ThemenBibelverständnis

Begegnung mit dem Auferstandenen

Der Seher Johannes lädt ein zur Begegnung mit dem Auferstan­denen. Jesus scheint in unserer Zeit zur Selbst­verständlichkeit geworden zu sein – soweit man ihn überhaupt noch wahrnimmt. Mit „Jesus allein“ lockt man kaum noch eine Katze hinter dem Ofen hervor. Kirchliche Stellungnahmen zu aktuellen Themen werden in der Öffentlichkeit wahrgenommen. Aber zu den heißen Themen gehört „Jesus“ nicht.

Die Herausforderung einer Predigt über Offb 1,9ff. besteht darin, dem Gottesdienstbesucher etwas mitzugeben von der atemberaubenden Erfahrung des Johannes; ihm den Jesus vor Augen zu malen, der selbst den Lieblingsjünger Jesu „wie tot“ erstarren ließ.

1. Sehen – die Auslegung

Vers 9: Einerseits reiht sich der Seher durch die Worte „Ich, Johannes“ unter die Propheten Israels ein.1 Andererseits will er schlicht „Bruder“ sein, und damit „ein schwacher Mensch wie wir“ (Jak 5,17). Entscheidend ist, was er hört, sieht, empfängt und weitergibt.

Als Bruder ist er „Mitteilhaber“ (synkoinonos) an der Gemeinschaft, die durch Bedrängnis, Königsherrschaft und Geduld charakterisiert ist.

Bedrängnis ist alles, was „Enge“ verursacht. Das griechische thlipsis hängt mit der hebräischen Wurzel zar zusammen. Die deutsche „Angst“ kommt ethymologisch von „eng“. Paulus lobt die Philipper (wörtlich) als „Mitteilhaber meiner Bedrängnis“ (Phil 4,14). Den Christen in Antiochien erklärte er: „Wir müssen durch viele Bedrängnisse in das Reich Gottes eingehen“ (Apg 14,22).

Leiden ist Vorrecht, weil es zur Gottes­gemein­­schaft führt. „Durch Leiden zu Herrlichkeit: So verläuft der Christus­weg, so verläuft auch der Christen­weg“.2

Entscheidend ist dabei „die geduldig aushaltende Festig­keit“3 , wörtlich das „‚Drunter­bleiben‘; un­ter allen Lasten und Be­drängnissen, ohne aus der Spur Jesu auszuscheren.“4 Paulus schreibt: „Dulden wir, so werden wir mitherrschen“ (2Tim 2,12).

Johannes empfängt die Offb auf der Insel Patmos, wohin er vermutlich von den Römern verbannt worden war.5 Patmos erdet unseren Text in einem konkreten historischen und geografischen Zusammenhang.

So wie Bedrängnis, Gottesgemeinschaft und Geduld „in Jesus“ geschehen müssen, ist Johannes nicht zufällig oder durch eigenes Verschulden auf Patmos gelandet. Das Wort Gottes und das Zeugnis Jesu sind der Grund für seinen Aufenthalt. Vielleicht war seine Predigt Anlass für die Verbannung. Ganz bestimmt aber, dass der Herr ihm auf Patmos etwas offenbaren wollte.6

Jesus ist „der treue Zeuge“, vor allem aber Gegenstand dessen, was Johannes bezeugt: Er ist „der Erstgeborene von den Toten“, „Herr über die Könige auf Erden“ (Vers 5), „der uns liebt“, „uns erlöst hat von unsern Sünden mit seinem Blut“ und „zu Königen und Priestern gemacht hat“ (Vers 6). Und: „Er kommt mit den Wolken!“ (Vers 7). Damit wird unser Text in eine weite heilsgeschichtliche Perspektive gestellt.

Vers 10: „Im Geiste“7 wird Johannes in die Lage versetzt, Wahrnehmungen zu machen, die unter normalen Umständen nicht möglich wären. Zuerst hört er, ohne etwas zu sehen, „eine große Stimme“.

Erstmals taucht an dieser Stelle in der Offb das griechische hos (= wie) auf, das allein in unserem Text achtmal erscheint.8 Hinzu kommt noch zweimal der Gebrauch des Wortes homoios (= gleich) (Verse 13+15). Beide Worte erinnern an die Grenzen menschlicher Begriffsfähigkeit angesichts der himmlischen Realität.9

Was Johannes sieht, übersteigt seine Verstehenskapazitäten. Er ringt nach Worten, will beschreiben, was unbegreiflich ist; sucht Unfassbares zu fassen.

