Mohandas Karamchand Gandhi (2.10.1869-30.1.1948), später bekannt als Mahatma Gandhi, war der politisch und geistig wichtigste Führer des unabhängig werdenden Indiens. Nach seinem Jurastudium in England sammelte Gandhi Erfahrungen mit dem „gewaltfreien“ Widerstand gegen die Engländer als Rechtsanwalt in Südafrika im Kampf für die Rechte der Inder. Nach Indien zurückgekehrt, kämpfte er um die Unabhängigkeit Indiens, um die „Hindu – Muslim – Einheit“, um die Beseitigung des Kastenwesens, und zwar besonders zur Rehabilitation der die Parias, der die „Unberührbaren“ (Kastenlosen), die Gandhi als „Harijans“, Kinder Gottes, bezeichnete. Gandhis wesentliches Werkzeug war die Gewaltlosigkeit, das heißt der Kampf durch Mittel wie Streik, Steuerverweigerung, Menschenblockaden und Hungerstreik, die bis heute viele Nachahmer der unterschiedlichsten Richtungen gefunden haben.
Gandhi galt und gilt Generationen von alternativen Denkern als Leitfigur. Der deutsche Gandhiforscher Michael Blume versteht Gandhis Programm etwa als ideale Grundlage „für die gewaltfreie Opposition in den westlichen Industriestaaten und jene weltweite Alternativbewegung, die sich als Friedensbewegung, als ökologische Bewegung, als Frauenbewegung, als Klassenkampf oder als Befreiungsbewegung in der Dritten Welt versteht.“
Gandhi gilt in Indien zwar als Nationalheiliger, seine Überzeugungen spielten und spielen seit seinem Tod aber kaum noch eine Rolle. Im Gegensatz dazu hat Gandhi eine erstaunliche Wirkungsgeschichte in der christlichen Welt gehabt. Er wird oft in einem Atemzug mit Martin Luther King als Vordenker christlicher politischer Ethik genannt, als sei er wie dieser christlicher Theologe gewesen. Dahinter steht jedoch meist weniger ein gründliches Studium der umfangreichen Schriften Gandhis (z. B. von Gandhis programmatischer Schrift Sarvodaya [Wohlfahrt für alle]), als ein an Heiligenlegenden erinnernder festgefügter Traditionsstrang.
Wie Gandhi etwa zum Helden der Frauenbewegung werden konnte, obwohl er seine Prinzipien nie auf seine Frau anwandte und die Frauen bei den Engländern sicher mehr Rechte hatten, als bei den Hindus und bei Gandhi, ist schwer zu verstehen. Auch die Antirassismusbewegung hat mit Gandhi ein unpassendes Idol gewählt, hat sich Gandhi doch schon in Südafrika nicht für das Schicksal der Schwarzen interessiert und auch in Indien den indisch-hinduistischen Nationalismus nie durchbrochen.
Ohne in irgendeiner Weise die Ungerechtigkeit der Kolonialherrschaft rechtfertigen und ohne damit alle Verdienste Gandhis entwerten zu wollen, muss doch der oft gepriesene Erfolg Gandhis entgegen der Traditionsbildung kritisch hinterfragt werden.
- Die Unabhängigkeit Indiens war eher ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges, in den auch der Kolonialherr England verwickelt war, als der des gewaltlosen Widerstandes.
- Der gewaltlose Widerstand funktionierte nur, weil Gandhi in England einen noch weitgehend christlich denkenden Gegner hatte. Gandhi hat die englischen Christen mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Wären die Engländer Muslime oder Hindus gewesen, hätte Gandhis Weg wohl kaum Erfolg gehabt.
- Gandhis verkündigte Hindu-Muslim-Einheit ist vollkommen gescheitert. Die Unabhängigkeit endete in einem riesigen Blutbad flüchtender Muslime und Hindus, Millionen von Toten und einer Spaltung des Landes in zunächst zwei Länder. Die Folgen dieser Spaltung und die gewaltsamen Spannungen zwischen Hindus und Muslime sind bis heute nicht überwunden. Nicht zuletzt wurde Gandhi selbst bei seiner Ermordung ein Opfer der Gewalt zwischen Hindus und Muslimen.
- Die Aufhebung der Kasten fand zwar Eingang in die indische Verfassung, zunächst jedoch nicht in den Alltag Indiens. Die Verfassung Indiens spiegelt dabei nicht das Denken Gandhis oder hinduistische politische Traditionen wider, sondern eher christliche und angelsächsische Traditionen.
Auch zur großen Wirkungsgeschichte Gandhis in der christlichen Welt sind einige kritische Anmerkungen zu machen.
- Gandhi hat viele hinduistische Praktiken, wie etwa das Vegetariertum, erst durch Vermittlung von Europäern, die in der Abkehr vom christlichen Abendland ihr Heil in den Lehren anderer Religionen suchten, übernommen. Deswegen war sein Glaube eine bereits teilweise europäisierte Form der indischen Tradition.
- Gandhi wurde maßgeblich von europäischen Denkern wie Rousseau, Ruskin und Thoreau, vor allem aber von den Schriften Leo Tolstois – etwa von dessen neuverfasster und stark geändertes Lebensgeschichte Jesu – beeinflusst. Mit Tolstoi, dessen Idee, dass man sich dem Bösen nicht widersetzen dürfe, er im hinduistischen Sinne der ahimsa (Nichtschädigung lebendiger Wesen) und der asahayoga (Nichtmitwirken mit dem Übel) verstand, wechselte er – später veröffentlicht – Briefe. Christliches Gedankengut lernte Gandhi zunächst wohl nur auf diesem Umweg kennen. Erst als berühmter Mann lernte er eigentliches Christentum näher kennen.
- Trotz seiner christlichen Gesprächspartner und vieler Einladungen als Teilnehmer und Redner zu christlichen Konferenzen und Großveranstaltungen war Gandhi ein energischer Gegner der christlichen Mission und ließ nur das als christlich gelten, was den ererbten und früh in ihm gefestigten Lehren des indischen Jainismus entsprach. So rühmt er zwar Bibel und Koran (Ges. Werke XXI, S. 246; XXVIII, S. 111), lehnt aber ihre traditionelle Auslegung ab und setzt sein eigenes Verständnis an deren Stelle.
- Gandhi ist kein Anhänger des Hinduismus gewesen, wie ihn die Mehrheit der Inder versteht oder praktiziert, sondern wurde maßgeblich von zwei indischen Religionen beeinflusst, die sich aus dem Hinduismus entwickelt haben, dem Jainismus und dem Theravada-Buddhismus. Nur so ist zu verstehen, wie Gandhi die Überlegenheit der indischen Kultur und einen Universalitätsanspruch des Hinduismus (vgl. sein Glaubensbekenntnis, Ges. Werke XXI, S. 245-246) vertreten und zugleich das hinduistische Kastenwesen und den hinduistischen Kampf gegen die Muslime ablehnen konnte. Oberstes Lebensziel war für ihn die durch mehrere Wiedergeburten hindurch zu erlangende moksha, also die „Erlösung“ bzw. „Selbstverwirklichung“ im hinduistischen Sinne, die Christen nur als eine „Selbstauflösung“ begreifen können.