Das Verhältnis von Glaube und Politik ist eine Zentralfrage des Lebens. An dieser Frage haben sich in der Geschichte Kriege entzündet, Wohl und Wehe eines Landes entschieden und Kirchen gespalten. Von den Zeiten der frühen Kirche im römischen Reich über die mittelalterlichen Kaiserreiche bis hin zu den modernen Demokratien waren Christen entweder Förderer oder Gegner des Staates, wurden vom ihm verfolgt oder hofiert. Auch die deutsche Geschichte ist nicht ohne den Einfluss der Kirchen auf die staatlichen Gewalten zu verstehen. Und umgekehrt hat die Politik immer wieder Einfluss auf das Leben der Christen genommen, mal zum Segen, mal zum Fluch. Zwar gibt es in Deutschland schon lange keine „Staatskirche“ mehr. Trotzdem ist das Beziehungsgeflecht zwischen weltlichem Staat und christlichen Kirchen immer noch eng, zumindest was die beiden großen „Volkskirchen“ angeht.
Die Grundfrage des Verhältnisses von weltlichem Staat und der Gemeinde von Jesus ist auch heute noch aktuell und verlangt nach einer Antwort: In welcher Beziehung steht der Christ als „Himmelsbürger“ zur „weltlichen Bürgerschaft“? Wie hängen die Ausrichtung auf Gott und das Jenseits mit dem öffentlichen Engagement auf dieser doch so diesseitigen Erde zusammen? Gibt es eine Verbindung zwischen Heil und Wohl, zwischen ewigem Leben im Jenseits und unserem begrenzten Leben im Diesseits? Welche Beziehung hat das Reich Gottes zu den Reichen der Welt? Sollen Christen sich politisch engagieren? Muss der Staat religiös neutral sein?
Solche Fragen gehen alle an, die sich Christen nennen. Die damit zusammenhängenden konkreten Themen werden mal stärker und mal weniger stark diskutiert. In den politisch kontroversen 70er und 80er Jahren haben sich zum Beispiel sehr viele Christen mit politischen Fragen auseinandergesetzt. Damals ging es um Aufrüstung, Rassismus, Pazifismus und die politische Bedeutung der Bergpredigt. Heute, im Zeitalter der Politikverdrossenheit, ist es um politische Fragen in der Christenheit eher still geworden. Besonders in evangelikalen Kreisen ist das Interesse an politischen Zusammenhängen gering. Junge Christen sind selten interessiert am öffentlichen Leben.
Dabei ist die Existenz des Christen immer auch abhängig vom „weltlichen“ Geschehen um uns herum. Christen sind immer mit hineingenommen in die politischen Entscheidungen des Staates – ob sie wollen oder nicht. Die Gretchenfrage lautet: Wollen Christen bei der Gestaltung des Staates mithelfen, oder ist Politik „ein schmutziges Geschäft“, aus dem man sich lieber heraushalten sollte?
Innerhalb der christlichen Kirchen haben sich in der Geschichte verschiedene Grundpositionen des Verhältnisses von Staat und Politik herauskristallisiert. Ich will mich an einer groben Klassifizierung versuchen, mit dem Ziel, Handlungsanweisungen für heute zu gewinnen.
1. Politisierter Glaube: Die Herrschaft der Christen (Kirche) über den Staat
Wir beginnen mit einer auf den ersten Blick exotischen Einstellung, der Herrschaft der Kirche über den Staat. Das Prinzip dieses Verhältnisses ist uns heute, in einem demokratischen Verfassungsstaat mit religiöser Neutralität, völlig fremd. Aber eine solche Konstellation hat es über viele Jahrhunderte der Weltgeschichte gegeben. Damals stand die Kirche, konkret in der Form der römischen Kirche, über dem Staat und bestimmte seine Politik. Die biblischen Prinzipien des Zusammenlebens sollten auch für den weltlichen Staat gelten. Der Papst, als Repräsentant der Kirche, fungierte auch als entscheidender „Strippenzieher“ der säkularen Macht. Der Einfluss der Kurie reichte bis in die entlegenen Königreiche. Der geistliche Herrscher stand über dem weltlichen Herrscher, das „Reich Gottes“ dominierte das „Reich der Welt“.