Die Stimme, die Johannes hört (vgl. auch Offb 4,1), erinnert an den Schall des Schofar oder Widderhorns, das im alten Israel eine weitreichende Bedeutung hatte – und im Judentum bis heute hat.

Am Sinai kündigt das Schofar die Gegenwart Gottes an, dass der Herr sich offenbart oder später, in den Propheten, den Tag des Herrn.10  Es offenbart Sünde (Jes 58,1), ruft zur Umkehr11 , ist ein Ruf zur Sammlung12 und lockt in dieser Funktion die Zerstreuten Israels aus der Diaspora zur Anbetung auf dem heiligen Berg in Jerusalem.13

Nicht selten ist der rauhe, urtümliche Klang des Widderhorns ein Ruf zum Kampf,14  hat deshalb etwas Beunruhigendes, Furcht­erregendes und Erschre­ckendes. Wenn Gott sein Volk ruft, steht das Handeln Gottes im Vordergrund, nicht die militärischen Fähigkeiten der israelitischen Krieger.15

Der Posaunenschall ruft in die Nachfolge,16 verpflichtet und trägt einen Herrschaftsanspruch in sich.17 Durch das Schofar bekennt sich der Gott Israels mehrfach zu seinem angefochtenen Gesalbten.

Das Schofar verkündigt einen Neu­beginn,18 ist für Gefangene und Unter­drückte der Klang der Freiheit. Seine Botschaft ist: Ein Zustand, der von Sünde und Schuld entstellt wurde, soll so wiederhergestellt werden, wie der Schöpfer ihn sich ursprünglich gedacht hatte.

In diesem tief in der Tradition Israels verwurzelten Sinne ist „der Posaunenschall das Signal der Erscheinung des Herrn“19 und – vom Offenbarungsgeschehen am Sinai bis zur Wiederkunft von Jesus – „ein Instrument des wiederkehrenden Christus, um sein Volk zu sammeln und den Sieg über die Feinde Gottes zu begleiten“.20

Vers 11: Mit dem Schreibbefehl21 legt Gott sein Wort und sich selbst fest. „Was du siehst“ bezieht den Seher aktiv mit ein in den Offenbarungsvorgang, lässt ihm „die Freiheit der Wortwahl und der Darstellung“ und hat zudem „autoritative Bedeutung“.22

Vers 12: Auffallend ist, dass die Schofar­stimme nicht aus der Richtung kommt, in welche die Aufmerksamkeit des Sehers gerichtet ist.23 Johannes muss sich umdrehen, die Blickrichtung grundlegend verändern, um den Auferstandenen sehen zu können. Das Neuausrichten der Aufmerksamkeit ist ein entscheidendes Element im Geschehen von Offb 1. Hätte Johannes sich nicht umgewandt, wäre er nicht vom Hörer zum Seher geworden.

Doch dann sieht er sieben Leuchter. Als Zeitzeuge des zweiten Tempels und schriftkundiger Jude denkt Johannes an die Menora in der Stiftshütte24 und im Tempel, aber auch an den goldenen Leuchter, den Sacharja in seiner fünften Vision sah, umrahmt von zwei Ölbäumen (Sach 4,2). Im Unterschied zum AT ist hier in der Offb aber von sieben Leuchtern die Rede, von denen Vers 20 erklärt, dass sie sieben Gemeinden darstellen.

Vers 13: In ihrer Mitte ist einer „gleich einem Menschensohn“25 , bekleidet mit einem langen Gewand. Bemerkenswert ist zunächst einmal der Unterschied zum unbekleideten Götterpantheon Griechen­lands, den Gerhard Maier beobachtet und folgert: „Der biblische Gott schützt die Intimität. Der Olymp der Götter aber zerstört sie.“26

