Engmann, Birk. Mythos Nahtoderfahrung. Stuttgart: Hirzel 2011. 111 S. Paperback: 14,90 €.
ISBN 978-3-7776-2146-3.
Der Verfasser, promovierter Neurologe und Nervenarzt, nähert sich sehr kritisch den sogenannten Nahtoderfahrungen. Zunächst geht er auf historische Zeugnisse ein und überlegt schon dabei, was die Grundlage für diese außergewöhnlichen Berichte gewesen sein könnte. Er denkt an epileptische Anfälle, optische Halluzinationen oder auch Drogen.
Im zweiten Kapitel behandelt der Autor Probleme und Widersprüche im Zusammenhang mit dem Begriff der „Nahtoderfahrung“. Nahtod kann ja nur auf ein Überleben des klinischen Todes hindeuten. „Der klinische Tod ist definiert durch einen völligen Kreislaufstillstand, damit fehlende Pulse und Atemstillstand, wobei dieser Zustand zum Beispiel durch Reanimationsmaßnahmen reversibel ist. Hirntod oder biologischer Tod, das Ende aller Organ- und Zellfunktionen, treten also nicht ein.“ (S. 35) In der Literatur werden aber auch Beispiele von Menschen geschildert, die nie einen Zustand des klinischen Todes durchschritten hatten, Totenbettvisionen, Todesfurchterfahrungen.
Auch haben längst nicht alle reanimierten Patienten zwangsläufig eine Nahtoderfahrung. (S. 37) Andererseits wird von Drogenabhängigen berichtet, die außerkörperliche Erfahrungen gemacht haben.
Interessant sind Erfahrungen mit thailändischen Patienten. Bei ihren Berichten fehlen die typische Euphorie und die Lichterscheinung, die sonst in den Berichten aus Europa und Amerika auftreten, sondern sie berichten von Landschaften, die mit unangenehmen Gefühlen oder Höllentouren vermischt sind.
In verschiedenen Kulturkreisen fallen „Nahtoderfahrungen“ unterschiedlich aus
Der Autor stellt fest, dass die „Nahtoderfahrungen“ in den verschiedenen Kulturkreisen unterschiedlich ausfallen.
Als Arzt konstatiert er: „Im Zustand des klinischen Todes ist das Gehirn selbst nicht tot, sondern befindet sich in einem Zustand schwerster Funktionsstörung.“ (S. 48) Anschließend geht er ausführlich auf die Verfälschung der Erinnerung ein. „Nichts ist so trügerisch wie das Gedächtnis.“ (S. 51) Aus christlicher Sicht, meint er, bleibt zu hinterfragen, inwieweit Nahtoderfahrungen als persönliche Offenbarungen Gottes mit der Bibel konform gehen. Jedenfalls ist Engmann sicher, dass sich die Existenz des Übernatürlichen nicht durch Nahtoderfahrungen beweisen lässt. Hierin ist ihm durchaus zuzustimmen. (S. 57f.)
Im vierten Kapitel behandelt Engmann medizinische Theorien und macht noch einmal klar, dass der Einfluss der weltanschaulichen Überzeugung auf die Ausgestaltung der Schilderungen von Nahtoderfahrungen nicht zu leugnen ist. (S. 61)
Interessant ist auch, dass außerkörperliche Erfahrungen, bei denen sich Menschen aus der Vogelperspektive erleben, bei 10% der Bevölkerung auftreten und häufig mit Migräne, Epilepsie und Schizophrenie verbunden sind. Aber auch bei psychisch gesunden Menschen sind sie vorhanden. Manche Erfahrungen kann man sogar durch elektrische Reizung des rechten Temporallappens erzeugen. (S. 68f.)
„Im Zustand des klinischen Todes ist das Gehirn selbst nicht tot, sondern befindet sich in einem Zustand schwerster Funktionsstörung.“
Zu fragen bleibt weiter, ob die Erfahrungen wirklich zum Zeitpunkt des klinischen Todes entstehen oder danach in der Phase der Rekonvaleszenz. Außerdem ist zu bedenken, dass jede Person, die einen klinischen Tod ohne Folgeschäden überlebt hat, ja erst nach einer zeitlichen Latenz über die Phänomene berichten kann. Schließlich muss man noch die verfälschten Erinnerungen bedenken. (S. 98)
Grundsätzlich muss man dem Autor in seiner Skepsis gegenüber Nahtoderfahrungen recht geben. Sie eignen sich keineswegs als Gottesbeweise. Den unseriösen Seitenhieb gegen die sogenannten Kreationisten (S. 98) hätte sich der Autor in diesem Zusammenhang allerdings sparen können, ebenso die Andeutung von den Erfahrungen des Paulus im Zusammenhang mit Epilepsie (S. 24ff).