Die Könige und Kaiser wollten sich keineswegs immer von der Kirche reinreden lassen
In der Geschichte hat es eine solche Konstellation seit dem 4./5. Jahrhundert n.Chr. immer wieder gegeben. Spätestens als die Kirche unter Theodosius Staatsreligion wurde, begann sie mit einer ausgeprägten Einflussnahme auf die Politik und deren Entscheidungsträger. Dabei gab es natürlich immer wieder Konflikte, denn die Könige und Kaiser wollten sich keineswegs immer von der Kirche reinreden lassen. Der bekannte Machtkampf des Papstes gegen den König im so genannten „Investiturstreit“ oder die schon viel früher stattgefundene Debatte um den „Cäsaropapismus“ in der Ostkirche sind nur zwei Bespiele für die Spannung zwischen Krone und Altar. Auch bei den Kreuzzügen sehen wir die Verquickung von geistlicher und weltlicher Macht mit einem starken Einfluss der Kirche und des Klerus. Aber auch in der Reformationszeit gab es ähnliche Erscheinungen. Das „Täuferreich von Münster“, eine radikale Form der an sich friedlichen Täufer, verstand sich als Ausdruck des „neuen Jerusalems“ und wollte das Reich Gottes schon hier auf der Erde errichten, eine Schwärmerei, die sich auch in vielen Ideologien der Neuzeit widerspiegelt.
Die Dominanz der Kirche und des christlichen Glaubens über den Staat ist eine Position, die geschichtlich gesehen in der römisch-katholischen Kirche und ihrem Machtanspruch verwurzelt war. Aber nicht nur dort. Auch in neuerer Zeit gibt es immer wieder Positionen, die die Gemeinde von Jesus als die eigentliche Autorität in politischen Fragen sieht. Dabei werden biblische Aussagen, die sich auf die zukünftige Königherrschaft von Christus beziehen, ohne Skrupel schon auf das Hier und Jetzt bezogen und damit indirekt eine „Theokratie“ (Königsherrschaft Gottes) proklamiert, die doch eigentlich nur für das Volkes Israel galt.
Die Ausdrucksformen dieses weltlichen Universalanspruchs des Christentums sind in der Regel machtpolitische Ansprüche der Kirche. Man möchte das Reich Gottes schon hier auf Erden schaffen und gestalten. Sich selber sieht man als ausführendes Organ des göttlichen Willens in der Welt. In der biblischen Begründung bezieht man sich auf alttestamentliche Stellen über die Herrschaft Gottes. Oder man bezieht sich auf neutestamentliche Belege über die (doch eigentlich zukünftige) Königsherrschaft von Jesus Christus mit der Betonung des Christus als „imperator“ über alle Völker.
Der Glaube wird hier zum innerweltlichen Machtfaktor, der dann auch missliebige Personen verfolgt
Die Gefahren einer solchen Dominanz der Kirche über den Staat sind offensichtlich. Der Glaube wird hier zum innerweltlichen Machtfaktor, der dann mitunter auch missliebige Personen verfolgt (Stichwort Inquisition). Politisches Handeln wird religiös sanktioniert, weil es von der Kirche ausgeht oder sich (scheinbar) vom Glauben legitimiert weiß. Die Innerweltlichkeit des Glaubens verdrängt dabei die Jenseitigkeit. Das Wohl verdrängt das Heil, die Vorläufigkeit der Welt gerät aus dem Blickwinkel, der „Wille zur Macht“ erfasst den Gläubigen. Der Glaube verstrickt sich in Ränkespiele und politische Abhängigkeiten.
Eine weniger radikale Unterform dieser Position liegt in der Überzeugung, der Glaube sei ein Art politisches Programm. Eine solche Position ist in den so genannten „Genitiv-Theologien“ weit verbreitet gewesen, z. B. in der Befreiungstheologie, bei der praktisch jeder Bibeltext unter zeitgeschichtlichen Aspekten befragt wird. Die Umdeutung und Verbiegung von Bibeltexten nimmt dabei mitunter abenteuerliche Formen an. Jesus Christus wird in immer neue Schablonen hineingesteckt: Revolutionär, Feminist, Sozialutopist, Kommunist, Pazifist.