Kleidung ist in der Bibel zunächst ein Bedürfnis des menschlichen Körpers, wie Nahrung, dann aber Ausdruck der Identität27 , Würde28 , Macht29 und Auto­rität30 . Kleidung kann eine Berufung unter­streichen31 . „Der hochgegürtete, bis zu den Füßen reichende Talar“32  ist Ehren­kleid der Könige (Jes 22,21) und Hohepriester.33 Wie im Hebräerbrief (4,14ff; 7,1ff. 23ff.) tritt der erhöhte Menschen­sohn als Hohepriester vor Johannes,34 der im folgenden „Haupt/Haare“, „Augen“, „Füße“, „Stimme“, „rech­te Hand“, „Mund“ und „Ge­sicht“, also sieben Einzel­­züge beschreibt.35

Vers 14: Haupt und Haare weiß wie Wolle (vgl. Jes 1,18) und rein wie Schnee beschreibt die vollkommene Reinheit des Menschensohns. In Dan 7,9 ist das Haar des „Alten der Tage“ so beschrieben. Das aramäische Wort neke (= rein) wird ausdrücklich erwähnt. Bei der Verklärung Jesu sahen die Jünger, wie „seine Kleider weiß wurden wie das Licht“ (Mt 17,2 par). „An dieser Gestalt ist nichts dunkel.“36 Für sie gilt, was für die Herrlichkeitsgegenwart Gottes gilt: Sie ist so hell, dass es licht wird, wo sie sich zeigt (Hes 43,2).

Auch bei den „Augen wie Feuer­flammen“37 stimmt die Parallele mit dem „Mann in leinenen Kleidern“, den der Prophet Daniel vor Augen hatte38 . Johann Albrecht Bengel erkennt in ihnen „die durchdringende Kraft seiner Allwissenheit und Weisheit, vor der nichts verborgen ist.“39 „Mit seinen wie Feuerflammen leuchtenden Augen durchschaut der Richter die Herzen bis auf ihren tiefsten Grund“40 .

Vers 15: „Mit den glühenden Füßen seiner heiligen Kraft tritt er zu Boden, was vor seinen Augen nicht bestehen kann.“41 Einen ähnlichen Effekt mag die Feuerwalze haben, die Hesekiel von Norden heranfegen sieht (Hes 1,4).

Hesekiel hört die Flügel der Wesen, die er sieht „rauschen wie große Wasser“ (Hes 1,24). Später hört er die Herrlichkeit des Gottes Israels, die von Osten her „brauste, wie ein großes Wasser braust“ (Hes 43,2). Genauso hört Johannes die Stimme des Menschensohns (wörtlich) „wie eine Stimme vieler Wasser“42 . „Das Brausen der Wasser übertönt alles und besitzt eine enorme Gewalt. Wo dieser Herr spricht, muss alles andere schweigen.“43

Vers 16: In der rechten Hand des Menschen­sohns sieht Johannes sieben Sterne, die in Vers 20 als „Engel der sieben Gemeinden“ erklärt werden.

Mit seiner rechten Hand hat Gott den Himmel ausgespannt, tut Wunder, gibt Weisung, errettet, hilft und schafft Heil.44 Mit seiner Rechten erwirbt der Herr das Land Israel, bewahrt, erhält, stärkt, erfreut, herrscht und richtet.45

Die rechte Hand ist im biblischen Denken das Organ, durch das ein Mensch mit Gott kommuniziert, durch das Gott eine Verbindung mit dem Menschen aufbaut und aufrecht erhält.46 Will ein Mensch etwas tun, das in den Augen Gottes und vor Menschen Bestand haben und Frucht bringen soll, muss er das mit seiner rechten Hand tun.

So wird mit der rechten Hand eine verbindliche Abspra­che besiegelt (Gal 2,9) oder ein Schwur bekräftigt47 . Mit der Rechten vermittelt der Apostel Petrus Heilung (Apg 3,7) und der auferstandene Christus (im folgenden Vers unseres Textes) Ermutigung. Gott hat Jesus „durch seine rechte Hand erhöht zum Fürsten und Heiland, um Israel Buße und Vergebung der Sünden zu geben“ (Apg 5,31). Deshalb sitzt er zur Rechten Gottes.48

Johannes sieht sieben Sterne in der rechten Hand des Menschensohns.49 Das erinnert an das Jesus-Wort: „Mein Vater, der sie mir gegeben hat, ist größer als alles, und niemand kann sie aus des Vaters Hand reißen“ (Joh 10,29).

