„Hereinspaziert“, sage ich zu meinen „Wachtturmfreunden“ Petra und Rolf, die nun schon ein halbes Jahr alle zwei bis drei Wochen zu mir kommen. Nach dem gemeinsamen Abendbrot holen wir unsere Bibeln hervor und los geht der theologische Schlagabtausch. Wenn das Wort Gottes wie ein Hammer ist, der Felsen zerschmettert, warum sollte ein lügenhaftes Lehrgebäude nicht wenigstens Risse kriegen, wenn man lange genug mit dem Schwert des Geistes draufschlägt? Wenn Christus Katholiken und Moslems retten kann, sollten Zeugen Jehovas davon ausgenommen sein? Wenigstens können die beiden an anderen Wohnungstüren keinen Schaden anrichten, solange sie bei mir sitzen.
Ihre Bibelkenntnis beschränkt sich auf einzelne Stellen, die aus dem Zusammenhang gerissen in ein System eingepaßt wurden.
Bei unseren früheren Treffen sprach ich noch mit Petra und Marianne. Letztere wurde inzwischen von Rolf abgelöst, da ich mich wahrscheinlich als hartnäckiger Gesprächspartner erwiesen habe. „Du kannst für immer im Paradies sein“ heißt das Buch, das sie mir bei unserer ersten Begegnung schenkten. Die vielen Knackpunkte, die ich mir beim Durcharbeiten notierte, liefern bis heute Gesprächsstoff. Da ich mich gleich am Anfang in ihr Lehrgebäude hineinlas, blieben mir lange Vorträge über das Wachtturm-Glaubenseinmaleins erspart. So konnten wir gleich auf die Schriftwidrigkeit ihrer Lehre zu sprechen kommen. Durch die Sammlung an Wachtturmliteratur, die ich inzwischen besitze, und aus den Büchern von Twisselmann und Pape, die als ehemalige Zeugen Jehovas die Sektenlehre gründlich analysiert haben, werden ihre Argumente für mich oft vorhersehbar, so daß ich mich auf unsere Gespräche vorbereiten kann. Meist habe ich eine Liste mit Bibelstellen zusammengestellt, die sich mit Zetralaussagen des Wachtturms beißen. Umgekehrt können meine Freunde aber kaum vorhersehen, mit welchen Bibelstellen ich gleich komme, da wir Bibelleser kein solches Lehrgebäude haben, das in sich geschlossen ist. Rolf und Petra müßten die ganze Bibel kennen, um sich auf meine Einwände vorzubereiten. Genau das ist aber nicht der Fall. Ihre Bibelkenntnis beschränkt sich auf einzelne Stellen, die aus dem Zusammenhang gerissen in ein System eingepaßt wurden.
Deshalb gibt es etliche Bibeltexte, die sie noch nie gelesen zu haben scheinen, weil sie in den Wachtturmstudien nicht vorkommen, da sie für das Lehrgebäude gefährlich sind. Der vorübergehenden Ratlosigkeit meiner Gäste folgt dann meist das Versprechen, beim nächsten Mal die rechte (WT-)Auslegung dieser für sie problematischen Stelle zu liefern, die dann oft sehr verworren und an den Haaren herbeigezogen ist.
Ich habe inzwischen gelernt, daß man nicht an einem Abend alle Themen anschneiden sollte, denn man kann sich unmöglich auf alles gleichzeitig vorbereiten. Auch ist das Thema Christus wichtiger als Wehrdienst, Weihnachtsfest und Bluttransfusion. So haben sich inzwischen drei große Gesprächsthemen herauskristallisiert: die Gottheit Christi, die Frage nach dem Heil und der Anspruch des Wachtturms. Letzteres hat sich als schwierig erwiesen, denn meine Freunde bekannten, daß sie mit den Falschprophetien des Wachtturms leben können. „Es sind eben Menschen, die sich irren können. Eure Prediger können sich ja auch irren“ meinte Rolf, und Petra ergänzte: „Wenn mein Mann sich irrt, werde ich ihn deswegen nicht gleich verlassen.“ Daß der Wachttum aber beansprucht, mit göttlicher Autorität zu reden und nicht kritisiert werden darf im Unterschied zu unseren Predigern, streiten sie einfach ab.
Sie glaubten im Ernst, daß die Zeugen Jehovas die einzigen seien, die missionarisch arbeiten.