Auch bei dieser Unterform liegt die Gefahr darin, dass ein rein innerweltliches Engagement der Christen zur Gefahr wird, wenn der eigentliche Auftrag der Kirche, die Verkündigung des Evangeliums von der erlösenden Gnade Gottes, in den Hintergrund gedrängt wird. Der Glaube degeneriert in einem solchen Fall zu einem innerweltlichen Programm, er wird zu einem bloßen Weltverbesserungssystem. Schlimmer noch: die eigentliche überweltliche Botschaft des Evangeliums wird verdunkelt und verschleiert.
2. Verfolgter Glaube: Die Herrschaft des Staates über die Christen
Jahrhunderte waren die Dominanz der Kirchen und ihr Einfluss auf den Staat von entscheidender Bedeutung. Aber das war nicht immer so. Am Anfang der Geschichte des Christentums gab es ein ganz anderes Bild.
In den ersten drei Jahrhunderten der Kirchengeschichte waren die Christen im römischen Reich eine Minderheit. Mitunter wurden sie brutal verfolgt und unterdrückt, weil sie sich nicht der herrschenden Ideologie anschließen wollten. Opfer für den Kaiser lehnten sie als Gotteslästerung ab. Eine Anpassung an den Zeitgeist war ihnen aus Glaubensgründen unmöglich. Demgegenüber forderte der römische Staat und Unterwerfung unter den obersten Souverän, den Cäsar. Damit war der Konflikt vorprogrammiert.
Die „Kirche unter dem Kreuz“ der ersten drei Jahrhunderte war aber keine geschichtliche Anekdote. Vergleichbare Situationen hat es zu allen Zeiten gegeben.Gleiches gilt für nicht wenige Christen in unserer Zeit. Heute werden etwa 10 Prozent aller Christen um ihres Glaubens willen verfolgt oder müssen erhebliche Nachteile in Kauf nehmen.
Der Staat tritt in der Regel selber mit einem religiösen Anspruch auf
In der Regel sind es totalitäre Staaten, die Religion und Glauben als Konkurrenz ansehen und ihre Ausbreitung und Entfaltung verhindern. Die Methoden dafür sind oft subtil und nicht immer gleich offensichtlich. Der Staat tritt in der Regel selber mit einem religiösen Anspruch auf, versteht sich als letzte Instanz, die alle Antworten auf die Fragen der Menschheit hat. Die Staatsideologie wird zur Konkurrenz zum Glauben, zu einem Heilsbringer. Für solche Machthaber muss der Glaube anderer als Bedrohung erscheinen. In Staaten, wo es keine offene Verfolgung gibt, hat man andere Strategien: Die Christen werden hier „gleichgeschaltet“, vielleicht eine noch wirksamere Waffe als die Verfolgung.
Besonders das 20. Jahrhundert brachte zwei Ideologien hervor, in denen der Staat sich quasi religiöse Vollmachten anmaßte, die die Situation der Christen schlagartig verschlechterte: der Faschismus und der Kommunismus. In beiden Systemen wurden die Kirchen systematisch bedrängt, mitunter bis zur offenen Verfolgung. Die Kirchen hatten in einem solchen System kaum Möglichkeiten der politischen Einflussnahme. Ihr Einfluss ist nicht gewollt und wird deshalb zurückgedrängt.
Wie gesagt ist eine solche Haltung nicht nur ein Relikt vergangener Tage. In Nordkorea, Pakistan, Indien und Indonesien werden heute Christen verfolgt und mitunter sogar getötet. 80% aller religiös Verfolgten auf der Welt sind Christen. Am Ende bleibt für sie nur der Gang in den Untergrund. Die chinesischen Hauskirchen waren und sind nur bekannte Beispiele für den Leidensweg vieler Christen durch die Jahrhunderte.
3. Abgesonderter Glaube: Die Distanz der Christen zu Staat und Politik
Neben der Dominanz der Kirche über den Staat und umgekehrt der Dominanz des Staates über die Kirche gibt es eine dritte Position, die weit verbreitet ist: Ein bewusstes Fernhalten von der Politik und von Staatsämtern. Politik gilt als „weltliches Geschäft“. Und von der Welt soll man sich bekanntlich fernhalten. Eine Einmischung in die Politik gilt als ungeistlich oder wird höchstens auf das Gebet für die Regierenden reduziert. Eine staatlich registrierte und gesteuerte Kirche wird kategorisch abgelehnt, aber auch umgekehrt eine Einflussnahme der Kirche auf die Politik.