Das scharfe, zweischneidige Schwert schließlich ist zweifellos ein Rückbezug auf den gesalbten Gottesknecht50 , „das Schwert des Geistes, welches ist das Wort Gottes“ (Eph 6,17), das „lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert [ist] und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens“ (Hebr 4,12). Johannes steht dem gegenüber, der „mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten“ wird (Jes 11,4).

Die Ausstrahlung dieser himmlischen Richtergestalt gleicht der unverhüllten Sonne, ist herrlich und majestätisch.51 Zuletzt hatte Johannes dieses Gesicht auf dem Berg der Verklärung gesehen (Mt 17,2). Das Leuchten auf dem Gesicht des Mose, das die Israeliten in der Wüste nur schwer ertragen konnten52 , war nur ein Abglanz der Herrlichkeit, mit der sich der Seher jetzt direkt konfrontiert sieht. „Wer mich sieht, der sieht den Vater“ hatte Jesus seinen Jüngern einst erklärt (Joh 14,9).

Vers 17: Überwältigt vom Eindruck dieser Erscheinung stürzt Johannes zu Boden und ist „wie tot“. „Kein Mensch wird leben, der mich sieht“, hatte der lebendige Gott seinen Knecht Mose wissen lassen (2.Mose 33,20). Wie die Propheten Daniel (Dan 8,18; 10,10) und Hesekiel (Hes 1,28), und wie der Apostel Paulus (Apg 9,4), muss Johannes erfahren: Die Wirkung der Erscheinung des Auferstandenen ist urgewaltig.53

„Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin unreiner Lippen und wohne unter einem Volk von unreinen Lippen“, hatte Jesaja im Angesicht Gottes erkannt (Jes 6,5). Mensch und Gott passen nicht zusammen (vgl. Lk 5,8). Maier zitiert Bengel, der aus Offb 1,17 eine geistliche Konsequenz zog, „die es wert ist, dass wir sie heute bedenken: ‚Auch von uns wird ein heiliger tieffer Respect erfordert, und alle Frechheit samt allem Fürwitz muß ferne seyn von diesen Betrachtungen‘ (S. 211).“54

Bei Jesaja berührt ein Seraf mit einer glühenden Kohle vom Altar die Lippen des Propheten „dass deine Schuld von dir genommen werde und deine Sünde gesühnt sei“ (Jes 6,6f). Jeremia berichtet: „Und der Herr streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an“. Dabei erklärt der Allmächtige den Zweck der Berührung: „Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund“ (Jer 1,9). Daniel erfährt bei seiner Begegnung mit Gabriel die Berührung durch den Erzengel. Sie soll ihn aus seiner Ohnmacht aufwecken und aufrichten, „sodass ich wieder stand“ (Dan 8,18) – ihn also dazu befähigen, die Offb entgegenzunehmen.55

Bei Johannes kommt all das zusammen – zudem wird noch die einzigartige Beziehung Jesu zu seinem Lieblingsjünger betont. Daniel war bei einer vergleichbaren Gelegenheit daran erinnert worden, dass er der „von Gott Geliebte“ sei (Dan 10,11.19). Maier schreibt: „Er, den Johannes als Lehrer und Messias liebte, tritt ihm auch jetzt nicht nur in göttlicher Macht, sondern in einzigartiger persönlicher Verbundenheit gegenüber. Schon Irenäus hat diesen Gesichtspunkt herausgearbeitet, als er Offb 1,17f kommentierte: Jesu Wort, so schreibt er, ‚erinnert ihn (Johannes), dass er (Jesus) es sei, an dessen Brust er beim Abendmahl ruhte‘.“56

„Fürchte dich nicht!“ sind die Worte, die mit der Berührung durch die Hand des Messias einhergehen. Ein Zuspruch, der 300 Mal in der Heiligen Schrift vorkommt57 : „Fürchte dich nicht!“

