntal, Gießen) ausbilden. Doch dies ist die Ausnahme.
Die Realität
Tatsache ist, dass katholische wie evangelische Religionslehrer an staatlichen Hochschulen in aller Regel bibelkritisch ausgebildet werden – mit all dem Glaubensrelativismus, den das mit sich bringt. Das gleiche gilt für Pfarrer, die RU erteilen. Die Kirchen verzichten darauf, ihr Grundrecht auf Übereinstimmung des RU mit den reformatorischen Bekenntnissen in der Ausbildung der Religionslehrer, in der Ausgestaltung der Lehrpläne und in der Durchführung des RU umzusetzen. Während die Nation ergriffen den Luther-Film aufnimmt, traut sich in den Kirchen und auf theologischen Lehrstühlen kaum mehr einer, mit ähnlicher Entschiedenheit für die Bindung allen Glaubens, Bekennens und Handelns an das Wort Gottes einzutreten, wie der Reformator! Die Evangelische Kirche der Reformation ist zur protestantischen Kirche der Aufklärung geworden; die Kirche des Wortes zur Kirche der Wörter; die Kirche des Glaubens zur Kirche der Zweifel.
Die Kirche des Wortes ist zur Kirche der Wörter geworden, die Kirche des Glaubens zur Kirche der Zweifel
Ergebnis: Es dürfte heute kein einziges Schulfach geben, das den Glauben bewusst christlicher Schüler so in Frage stellt, wie gerade der RU. Ausnahmen bestätigen die Regel. Schüler, die aus überzeugt christlichen Familien kommen, sehen sich in der Oberstufe häufig mit Texten konfrontiert, die bibelkritische Positionen widerspiegeln. Argumente für die Zuverlässigkeit der Bibel und die Tragfähigkeit des christlichen Glaubens werden dagegen meist nicht geliefert. Wer die kritischen Texte nachbetet, erhält gute Noten. Wer sich dagegen wehrt, muss sich die Gegenargumente selbst ausdenken und erhält nicht selten schlechte Zensuren oder wird gar wegen seines naiven Glaubens vor der Klasse bloßgestellt. Junge Leute, die ihr Leben auf ein tragfähiges Fundament stellen wollen, bekommen die Selbstinfragestellung kirchlicher Religionsbeauftragter, ja die oft geradezu masochistische Selbstzerfleischung christlich-bibelkritischer Theologie sowie die Relativierung christlich-ethischer Werte jahrelang vordemonstriert. Offenbar gelingt es dieser Art von Religionsunterricht nicht, junge Leute in nennenswerter Zahl den Kirchen zuzuführen. Andere Sinn stiftende Angebote – auch religiöser Art in der Film- und Rockkultur – sprechen sie mehr an. Und so mancher christliche Lehrer kommt in Fächern wie Deutsch, Geschichte oder Philosophie als authentisches Individuum zu intensiveren Glaubens- und Wertediskussionen mit seinen Schülern, als wenn er im RU als Repräsentant einer kirchlichen Institution wahrgenommen wird.
Bildungspolitische Tendenzen
Je stärker die Entkirchlichung der Gesellschaft fortschreitet, desto fraglicher wird die Zukunft des RU. Das Land Brandenburg hat nach der Wende statt eines verfassungsgemäßen RU das Fach LER = Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde eingeführt. Christliche Eltern versuchen durch Verfassungsbeschwerde dies rückgängig zu machen, während die Kirchen bereits kompromissbereit sind. Wenn allerdings wie in Berlin und einigen östlichen Bundesländern nur noch etwa ein Viertel der Bevölkerung zu einer christlichen Kirche gehört, aber 100% der Bevölkerung mit ihren Steuern evangelische und katholische Religionslehrer sowie deren religionspädagogische Hochschulen bezahlen müssen, fragt sich, wann diese Regelung dem Rotstift zum Opfer fällt. Die Kirchen, die ein Interesse am konfessionellen RU haben, könnten ihn selbst nicht bezahlen. RU wird für den Staat allerdings noch teurer, wenn künftig nicht nur evangelische und katholische, sondern auch freikirchliche, orthodoxe, islamische, jüdische (usw.) Religionslehrer und ihre Hochschulausbildung finanziert werden müssen.
