1. Eine schwierige Lehre
Die Lehre der Auserwählung und Vorherbestimmung nenne ich aus zwei Gründen eine schwierige Lehre:
- Sie ist dem natürlichen Verstand unbegreiflich
- Sie ist umkämpft und umstritten
Gott und Seine Werke sind für uns schwer zu verstehen. Das liegt an zweierlei: Wir sind bloße Geschöpfe und als solche begrenzt. Zudem sind wir auch als Sünder am Verstand verfinstert (Eph 4,18), blind für Gott und Sein Heil. Darum kann es nicht verwundern, dass uns viele biblische Lehren paradox erscheinen. Die Tatsache, dass die Lehre der Erwählung schwer ist, soll uns nicht davon abhalten, sie in der Bibel zu studieren. Wir denken dabei an das Wort Salomos:
„Gottes Ehre ist es, eine Sache zu verbergen, aber der Könige Ehre, eine Sache zu erforschen“. (Spr 25,2)
Und:
„Viel Honig essen ist nicht gut, aber schwere Dinge erforschen ist Ehre“. (Spr 25,27)
„Es ist für das Wort Gottes eine Ehre, wenn es nicht so flach ist, dass man ihm alsbald auf den Grund sehen kann. Und wir werden, wenn wir überhaupt davon überzeugt sind, dass unser Wissen Stückwerk ist, uns daran ganz besonders erinnern müssen, wenn wir nachzudenken beginnen über die Tiefen der göttlichen Weisheit, die nicht mehr im Bereich dieser Welt und ihrer Geschichte liegen, sondern in die Ewigkeit hineinreichen. Da wird Bescheidenheit in den Aussagen doppelt angebracht sein.“ (Paul Humburg, Ewige Erwählung)
Wir wollen das Wort zu diesem Gegenstand studieren, aber wir wollen dabei bedenken, dass wir ganz auf Gott angewiesen sind, d. h. auf Sein geschriebenes Wort. Dieses ist unsere einzige Weisheit. Wir wollen alles beachten und an alles glauben, was Gott uns in Seinem Wort sagt; wir wollen nichts verwerfen oder zurechtbiegen, weil es vielleicht unserem natürlichen Empfinden von Recht und Unrecht widerspricht. Wir wollen aber auch nichts dazudenken, zu dem was Gott gesagt hat. Wir wollen uns an den Rat eines großen Lehrers der christlichen Kirche halten:
„Sobald der Herr seinen Mund zutut, muss auch der Mensch den Weg, weiter zu forschen, verlassen; denn jeder Schritt, den wir außerhalb des Wortes Gotts tun, muss uns in die Irre führen. Wir müssen uns gewöhnen, uns zu bescheiden, denn hier ist Unwissenheit die rechte Gelehrsamkeit“. (Johannes Calvin)
Und wir wollen uns an dieses Wort des anderen großen Reformators halten:
„Man muss über diese Dinge nicht mit einem überhinrauschenden… und auch wohl lasterhaftigen Glösslein zufrieden sein, aber man darf sich nur von der Schrift führen lassen. Denn wer wissen will, was Gott verborgen hat und will sich weise dünken, der sieht nicht, dass dies das Übel ist, daran Adam und Eva samt ihren Nachkommen den Tod gefressen haben … Es ist mit Gottes Wort nicht zu scherzen. Kannst du es nicht verstehen, so zeuch den Hut vor ihm ab.“ (Martin Luther)
Wir sind ganz auf Gottes Beistand angewiesen, d. h. auf das Wirken Seines Geistes. Unser Verstand reicht nicht aus, im Gegenteil: menschliches Urteilen steht der rechten Erkenntnis im Weg. Der Apostel sagt:
„Der natürliche Mensch nimmt nicht an, was des Geistes Gottes ist; es ist ihm eine Torheit“. (1Kor 2,14)
Weil die Lehre der Auserwählung zum Heil so schwer mit der biblischen Lehre der Verantwortung des Menschen in Einklang zu bringen ist, hat sie seit frühester Zeit zu verschiedenen Erklärungsversuchen und damit verbunden zu heftigen Auseinandersetzungen geführt.
Weil die Lehre der Auserwählung zum Heil so schwer mit der biblischen Lehre der Verantwortung des Menschen in Einklang zu bringen ist, hat sie seit frühester Zeit zu verschiedenen Erklärungsversuchen und damit verbunden zu heftigen Auseinandersetzungen geführt. Teils wurden Vertreter einer anderen Sicht dieses so schwierigen Themas als Ketzer verdammt. Ein sonst so besonnener und auch gelehrter Mann wie John Wesley schrieb in einem Pamphlet, der Gott, den Georg Whitefield verkündigte, sei nicht sein Gott; er gleiche mehr Satan als dem Gott der Bibel. Die ganze englischsprachige Welt ist über der Frage der Erwählung und der Willensfreiheit des Menschen in zwei Lager geschieden. Auf der einen Seite stehen die Leute, die man als „Calvinisten“ bezeichnet, auf der anderen Seite die Leute, die man als „Arminianer“ bezeichnet. Die „Calvinisten“ betonen die Souveränität Gottes, die „Arminianer“ betonen die Verantwortung des Menschen. Erstere glauben, dass die Errettung unverlierbar ist, während letztere glauben, man könne das Heil verlieren.