In der Geschichte der Christenheit ist diese Einstellung ebenfalls häufig anzutreffen. Als Beispiel seien die Täufer der Reformationszeit erwähnt. Sie hatten die verhängnisvolle Verquickung von Staat und Kirche der etablierten Kirchen zum eigenen Nachteil kennengelernt und lehnten daraufhin jede Form des politischen Handelns der Kirche radikal ab. Die Gemeinde habe nichts mit dem Staat zu tun, beides dürfe nicht miteinander vermischt werden. Eine solche Nichteinmischung in politische Angelegenheiten blieb aber nicht auf die Täufer und Mennoniten beschränkt, sondern war auch in der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts zu beobachten.
Die Ausdrucksformen dieser Frömmigkeit sind offensichtlich: Christen dürfen keine Staatsämter innehaben, keinen Eid schwören und keinen Kriegsdienst leisten. Zur Wahl geht man nicht. Auch so etwas wie „Militärgeistliche“ sind bei dieser Haltung undenkbar. Bei manchen dieser Christen schwingt insgeheim auch das Prinzip der Resignation mit: Wir können sowieso nichts ändern, die Welt ist, wie sie ist. Deshalb nützt öffentliches Engagement nichts.
Heutzutage ist diese Position in konservativen Kirchen weit verbreitet, ebenso in religiösen Bewegungen, die mit dem unmittelbaren Ende der Welt rechnen und sich damit mehr auf Endzeitlehren konzentrieren als auf die Gestaltung staatlicher Verhältnisse.
Als biblische Begründung für die Politikabstinenz gelten Jesus und seine Jünger, die ja (nach dieser Interpretation) selber auch nicht politisch aktiv waren. Hinzu kommt eine ausgeprägte Absonderungslehre. Vereinzelt ist dann auch die Position des Pazifismus zwingend und konsequent.
Diese radikale Verneinung des politischen Engagements des Christen hat ebenso radikale Schwächen
Diese radikale Verneinung des politischen Engagements des Christen hat ebenso radikale Schwächen. Denn durch eine einseitige Betonung der Jenseitigkeit des Glaubens wird die christliche Botschaft irrelevant für die praktischen Bezüge des irdischen Lebens. Da Christen keinen Einfluss auf das politische Geschehen nehmen, ist außerdem die Gefahr groß, dass nichtchristliche oder antichristliche Ideologien eine gesellschaftlich beherrschende Position einnehmen. In Anlehnung an ein Bild, von Jesus in der Bergpredigt gesprochen, entziehen hier die Christen der Suppe das Salz. Statt sich der Ungerechtigkeit in die Speichen zu werfen und es aufzuhalten, zieht man sich zurück in die warmen Stuben der individuellen Frömmigkeit. Man ist Salz im Salztrog, Licht im Sonnenschein der selbstgestrickten Kirchlichkeit. Mit öffentlicher Verantwortung hat das nichts zu tun.
4. Gleichgültiger Glaube: Die Ignoranz der Christen gegenüber Staat und Politik
In der Literatur werden die eben skizzierten Grundpositionen häufig beschrieben. Aber es gibt zur dritten Position noch eine abgeschwächte Variante, die viel zu wenig beachtet wird, aber mittlerweile auf dem Vormarsch ist: die Position der Ignoranz der Christen gegenüber Staat und Politik.
Der Unterschied zur dritten Position liegt darin, dass es hier nicht um eine bewusste Ablehnung des politischen Engagements geht. Vielmehr herrscht eine tiefe Gleichgültigkeit vor. Es interessiert viele Christen einfach nicht, was sich in der Politik tut und wer dort das Sagen hat. Je nach Gusto geht man ab und an auch mal wählen, wirklich beschäftigen tut man sich mit der Politik jedoch nicht. Wir haben es mit der frommen Variante der säkularen Politikverdrossenheit zu tun.