Wie anders klingt da die Offenbarungs­geschichte des Koran. Aischa, die Lieb­lings­­frau des Propheten Muhammad, berichtete: „Das weitere Geschehen erzählte mir der Gesandte Gottes mit folgenden Worten: ‚Da packte der Engel mich und würgte mich, dass ich beinahe die Besinnung verlor. Darauf ließ er von mir ab und sagte: ‚Trag den Menschen vor!‘ Ich erwiderte: ‚Ich werde nichts vortragen!‘ Er ergriff mich erneut und würgte mich, dass ich schon glaubte, es sei der Tod. Dann aber ließ er mich los und sagte: ‚Trag den Menschen vor!‘ Ich antwortete: ‚Ich werde nichts vortragen!‘ Und wieder packte er mich und drückte mir ein drittes Mal die Kehle zusammen. Schließlich ließ er von mir ab und sagte: ‚Trag vor, im Namen deines Herrn, der erschaffen hat, der den Menschen aus geronnenem Blut erschaffen hat! Trag vor! Und dein Herr ist allgütig!‘“58

Religiöser Druck ist kein Sonder­problem des Islam. Er wird vielfach ausgeübt, wo Führungspersönlichkeiten von der Angst geleitet werden, die Kontrolle zu verlieren. Festzuhalten bleibt: Der auferstandene Messias tut genau das Gegenteil. Die Herrlichkeit des lebendigen Gottes wirkt auf den Sünder erdrückend. Aber Gott richtet ihn auf, liebevoll bevollmächtigend, mit seiner rechten Hand, und ermöglicht so die Beziehung.

„Ich bin der erste und der letzte“59 , bezieht der Auferstandene die Worte auf sich, die Jahrhunderte zuvor Jesaja aus dem Mund des Königs und Erlösers Israels, des Herrn Zebaoth vernommen hatte (Jes 44,6) – mit dem Anspruch: „Außer mir ist kein Gott!“ Jes 48,12f verbindet mit dieser Aussage die Autorität die nur dem Schöpfer zusteht. Damit ist klar: „Jesus gehört nicht in die Reihe der menschlichen Religionsstifter. Er ist der ewige Sohn Gottes.“60

Vers 18: „Ich war tot“ fasst das ganze Erdenleben Jesu zusammen61 , treffend auf den Punkt gebracht in Phil 2,6-8.

Ich bin „der Lebendige“ „von Ewigkeit zu Ewigkeit“62 greift wiederum eine Bezeich­nung auf, die nur Gott zusteht.63

Jesus hatte einst die Schlüssel des Himmelreichs Petrus anvertraut (Mt 16,19), nicht aber die Schlüssel des Todes und der Hölle.64  Es ist dem Messias Jesus vorbehalten, Tod und Teufel die Macht zu nehmen65 . Hat Jesus jetzt die Schlüssel, die bisher in ihrer Hand waren, dann sind sie ihm unterworfen und müssen ihm dienen. Das heißt, die gewaltige Rückführung der Schöpfung zu ihrem Schöpfer hat jetzt begonnen.66

Wichtig ist, dass die frühjüdischen Rabbinen „die Schlüssel des Todes und des Totenreichs“ nur Gott selbst zugestanden.67

2. Reden – die Predigt

Anstatt den Predigttext zu Beginn vorzulesen, um dann – wie gewöhnlich – zur Drei-Punkte-Predigt zu kommen, schlage ich vor, den Predigttext langsam, Schritt für Schritt, mit erklärenden Einlagen vorzutragen. Den Predigthörer mit hineinzunehmen in die Bilder des Textes, sie zu entfalten und wirken zu lassen. Lassen Sie die Zuhörer, soweit das in einem traditionellen Gottesdienst möglich ist, selbst zu Wort kommen: „Welche Assoziationen weckt …“ „Was sehen Sie, wenn Sie hören …“ „Was bedeutet heute …“ „Wie würden Sie sagen …“

Gott diktiert dem Schreiber nicht Buchstabe für Buchstabe sein Wort in die Feder. Er stellt dem Seher Bilder vor Augen und befiehlt: „Schreibe in ein Buch!“ Die subjektive Wahrnehmung des Johannes ist entscheidend am Offenbarungsprozess beteiligt, in das Reden Gottes zu uns Menschen, einbezogen. Lassen Sie das Ihre Predigthörer erleben!