Beide glauben teils Richtiges und teils Falsches, und gerade wegen der Richtigkeit eines Teils ihrer Anschauungen, sind beide ihrer Sache so sicher und ist der Streit oft so unerbittlich geführt worden. Was die sogenannten Calvinisten über die Erretteten glauben, ist wahrscheinlich alles richtig; was die sogenannten Arminianer über die Verantwortung des Menschen glauben, ist wahrscheinlich alles richtig.
Es gibt aber Calvinisten, die wegen der richtigen Überzeugung, dass die Errettung des Menschen ausschließlich am Gnadenwillen Gottes liegt, glauben, die Verdammnis liege ebenso ausschließlich am souveränen Willen Gottes. Das sagt die Bibel aber nicht.
Die Arminianer vertreten die richtige Ansicht, dass der Mensch den Willen und die Fähigkeit hat, das Heil zu verwerfen, und dass er darum verdammt wird. Aus dieser richtigen Sicht folgern sie, der Mensch habe auch die Fähigkeit und die Willenskraft, das Heil zu wählen, und damit widersprechen sie Gottes Wort.
Ich hoffe, wir werden in der Bibel erkennen, dass die Errettung ganz an der souveränen Gnadenwahl Gottes liegt, und dass die Verdammnis ebenso vollständig an der Sünde des Menschen liegt. Das scheint uns nicht logisch. Wir müssen es trotzdem glauben, wenn die Bibel es so sagt. Gott erwartet von uns, dass wir Ihm in allem glauben. Er hat nicht von uns verlangt, wir müssten alles verstehen; noch weniger hat Er uns gesagt, wir müssten nur das glauben, was uns persönlich einleuchtet.
Ich hoffe und bete …, dass wir in unseren Gemeinden vor jenem unseligen Streit zwischen Calvinisten und Arminianern bewahrt bleiben.
Ich hoffe und bete – ja, wirklich, ich habe oft und inbrünstig darum gebetet –, dass wir in unseren Gemeinden vor jenem unseligen Streit zwischen Calvinisten und Arminianern bewahrt bleiben. Wir haben Ursache, Gott dafür zu danken, dass dieser Streit, der durch die ganze angelsächsische Welt geht, in der Christenheit des deutschsprachigen Raumes kaum wahrgenommen wird. Wir wünschen und hoffen alle, dass es so bleibt. So will ich mit meinen Ausführungen dazu beitragen, dass wir die hohen Geheimnisse der Erwählung und Vorherbestimmung besser würdigen und angemessener betrachten, und dass wir miteinander in Frieden leben und umgehen. Ich werde am Ende meiner Ausführungen auf ein wunderschönes Vorbild hinweisen, an dem wir lernen können, wie wir die Wahrheit in Liebe festhalten und bei allen unterschiedlichen Ansichten die Brüder lieben und aller Diener sein können.
2. Eine Übersicht über Gottes ewigen Heilsrat
Aus dem Neuen Testament erfahren wir folgendes über Gottes ewigen Vorsatz der Errettung:
- Gott hat einen ewigen Vorsatz des Heils: Eph 3,11; 2Tim 1,9
- Gott verhieß das ewige Leben vor aller Zeit: Tit 1,2
- Gott wirkt bei aller Errettung nach dem Rat Seines Willens, um Seinen ewigen Vorsatz zu erfüllen: Eph 1,11
- Christus war als Lamm ausersehen vor Grundlegung der Welt: 1Petr 1,20
- Christus führte das verordnete Heil aus nach Gottes Bestimmung und nach Gottes Vorsatz: Lk 22,22; Apg 2,23; 4,24-28.