In solchen christlichen Gemeinden ist zunächst einmal wenig über Politik zu hören. Insgeheim herrscht der Eindruck vor, dass der Staat wird das schon richtig machen, wir sollen uns ja nur unterordnen. In einer heiligen Einseitigkeit konzentriert man sich auf die Gemeindearbeit und die eigene Frömmigkeit. Das Geistliche ist das Entscheidende, der Staat und damit die Rahmenbedingungen unseres Glaubens sind unwichtig, Reich Gottes ist alles, irdisches Reich ist nichts. Man ist völlig unpolitisch, hat auch scheinbar Wichtigeres zu tun. In der Gemeinde kommen politische Themen nie vor nicht, weil man sie bewusst ablehnt, sondern weil es keinen „juckt“. Solche Christen sind auch erstaunlich uninformiert über aktuelle politische Entwicklungen. Ihre innenzentrierte Frömmigkeit führt dazu, dass sie zwar intensiv für Christen und die Ausbreitung des Evangeliums beten können, eine Fürbitte für Menschen in Verantwortung kommt ihnen aber nur im äußersten Notfall über die Lippen, weil es ihnen einfach nicht einfällt.
Eine Fürbitte für Menschen in Verantwortung kommt ihnen aber nur im äußersten Notfall über die Lippen
Beim seltenen Versuch, eine solche Position der politischen Gleichgültigkeit zu rechtfertigen, wird auf den Römerbrief hingewiesen. Da habe doch Paulus von der „Unterwerfung unter die Obrigkeit“ gesprochen (Röm 13,1). Und auch Petrus spräche doch von der „Unterordnung unter alle menschliche Einrichtung“ (1Petr 2,13). Mit „Unterordnung“ wird dann eine Haltung des Kadavergehorsams verbunden. Die früher spöttisch genannten „Stillen im Lande“, damals Pietisten, heute Evangelikale, sind wirklich still: an den Schalthebeln der politischen Macht sind ihre Stimmen nicht zu hören.
Die Gefahren dieser fatalistischen Haltung müssen deutlich genannt werden. Auch hier ist die Gefahr groß, dass christliche Werte in der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden, weil die Stimme der Christen nicht zu hören ist. Man ist dabei dem Staat auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Außerdem wird eine solche Haltung (eigentlich ist es eine Nichthaltung) der staatspolitischen Verantwortung des Christen in keiner Weise gerecht. Die Uninformiertheit mancher Christen in gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen ist ein Ärgernis.
5. Transformierender Glaube: Christen durchdringen die Politik
Nach dem bisher Gesagten darf nun nicht zum ersten Punkt zurückgefallen werden, der Macht der Kirche über den Staat. Eins muss an dieser Stelle festgehalten werden: Glaube und Politik sind zwei getrennte Dinge. Beim Glauben geht es um das ewige Heil, bei der Politik um das irdische Wohl. Gott ist das Letzte, der Staat ist immer nur das Vorletzte. Die Erlösung des Menschen durch Jesus Christus ist die zentrale Mitte aller Geschichte, nicht irgendwelche weltpolitischen Ereignisse. Die Regeln der Politik sind andere als die Regeln der Gemeinde. Glaube und Politik müssen getrennt werden, Politik und Evangelium dürfen nicht vermischt werden. Politiker müssen wissen: Es gibt jemand über mir, vor dem ich mich für mein Handeln rechtfertigen muss. Gott ist allmächtig, nicht ich. Christen müssen wissen: die Obrigkeit ist nicht Gott. Es geht um die Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat. Dazu ist alle Anstrengung nötig.
Diese fundamentale Erkenntnis der Trennung von Glaube und Politik, Kirche und Staat, die Augustin und Luther je auf ihre Weise in hervorragender Weise formuliert haben, wurde in der Geschichte sowohl von vielen politischen wie auch vielen kirchlichen Verantwortungsträgern mit Füßen getreten. Wer die Politik mit Glauben verwechselt, überfordert den Staat und schafft totalitäre Ideologien. Wer Glaube mit Politik verwechselt, entleert das Evangelium und schafft totalitäre Kirchen. Diesen Gefahren sind leider Christen und Politiker zu allen Zeiten nicht entkommen.