Rolf und Petra haben eine recht undifferenzierte Vorstellung von den christlichen Kirchen. Diese stehen bei ihnen allesamt für liberale Theologie, Evolutionstheorie, ethischen Verfall und biblisches Analphabetentum. Sie staunten nicht schlecht, als ich ihnen erklärte, daß viele Freikirchen Gemeindezucht üben, die Bibel ernst nehmen und einige sogar Missionare nach Übersee aussenden. Sie glaubten im Ernst, daß die Zeugen Jehovas die einzigen seien, die missionarisch arbeiten. Auf das gewöhnliche Eigenlob, das für Zeugen Jehovas typisch ist, antworte ich meist, daß mich solcher Einsatz beeindruckt, daß aber selbst der allerfleißigste Missionar dadurch nicht gerecht wird vor Gott.
Gerecht sein vor Gott? Die Zeugen Jehovas machen andere Dinge zum Kernstück: Das Wachtturmstudium, eine Jahreszahl, eine spezielle Missionsmethode. „Wenn Hamargedon heute noch stattfindet, wird Jehova Sie annehmen?“ fragte ich meine Gäste. „Es wäre vermessen, wenn man sich sicher wäre.“ antwortete Petra. „So“, sagte ich, „war Paulus dann vermessen?“ und las entsprechende Bibelstellen vor. „Aber der Paulus gehört zu den 144000, die in den Himmel kommen, wir aber nicht.“ hieß es. „Die 144000 sind Israeliten,“ sagte ich, „in Offenbarung 7 werden alle 12 Stämme Israels aufgezählt.“ „Das ist das geistliche Israel.“ meinte Petra. „So“, sagte ich, „sie glauben also, daß Gott sein Volk verstoßen hat?“ „Ja, das glauben wir“ nickten beide. „Dann lesen wir doch mal Römer 11,1: Hat Gott etwa sein Volk verstoßen? Das sei ferne!“ Es folgte ein verzweifelter Versuch, Römer 11 ebenfalls auf das geistliche Israel zu beziehen, wobei sich Petra gewaltig in Widersprüche verstrickte. Wenn das geistliche Israel gleichbedeutend mit den Zeugen Jehovas ist, müßte laut Vers 11 der Fall der Zeugen Jehovas den Nationen zum Heil geworden sein.
Danach müßte den Zeugen Jehovas nach Vers 25 Verstockung widerfahren sein und so weiter. Das wollten sie natürlich nicht auf sich beziehen, wenngleich ich die Aussage von der Verstockung für die Zeugen Jehovas recht treffend finde. Das habe ich aber nicht laut gesagt.
Langsam merke ich, nach welchen Prinzipien meine Freunde argumentieren. Diese möchte ich hier beschreiben:
- Sie reißen Bibelstellen aus dem Zusammenhang. Beispiel: Die Frage nach dem Heil wollen sie nur mit „vielleicht“ beantworten, weil in Zeph. 2,3 steht: „Vielleicht werdet ihr geborgen am Zornestag des Herrn.“ Dabei vergessen sie, daß Zephania über das bevorstehende Gericht über Juda redet, und nicht über neutestamentliche, persönliche Heilsgewißheit. Mit einem Zephaniavers wollten sie also die vielen Verse des Paulus über die Heilsgewißheit widerlegen.
- Sie zitieren Bibelstellen unvollständig. Beispiel: „Das Wort ‚sehen‘ (Offb 1,7) ist nur im Sinne von erkennen gemeint. Es ist kein Sehen mit den Augen.“ Aber wenn wir die Stelle lesen, finden wir „Jedes Auge wird ihn sehen.“ Beispiel: „Es steht nicht dort, daß das Rufen des Stephanus ein Gebet war“, meint Rolf. Wir lesen nach: „Und sie steinigten den Stephanus, der betete und sprach …“ (Apg.7,59).
- Sie behaupten Dinge, die ganz offensichtlich widerbiblisch sind. Beispiel: „Jesus ist nicht allmächtig“, meint Petra. Ich zitiere: „Jesus spricht: Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf Erden“ (Mt 28,18).
- Sie stellen Spekulationen an. Beispiel: „Jesus ist der Erzengel Michael“, heißt es. Nirgendwo sagt die Schrift so etwas. Sie sind ratlos wegen Daniel 10. Dort sind Michael und Jesus zwei verschiedene Personen.