- Gott erwählte die Erlösten in Christus: Eph 1,4
- Gott erwählte die Erlösten vor Grundlegung der Welt: Eph 1,4
- Gott erwählte sie von Anfang an zum Heil: 2Thess 2,13
- Gott erwählte sie nach Seiner Vorkenntnis: Röm 8,29; 1Petr 1,2
- Gott bestimmte zuvor, dass die Erwählten Seinem Sohn gleichgestaltet werden sollten: Röm 8,29
- Gott gab die Seelen, die erlöst werden sollten, Seinem Sohn: Joh 6,37; 10,29; 17,6.9.24
- Gott berief sie nach Seinem Vorsatz: Röm 8,28; 9,11; 2Tim 1,9
- Gott berief sie nicht auf Grund von Werken: 2Tim 1,9
- Gott erwählte sie, damit sie an Ihn glauben und Ihm gehorchen und heilig und tadellos sein sollten vor Ihm: Eph 1,4; Jak 2,5; 1Petr 1,2
3. Was bedeuten die Begriffe „Auserwählung“ und „Vorherbestimmung“ und „Vorkenntnis“?
Vielfach werden diese Begriffe austauschbar verwendet. So steht im „Calwer Kirchenlexikon“ unter der Rubrik „Prädestination“ zu lesen:
„Prädestination, (d. h. die Vorherbestimmung), oder Gnadenwahl …“
Wir wollen versuchen, anhand einiger Bibelstellen ihre jeweilige Grundbedeutung zu erfassen.
a) Was bedeutet „Auserwählung“?
„Gott hat uns auserwählt in Christus vor Grundlegung der Welt“. (Eph 1,4)
Das hier verwendete Verb eklegomai kommt im NT 20mal vor, 15mal ist Gott oder der Herr Jesus der Erwählende (Mk 13,20; Lk 6,13; Joh 6,70; 13,18; 15,16.19; Apg 1,2.24; 13,17; 15,7; 1Kor 1,27.28; Eph 1,4; Jak 2,5), 5mal ist es der Mensch, der auswählt (Lk 10,42; 14,7; Apg 6,5; 15,22.25). Die Bedeutung ist immer die gleiche: aus einer Reihe von Möglichkeiten oder Personen eine Auswahl treffen; die Person oder die Sache aussuchen, die man bevorzugt. Es bezeichnet nicht eine Wahl aller, sondern eine Aus-Wahl aus allen, wie das in der griechischen Vorsilbe ek-, „aus-“, zum Ausdruck kommt.
Ferner kommt das Verbalsubstantiv eklektos „auserwählt“, 23mal vor, 1mal sind Engel der erwählte Gegenstand (1Tim 5,21), dreimal ist es Christus (Lk 23,25; 1Petr 2,4.6); 19mal sind es die erlösten Menschen (Mt 20,16; 22,14; 24,22.24.31; Mk 13,20.22.27; Lk 18,7; Röm 8,33; 16,13; Kol 3,12; 2Tim 2,10; Tit 1,10; 1Petr 1,2; 2,9; 2Joh 1,13; Offb 17,14). Der Erwählende ist hier immer Gott.
Schließlich kommt das Abstraktum eklogê, „Auserwählung“ 7mal vor (Apg 9,15; Röm 9,11; 11,5.7.28; 1Thess 1,4; 2Petr 1,10). Es wird in den Übersetzungen nur in Apg 9,15 als Adjektiv übersetzt: „ein erwähltes Gefäß“ (KJV „a chosen vessel“ , Segond: „un instrument choisi“). Im Griechischen steht skeuos eklogês, „ein Gefäß der Erwählung“, und das soll natürlich unsere Aufmerksamkeit auf Röm 9,23 lenken, wo von den beiden Arten von Gefäßen, Gefäßen des Zorns und Gefäßen des Erbarmens, gesprochen wird. Paulus gehört also zur Gruppe der Gefäße, die Gott in Seinem Erbarmen zum Leben und zur Herrlichkeit erwählt hat.
In 2Thess 2,13 steht für das deutsche Wort „erwählt“ im Griechischen das Verb haireomai, das nur noch in Phil 1,22 und Heb 11,25 belegt ist. Es bedeutet „wählen“ im Sinne von „vorziehen“, d. h. nach persönlicher Neigung wählen. So legt das Wort „auserwählen“ (eklegomai) den Schwerpunkt auf die Auswahl, aus der etwas genommen wird, „erwählen“ (haireomai) auf die Eigenschaft des Wählenden.
Die Bedeutung des Ausdrucks „Erwählung“ ergibt sich aus seiner Verwendung im Neuen Testament. Wir können dazu vorläufig viererlei festhalten:
- Gott hat uns erwählt, nicht wir haben Ihn erwählt (Joh 15,16). Gott war der Erste, wie Er denn in allen Seinen Werken, sei es in der Schöpfung (1Mose 1,1), sei es in der Erlösung (Joh 1,1), immer der Urheber und Anfänger sein muss.
- Gott hat uns in Christus erwählt, d. h. um deswillen, was Christus ist und wer Christus ist, nicht um deswillen, wer oder was oder wie wir sind (Eph 1,4).