Als orthodoxer Jude war Johannes gewohnt, einen Bibeltext zu lernen und möglichst genau im Leben anzuwenden. Das ist eine wichtige, unabdingbare Basis für das Glaubensleben. Doch dann trat Jesus von Nazareth in sein Leben und bat ihn: „Folge mir nach!“ Im hohen Alter stellt der auferstandene und erhöhte Christus seinen Lieblingsjünger noch einmal auf ganz neue Weise vor eine große Herausforderung, indem er ihn direkt mit der überwältigenden Herrlichkeitsgegenwart des lebendigen Gottes konfrontiert. Das war etwas Neues, nie Dage­we­senes, vollkom­men Unerhörtes. – Sie können diesen Aspekt des Predigtextes intellektuell, trocken erklären. Oder Sie können Ihre Predigthörer mit hineinnehmen in dieses Erleben und den traditionellen württembergischen Sonntagsgottesdienst am letzten Sonntag nach Ephiphanias einmal etwas anders, überraschend gestalten. Übrigens: Hier in Israel, in einem jüdischen Kontext, auch in unseren messianisch-jüdischen Gemeinden, ist ein bloßer Vortrag als Predigt nur schwer durchführbar. Die Zuhörer haben die Bibel auf den Knien und sprechen manchmal laut aus, was sie denken, oder welche Fragen sie auf dem Herzen haben, so dass die Predigt zum Gespräch wird.

Eine Predigt auf diese Art zu gestalten, ist ein Risiko. Einerseits brauchen Sie genügend, Material um 20 Minuten solo ausfüllen zu können. Andererseits müssen Sie flexibel genug sein, um auf unerwartete Reaktionen Ihrer Zuhörer eingehen zu können.

Wichtig ist, dass Sie einen „Strick“ in Reichweite haben, um „den Sack“ zubinden zu können, wenn die Zeit für die Predigt um ist. Als „Strick zum Zubinden des Sackes“ würde ich in diesem Falle drei Gedanken, drei Grundlinien vorschlagen, die der Auferstandene dem Seher Johannes mitgibt. Wir halten zum Abschluss fest: 1.     Jesus war, 2.     Jesus ist, 3.     Jesus kommt

1.  Jesus war – tot

Er hat sich erniedrigt und keinen Weg gescheut, um diese Welt zu erlösen.

Er hat alle Sünde, alles Belastende, alles Trennende, die Vergangenheit, die uns verfolgt und unsere Beziehungen zueinander und zu ihm so schwer macht, auf sich genommen. Alles, was Johannes beim Anblick der himmlischen Reinheit zu Boden warf, hat Jesus auf sich genommen und ein für allemal bewältigt.

Das gibt der Auferstandene an Johan­nes weiter, indem er seine Rechte auf ihn legt. Das will er an uns weitergeben.

Übrigens verkünden wir genau das im Abendmahl: „Den Tod des Herrn, bis er kommt“ (1Kor 11,26).

2.  Jesus ist – er lebt!

Johannes ist schockiert, gelähmt, nicht nur von der überwältigenden Herrlichkeit des erhöhten Christus – sondern auch, weil dieser Jesus so ganz anders ist als der, an dessen Brust er am Vorabend des Leidensweges ruhte.

Wir lieben einen Jesus, der alles für uns gibt und uns die Füße wäscht (Joh 13,4). – Aber Jesus hat sein Obergewand wieder angelegt. Er hat nicht mehr das leinene Tuch umgürtet, sondern den „goldenen Gürtel“.

In unserem Text offenbart sich Jesus als Herrscher. Das ist nicht mehr der, der unsere Schuld trug, der Allerverachtetste (Jes 53). Er hat einen Anspruch. Seine vollkommene Reinheit sind der totale Gegensatz zu unserer Sündhaftigkeit. Seine Augen sind durchdringend. Sein Wort schneidet scharf, bis in die letzte Faser. Sein Füße zermalmen, was sich ihm widerspenstig entgegenstellt.

Sind wir auf diesen Jesus vorbereitet?

3.  Jesus kommt wieder

Und dann „werden ihn sehen alle Augen“ (Offb 1,7). Jesus wird kommen als Richter, der den Völkern Frieden gebietet (Sach 9,10) und allem Leid und Unrecht ein Ende bereitet. Kein Politiker und kein Geschäftsmann, kein Reicher und kein Armer wird sich vor den Augen des erhöhten Christus verstecken können. Wir müssen alle vor dem Richterstuhl Christi offenbar werden (Röm 14,10; 2Kor 5,10). Das sagen wir im Glaubensbekenntnis – und das sollten wir uns auch nicht scheuen, ganz konkret und verständlich in unsere Zeit hineinzurufen.