- Sie ziehen unzulässige Vergleiche. Beispiel: „Kritik am Wachtturm kommt dem Aufruhr der Rotte Korah gegen Mose gleich“, sagt Petra. Doch wer sagt, daß die Wachtturmführung inspiriert sei wie Mose? Wer sagt, daß Kritik am Wachtturm gleich der Kritik an Gott ist? Beispiel: Die oft benutzte Ausrede „Wir haben jetzt helleres Licht“ zur Rechtfertigung nichterfüllter Prophetie gehört auch hierher. Vom helleren Licht kann man nur sprechen, wenn tatsächlich ein Erkenntnisfortschritt vorliegen würde. Wenn aber die Wahrheit von heute sich zur Wahrheit von gestern diametral verhält, kann man bestenfalls von Irrlichtern sprechen, von denen eines das andere ablöst.
- Sie erheben menschliche Logik über göttliche Möglichkeiten. Beispiel: „Christus kann bei seiner Ankunft ja gar nicht von allen gesehen werden“, argumentiert Petra, „wie soll das denn bei der Kugelgestalt der Erde gehen? Und überhaupt, die, die ihn durchstochen haben, sind ja längst tot.“ Meine Wachtturmfreunde brauchen für alles eine rationale Erklärung. Ein Gott – drei Personen, da gehen sie auch nicht mit. Brutal wollen sie mit jeder Bibelstelle, die auf das Menschsein unseres Herrn hinweist, seine Gottheit leugnen. So sind die Menschen eben. Wäre Gott nicht Mensch geworden, hätten die Gottlosen recht mit der Behauptung, Gott wisse gar nicht, wie einem als Mensch hier unten zumute ist. Nun ist er doch Mensch geworden, da rufen die Zeugen Jehovas: „Seht ihr, das ist ein Beweis dafür, daß er nicht Gott ist.“ Sie haben keinen Respekt vor den Geheimnissen, die wir Menschen nur unvollständig begreifen können und wollen nicht mit Paulus staunen: „Wie unerforschlich sind seine Gerichte und unaufspürbar seine Wege“ (Röm 11,36).
Viele Christen scheuen sich, mit Zeugen Jehovas zu diskutieren, weil sie sich ihnen nicht gewachsen fühlen.
Viele Christen scheuen sich, mit Zeugen Jehovas zu diskutieren, weil sie sich ihnen nicht gewachsen fühlen. Paulus „brachte die Juden in Verwirrung“ (Apg 9,22) Warum sollte uns das nicht mit den Wachtturmleuten gelingen? Anhand folgender Fragen kann man die Argumente der Zeugen Jehovas prüfen:
- Paßt die Bibelstelle überhaupt zu dem Thema, worüber wir jetzt reden? (Aufschlagen, Nachlesen!)
- In welchem Zusammenhang steht sie?
- Ist der genannte Vergleich hier zutreffend?
- Wird wieder einmal menschliche Logik zum Papst gemacht?
Wenn wir die Argumente der Zeugen durch diesen Filter laufen lassen, wird von diesen nicht mehr viel übrig bleiben. Das heißt aber nicht, daß bei den Zeugen automatisch die Einsicht folgen müßte. Oft werden ihre Argumente noch verrückter und verworrener.
Besonders Petra meint, den Wachtturm um jeden Preis verteidigen zu müssen, wobei sie fast blasphemisch werden kann. „Was ist das für ein allmächtiger Jesus, der es nicht einmal schafft, dem Fürsten von Persien zu widerstehen?“ (Dan 10,13) sagte sie einmal.
Rolf dagegen machte bereits Andeutungen, daß er nicht mit allem vollständig mitgehen kann, was der Wachtturm schreibt. Im übrigen sei er Kunde bei der Hänssler-Versandbuchhandlung, und etliche Bücher, die bei mir herumstehen, besitze er auch. Auch borgt er sich oft Faktum-Zeitschriften von mir und liest sie mit Begeisterung. Bei der Frage nach dem Heil näherte er sich so weit meinem Standpunkt an, daß ich nicht wußte, ob es bloß eine Gesprächstaktik ist, die er auf den Wachtturmschulungen gelernt hatte, oder ob für ihn Markus 12,34 zutrifft:
„Du bist nicht fern vom Reich Gottes.“
Glaubensgeschwister warnten mich: „Paß auf, daß du dich von denen nicht einfangen läßt!“ Ach, ihr lieben Geschwister. Diese Gefahr besteht nun wirklich nicht. Ich habe meine Gäste schon mehrmals gefragt: Was wollen Sie mir bringen? Ein ewiges Leben auf der Erde, dessen man sich nicht einmal gewiß sein darf? Ich habe das ewige Leben im Himmel und weiß mit Paulus: „Ich bin gewiß.“ Wer will Kiesel, wenn er Perlen besitzt (Spurgeon)?