Das Heil der Seele ist primär, aber das Heil des Körpers ist nicht unwichtig
Aber das andere muss genauso gesagt werden: Der Glaube hat etwas mit der Politik zu tun. Es gibt gemeinsame Schnittmengen. Das Reich Gottes ist natürlich ein jenseitiges Reich, nicht von dieser Welt. Aber es bricht sich auch schon im Diesseits Bahn. Das Heil ist das eigentliche Ziel Gottes mit der Welt, was aber das Wohl der Erde nicht vollständig ausschließt. Das Heil der Seele ist primär, aber das Heil des Körpers ist nicht unwichtig. Der Glaube ist keine abgehobene rein geistliche Größe, sondern eine irdisch fassbare Wirklichkeit. Gott kam bewusst in Jesus Christus in die Welt und wurde Mensch, obwohl er ganz Gott war. Christus jammerte über die verlorenen Seelen, aber auch über die kranken, verschmachteten und ruhelosen Geister seiner Zeit. Er lehrte das Volk, heilte Kranke, speiste die Armen, zahlte Steuern, wies politische Machthaber in ihre Schranken, vertrieb die Wechsler aus dem Tempel – wenn das keine politischen Handlungen waren, was sonst? Paulus berief sich auf sein römisches Bürgerrecht, wies die damaligen Herrschenden mit aller Deutlichkeit und Einfühlsamkeit zurecht, diskutierte mit der geistigen Elite in Athen.
Deshalb ist die Existenz des Christen als Bürger dieser Welt auch immer eine politische. Es gibt kein rein privates Christentum. Selbst wenn man nicht zur Wahl geht, wählt man, denn man stärkt dadurch die Stimmen der anderen, die wählen (meist die Stimmen der Parteien an den Rändern). Christen sind zwar nicht „von“ der Welt, aber sie sind immer noch (hoffentlich) „in“ der Welt – ob sie das wollen oder nicht.
Genau deshalb sagt Jesus Christus in der Bergpredigt zu seinen Jüngern: „Lasset Euer Licht leuchten vor den Menschen“ (Mt 5,16). Genau deshalb heißt die Aufforderung Jeremias an seine bedrängten Leidensgenossen in Babel: „Suchet der Stadt Bestes“ (Jer 29,7). Wenn Gott diese Welt nicht egal ist, wie viel mehr darf sie Christen nicht egal sein. Es geht um Transformation, um eine Durchdringung der Gesellschaft mit den Werten des Evangeliums. Es geht darum, dem Staat deutlich zu machen, dass er auf Fundamenten ruht, die er selber nicht schaffen kann. In unserer freiheitlichen Staatsordnung hat uns die Politik die Möglichkeit eingeräumt, öffentliche Verantwortung zu übernehmen. Das kann auf regionaler wie auf bundespolitischer Ebene geschehen, durch das Engagement in Schulen und Vereinen, durch Einflussnahme auf Politiker als Volksvertreter, durch Leserbriefe an Zeitungen, Rückmeldungen an Fernsehsender, aber auch durch den Einsatz für die freiheitlichen Grundrechte einer Gesellschaft. Besonders wichtige Werte für Christen wie der Lebensschutz, die Stärkung von Ehen und Familie, der Schutz vor irreführender Sexualität oder die Religionsfreiheit sind heute bedroht. Das soll aber nicht zur Resignation führen, sondern im Gegenteil zu einem mutigen Engagement in und für diese Welt.
Letztlich wird nicht jedes Engagement von direktem Erfolg gekrönt sein. Auch darf der Einsatz für das Wohl der Welt nicht den Einsatz für deren Heil überlagern. Jeder Christ weiß, dass paradiesische Zustände erst von Gott geschaffen werden, nicht von uns. Aber das entbindet uns nicht unserer Verantwortung, den Menschen von heute, die ihre Würde durch ihre Ebenbildlichkeit bekommen haben, helfend bei Seite zu stehen, Leid zu lindern, Recht zu schaffen und Ungerechtigkeit zu bekämpfen.
Was wir heute brauchen sind hellwache Christen, die bereit sind, sich die Finger schmutzig zu machen im Geschäft der Alltagspolitik, ohne ihre Überzeugungen zu verleugnen. Nur wer den Notleidenden nicht aus dem Sumpf zieht, behält saubere Hände. Wer dagegen zupackt, macht sich dreckig. Hier ist jeder einzelne gefragt, nicht nur die Institution Kirche. Was wir auch brauchen ist eine gemeinsame Strategie, wie wir den unchristlichen Entwicklungen in unserer Gesellschaft Paroli bieten können. Dazu müssen Sachverstand und Augenmaß kommen. Große Aufgaben, aber nicht zu groß für einen Gott, der sich selber für uns die Finger schmutzig machte.