  1. Noch einmal in Offb 22,8; vgl. Dan 8,1 und Gerhard Maier, Die Offb des Johannes. Kapitel 1-11. Historisch-Theologische Auslegung (HTA). Neues Testament (Witten: SCM R. Brockhaus/Giessen: Brunnen Verlag, 2009), 106, mit Verweis auf Jer 20; 24; Hes; Dan 7-12; Am 7; 8; Sach 1-7. 

  2. Maier, 108. 

  3. Adolf Schlatter, Die Briefe und die Offb des Johannes. Ausgelegt für Bibelleser. Erläuterungen zum Neuen Testament Bd.10 (Stuttgart: Calwer Verlag, 1965), 142. 

  4. Maier, 108. 

  5. Johannes Behm, Die Offb des Johannes. Das Neue Testament Deutsch, Teilband 11 (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 6. durchgesehene Auflage 1953), 11. 

  6. August Fuhr, Offb Jesu Christi (Reutlingen: Verlag Philadelphia, 1950), 78. 

  7. Vergleiche dazu Offb 4,2; 17,3; ferner Hes 3,12; 8,1-3. 

  8. In den Versen 10, 14 [3x], 15 [2x], 16 und 17. 

  9. Maier, 112-113. 

  10. Vgl. 2.Mose 19,16.19; Ps 47,6; Jes 18,3; Joel 2,1; Zef 1,16. 

  11. Jer 4,21-22; 6,1.16-17; Hes 33,3-6; Hos 5,8; 8,1; Joel 2,15. 

  12. Neh 4,12.14; Jer 4,5. 

  13. Jes 27,13; Joel 2,15. 

  14. Jos 6,5.16.20; Hiob 39,24.25; Jer 4,19; 42,14; 51,27; Amos 2,2; 3,6; Zef 1,16. 

  15. Jos 6,4.6.8[2x].9.13; Ri 3,27; 7,18.19; Neh 4,14. 

  16. Ri 6,34; 1.Sam 13,3-4. 

  17. Vgl. dazu 2.Sam 15,10; 20,1; 1.Kön 1,34.39.41; 2.Kön 9,13. 

  18. Vgl. 3.Mose 23,24; 25,9; 1. Sam 13,3; Ps 81,4. 

  19. Giesebert Stokmann, Reichsgeschichtliche Auslegung der Offb des Johannes für gebildete Schriftgläubige (Gütersloh: C. Bertelsmann, 3. Auflage 1923), 85. 

  20. Maier, 112, mit Verweis auf die neutestamentlichen Stellen Mt 24,31; 1.Kor 15,52; 1. Thess 4,16. 

  21. Wiederholt in Vers 19; Offb 19,9; vergleiche zudem Jes 30,8; Dan 7,1. 

  22. So Maier, 113, mit Bezug auf Gottlob Schrenk. 

  23. Maier, 112 Fußnote 215, beobachtet sowohl in Offb 1,10 als auch in Hes 3,12 das auffallende „hinter mir“. 

  24. 2.Mose 25,31ff; 37,17ff; 4.Mose 8,1ff. 

  25. Er wird noch einmal erwähnt in Offb 14,14. Eine ähnliche Gestalt erscheint in Hes 1,26; Dan 7,13. Maier, 115, verweist auf die Menschensohn-Verkündigung Jesu im Johannesevangelium (1,51; 3,13.14; 5,27; 6,27.53; 9,35; 12,23.34; 13,31). 

  26. Maier, 116. 

  27. 1.Mose 27,15.16; 38,19; 1.Sam 28,8; 1.Kön 22,30/2.Chr 18,29; Hes 9,2.3.11; 10,2.6.7; Dan 10,5; 12,6.7; Zeph 1,8; Sach 13,4-5; Ps 132,9.16; Hiob 29,14; Jes 59,17. 

  28. 2.Sam 13,18-19; Est 5,1; 6,8.9.11; Jer 4,30. 

  29. 1.Sam 17,5.38-39.45; Jer 46,4; Hes 38,4; Hiob 39,19. 

  30. 1.Mose 41,42; 1.Kön 22,10/2.Chr 18,9; Jes 22,21; Hes 23,6.12; 26,16. 