Natürlich hat der Staat auch ein Interesse am RU. In der Präambel des Grundgesetzes ist die Rede von der „Verantwortung vor Gott und den Menschen“. Religion gehört zur Kultur, stiftet Identität, vermittelt Werte innerhalb einer Gesellschaft. Durch Religionsunterricht unter staatlicher Aufsicht an Schulen will der Staat die Gesellschaft auch vor unerwünschten Formen und Folgen von Religion schützen. So hat der Staat ein vitales Interesse daran, dass islamischer Religionsunterricht durch staatlich ausgebildete Lehrkräfte, im Rahmen staatlich genehmigter Lehrpläne an staatlichen Schulen erteilt wird – und nicht in irgendwelchen radikalen Koranschulen und Moscheen. Und auf dem Weg in die Multi-Kulti-Gesellschaft kann es dem Staat nur Recht sein, wenn Religion ihren kulturell trennenden Aspekt verliert und statt dessen religiöse Toleranz und religiöser Pluralismus befördert wird.
Der Staat will die Gesellschaft vor unerwünschten Formen und Folgen von Religion schützen
Konfessionell-kooperativer RU (kokoRU) bzw. Ökumenischer RU (ÖkuRU) ist angesagt. Beim sogenannten „Plus-Modell“ wird der RU interkonfessionell vom katholischen und evangelischen Lehrer geplant und gemeinsam der gesamten Klasse erteilt. Traditionsverlust, postmoderner Individualismus und Institutionenmüdigkeit ebnen den Boden für eine frei fluktuierende Spiritualität ohne Dogma und Bekenntnis. Andere gehen weiter und sehen die Zukunft im Interreligiösen RU (inröRU). Die Rede vom Weltethos macht die Runde, das als kultureller Kitt konsensfähige Werte aus allen Religionen sucht. Manche streben als Kompromiss für die Zukunft ein Fächergruppenmodell an: Unter Verantwortung des Staates soll in Verbindung mit den verschiedenen Weltanschauungsgemeinschaften an den Schulen ein Wahlpflichtbereich „Philosophie-Ethik-Religion“ gebildet werden, aus dem die Schüler philosophische, ethische und religiöse Lehrveranstaltungen auswählen können, wobei im religiösen Sektor katholische, evangelische, orthodoxe, freikirchliche, jüdische, muslimische oder auch buddhistische Angebote gemacht werden können.
Die Alternative
Der Staat könnte eine Menge Geld sparen, wenn er keine Theologischen und Religionspädagogischen Fakultäten sowie Religionslehrergehälter mehr zahlen müsste
Vielleicht wäre mittelfristig allen Beteiligten am besten geholfen, wenn der RU abgeschafft würde. Christliche Eltern sind auf dieses Relikt aus der Zeit der Staatskirche und der Weimarer Reichsverfassung ohnehin nicht angewiesen. Sie können ihre Kinder von klein auf im christlichen Glauben und mit christlichen Werten erziehen. Sie werden darin unterstützt durch das gemeindepädagogische Angebot ihrer Gemeinden – von der Sonntagsschule bis zum Kreis junger Erwachsener. – Der weltanschaulich neutrale, freiheitliche Staat muss auf das Sinn stiftende Angebot der Kirchen nicht verzichten. Er ist offen für das gesellschaftliche Engagement von Christen und ermöglicht das öffentliche Eintreten für Glauben und Werte in und außerhalb kirchlicher Räume, sei es durch die Medien, durch Träger der freien Jugendpflege, durch gemeinnützige religiöse Institutionen u. ä. Staaten wie die U.S.A. – aber inzwischen auch viele Länder der Zweidrittel-Welt – machen deutlich, dass der Öffentlichkeitsbeitrag christlicher Kirchen im freien Wettbewerb keineswegs geringer sein muss, als mittels der Relikte aus der Zeit des Staatskirchentums. Der Katechumenat der Alten Kirche zeigt im Übrigen, welche gesellschaftsdurchdringende Wirkung im religiösen Wettbewerb von einer Kirche ausgehen kann, die überzeugt und überzeugend für ihre Sache eintritt und wirbt. Der Staat, umgekehrt, könnte eine Menge Geld sparen, wenn er keine Theologischen und Religionspädagogischen Fakultäten sowie Religionslehrergehälter mehr zahlen müsste. Vielleicht würde er ja auch eine Menge Ärger sparen, wenn er entkirchlichte Bürger nicht mehr durch Steuermittel zur Finanzierung dieser Zwecke zwingen und statt dessen Steuern senken würde.
Schüler müssten nicht mehr in ungeliebten Randstunden (frühmorgens oder am Ende eines langen Schultages) den RU über sich ergehen lassen, in dem sie den Lehrer oder Pfarrer als Vertreter institutionalisierter Religion sehen. Sie würden auch nicht mehr dadurch wirksam gegen Glauben immunisiert, dass ihnen Religionslehrer, die durch ihr eigenes Theologiestudium hinsichtlich der Glaubwürdigkeit und Geltung der Bibel mehr verunsichert als vergewissert wurden, in höheren Klassen ihre unbeantworteten Zweifel auftischen und Grundlagen von Glaube und Kirche in Frage stellen. Ein RU, der den eigenen Glaubensdokumenten skeptisch begegnet und künftig möglicherweise zugleich im interreligiösen Unterricht den Supermarkt der religiösen Möglichkeiten eröffnet, wird kaum der Festigung religiöser Identität dienen können. Er dient vielleicht der religiösen Toleranz. Aber man braucht nicht religiös indifferent zu sein, um anderen tolerant zu begegnen. Dazu genügt vielmehr eine Ethik, wie Jesus sie hatte – sowie die reformatorische Einsicht, dass mit dem Wort und nicht mit Gewalt für den Glauben einzutreten ist. Einen friedlichen Umgang der Religionen miteinander kann der freiheitliche, weltanschaulich neutrale Staat im Übrigen auch ohne RU durch seine Gesetzgebung und Ordnungsorgane gewährleisten.
Die Schule müsste schließlich auch nicht auf den Beitrag christlicher Lehrer verzichten. Christen haben auf Grund ihres Menschenbildes und ihrer Werteorientierung einen wichtigen Beitrag zur Pädagogik zu leisten. Der Lehrerberuf wie auch die Medienberufe sind Christenberufe der Zukunft! Wenn schon nicht als RU-Lehrer, können Christen doch ebenso gut in anderen Fächern als authentische christliche und Werte verkörpernde Persönlichkeiten sowie schülerorientierte (Diskussions-)Partner wahrgenommen werden und identitätsstiftende Vorbildfunktionen übernehmen, die der Gesellschaft zugute kommen.
Andererseits ist nicht rasch mit dem Wegfall des RU zu rechnen. Von daher gilt es alternativ, das Übel an der Wurzel zu fassen und beherzt etwas für eine (Religions-)Lehrerausbildung zu tun, die wissenschaftlich gut begründet das Vertrauen in die Bibel und die Tragfähigkeit biblischer Werte fördert. Wir dürfen diese Art von Engagement nicht den Muslimen überlassen, die weltweit mit großer Überzeugung Ölmilliarden in ihre Koranschulen investieren und auf die Übernahme des dekadenten und wenig glaubensüberzeugten Westens hinarbeiten – während Theologische Fakultäten ihnen zum Teil noch die Argumente für die vermeintliche Unzuverlässigkeit der Heiligen Schrift liefern. Hier bedarf es einer breit gefächerten Initiative für bibeltreue Hochschulen unter den Evangelikalen! Es bedarf einer Qualitätsoffensive, dass einzelne theologisch-pädagogische Ausbildungsstätten staatliche Hochschulanerkennung erreichen, um u.a. auch einen Beitrag zur Lehrerausbildung leisten zu können. Es bedarf ebenso der Entwicklung von Konzepten des RU, die den Frage- und Lebenskontext der Schüler voll aufnehmen, ohne den Primat des biblischen Textes als Quellort aller Religionspädagogik in den Hintergrund zu drängen.
Theologische Fakultäten
liefern den Koranschulen auch noch die Argumente für die vermeintliche Unzuverlässigkeit der Heiligen Schrift
Bis es soweit ist, sollten christliche Studenten aber nicht zögern, auf das Lehramtsstudium zuzugehen. Sie sollten studienvorbereitende Angebote (wie etwa das theologisch-pädagogische Vorstudium in Krelingen) sowie Studienbegleitungsangebote (wie etwa das Rambach-Pädagogium der FTA Gießen in Verbindung mit dem Lehramtsstudium an der Universität Gießen) nutzen. Solch ein Studium kann helfen, Glauben und Denken in verantworteter Weise zu verbinden. Es hilft, als Christ seinen Glauben authentisch zu leben und ggf. argumentativ zu verantworten – ob als RU-Lehrer oder in anderen Fächerkombinationen.
Auf keinen Fall jedoch sollten Christen sich in einem Tunnelblick auf den RU als Lernort der Grundvollzüge christlicher ‚Religion‘ einengen lassen. Christliche Katechese kennt nicht nur den Lernort Schule. Sondern sie nimmt ebenso die Familie, die Gemeinde, die Medien sowie geistlich-diakonische Zielgruppenangebote als Lernorte des Glaubens und der daraus erwachsenden Werte wahr.