  31. 2.Mose 28,40-41; 29,29-30; 3.Mose 6,3.4 u.ö. 

  32. Vergleiche Offb 15,6; Dan 10,5. 

  33. 2.Mose 25,7; 28,4.31; 29,5. August Dächsel (hg.), Die Briefe der heiligen Apostel. Die Offb St. Johannis. Die Bibel oder Die ganze Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments nach der deutschen Übersetzung Dr. Martin Luthers mit in den Text eingeschalteter Auslegung, ausführlichen Inhaltsangaben zu jedem Abschnitt und den zur weiteren Vertiefung in das Gelesene nöthigsten Fingerzeigen, meist in Aussprüchen der bedeutendsten Gottesgelehrten aus allen Zeitaltern der Kirche. Band 7 (Leipzig: Verlag von Justus Naumann, kein Datum), 10. Stokmann, 86. Behm, Offb, 13. Maier, 116. 

  34. Behm, Offb, 13. 

  35. Maier, 117. 

  36. Stokmann, 87. 

  37. ebenso in Offb 2,18; 19,12. 

  38. Dan 10,6; vgl. Dan 7,9f. 

  39. Berthold Burgbacher, Die Offb des Johannes nach der Auslegung von Johann Albrecht Bengel (Metzingen/Württ.: Verlag Ernst Franz, 1975), 11. 

  40. Stokmann, 87. 

  41. Stokmann, 87. Ähnlich Bengel nach Burgbacher, 11. 

  42. Ebenso in Offb 14,2; 19,6; vgl. ähnlich Dan 10,6. 

  43. Maier, 120. 

  44. Jes 48,13; 2.Mose 15,6.12; Ps 45,5; 5.Mose 33,2; Ps 20,7; 60,7; 108,7; 138,7; Ps 98,1. 

  45. Ps 44,4; 78,54; Jes 41,10; Ps 63,9; 139,10; Ps 18,36; Ps 16,11; Ps 89,26; Ps 21,9; Hab 2,16. 

  46. Ps 73,23; Jes 41,13; 44,20; 45,1. 

  47. Jes 62,8; Offb 10,5f. 

  48. Mt 22,44par mit Rückverweis auf Ps 110,1; Mt 26,64par; Mk 16,19; Apg 7,55; Röm 8,34; Eph 1,20; Kol 3,1; Hebr 1,3; 8,1; 10,12; 12,2; 1.Petr 3,22. 

  49. Eine Tatsache, die dreimal wiederholt wird: Offb 1,20; 2,1; 3,1. 

  50. Jes 49,2; Offb 2,12. 

  51. Stokmann, 87-88. 

  52. 2.Mose 34,29ff; 2.Kor 3,7ff. 

  53. Maier, 122. 

  54. Maier, 122. 

  55. Ähnlich Dan 10,10.18. 

  56. Adv. Haer. IV,20,11 bei Maier, 125. 

  57. Dächsel, 11. 

  58. Al-‘alaq – 96,1-3 in Sahih Al-Buhari, Nachrichten von Taten und Aussprüchen des Propheten Muhammad. Ausgewählt, aus dem Arabischen übersetzt und herausgegeben von Dieter Ferchl (Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1991), 24. 

  59. Ähnlich Offb 1,8; 2,8; 22,13. 

  60. Maier, 124. 

  61. Behm S. 15, so zitiert von Maier, 125 Fußnote 304. 

  62. Ebenso Offb 4,9; ähnlich Offb 2,8. 

  63. Vergleiche 5.Mose 5,26; 32,40; Jos 3,10; 2.Kön 19,4. Hermann L. Strack und Paul Billerbeck, Die Briefe des Neuen Testaments und die Offenbarung des Johannis erläutert aus Talmud und Midrasch. Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Band 3 (München: C.H. Beck’sche Verlagsbuchhandlung, 9. Auflage 1994), 790. Maier, 124. 

  64. So Bengel bei Burgbacher, 12. Vgl. außerdem Hiob 38,17. 

  65. 2.Tim 1,10; Hebr 2,14. 

  66. Maier, 126, mit Verweis auf Eph 1,10. 

  67. bTaan 2a; bSanh 113a zitiert bei Maier, 127.