- Gott hat uns erwählt, ehe die Schöpfung war (Eph 1,4; 2Thess 2,13). Das bedeutet, dass Seine Erwählung durch nichts verursacht sein konnte, das mit und nach der Schöpfung ins Dasein trat. Also weder die Sünde des Menschen noch die Buße des Menschen können die Ursache für die Erwählung sein. Ja, die Sünde ist der Anlass dafür, dass Gott Heil wirkt; aber sie ist nicht die Ursache. Und die Buße und der Glaube des Menschen sind das Mittel (Eph 2,8), auf dem der Mensch zum Heil kommt. Sie sind aber nicht die Ursache der Erwählung zum Heil.
- Gott hat erwählt, weil Er so ist, wie Er ist: Liebe (5Mose 7,7.8).
a. bis c. zusammengenommen bedeuten, dass Gott nach Seinem Willen und Vorsatz rettet (2Tim 1,9), nicht nach unserem Willen und Vorsatz (Röm 9,16), dass wir nach Seinem Willen zum Glauben und damit zur Wiedergeburt kamen, nicht nach unserem Willen (Joh 1,12.13; Jak 1,17.18). c. bedeutet, dass ein jeder von uns errettet wurde, weil Gott so ist, wie Er ist; dass die Errettung ganz an Eigenschaften Gottes liegt und in keiner Weise an Eigenschaften oder Dispositionen des Erretteten.
In uns ist keine Würdigkeit; wir sind Fremde, wie Ruth, die Moabitin, die keinerlei Anspruch auf Gottes Güte haben.
Gott hat Christus vor der Zeit das ewige Leben verheißen (Tit 1,2). Das bedeutet, dass Er Seinem Sohn verhieß, er werde den Seelen das ewige Leben und alle himmlischen Segnungen geben, die Er durch Sein Blut erlösen sollte (Joh 17). In uns ist keine Würdigkeit; wir sind Fremde, wie Ruth, die Moabitin, die keinerlei Anspruch auf Gottes Güte haben. Darum fallen wir vor dem Herrn nieder wie Ruth vor Boas.
„Da fiel sie auf ihr Angesicht und beugte sich zur Erde nieder und sprach zu ihm: Warum habe ich Gnade gefunden in deinen Augen, dass du mich beachtest, da ich doch eine Fremde bin?“. (Ruth 2,10)
Wilhelm Busch hat zu diesem Vers folgenden Vergleich verwendet:
„Wir wollen uns einen Sklavenmarkt vorstellen … Da steht so ein armer Sklave … Nun geht da ein freundlicher Herr über den Markt. Der arme Sklave hat es nicht in der Hand, dass der Blick dieses Mannes auf ihn fällt. Aber er erschrickt vor Glück, als es geschieht. Wir hatten es nicht in der Hand, dass der Blick des Herrn Jesu auf uns fiel. Aber als es geschah, da verstanden wir das dunkle Wort aus Epheser 1: Er hat uns erwählt, ehe der Welt Grund gelegt war …“ (Wilhelm Busch: Der Herr ist mein Licht und mein Heil. Tägliche Andachten, 13. Oktober)
b) Was bedeutet „Vorherbestimmung“?
„Denn welche er zuvor erkannt hat, die hat er auch zuvor bestimmt, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein, damit er der Erstgeborene sei unter vielen Brüdern“. (Röm 8,29)
Das hier verwendete Verb proorizô kommt an folgenden 6 Stellen im Neuen Testament vor: Apg 4,28; Röm 8,29.30; 1Kor 2,7; Eph 1,5.11.
Dort, wo „vorherbestimmen“ in Zusammenhang mit „auserwählen“ verwendet wird (Eph 1,4.5.11) wird deutlich, dass in der kausalen Abfolge dieser beiden Sachverhalte die Erwählung zuerst steht. Gott hat uns in Christus erwählt. Was uns betrifft, ist damit ausgesagt, woraus wir genommen worden sind: Aus der Menge der in Adam gefallenen Menschen. Aus ihnen hat uns Gott auserwählt. Die Er auserwählt hat, hat Er dazu bestimmt, Söhne zu werden. Er hat sie „zuvor bestimmt zur Sohnschaft“. Römer 8,29 sagt, dass Er sie „zuvor bestimmt hat, dem Bilde seines Sohnes gleichförmig zu sein“. Die „Vorherbestimmung“ oder „Prädestination“ bezieht sich also auf das Ziel, das Gott im Auge hatte, als Er uns erwählte.
Das Wort enthält die Vorsilbe pro = vor, vorher. Das bedeutet, dass die Bestimmung der genannten Sache schon zuvor geschehen ist. Bevor wir errettet wurden, hatte Gott schon bestimmt, dass die Erretteten Christus gleich sein sollten. Gott hat sich das nicht nachträglich einfallen lassen.
Die Vorsilbe pro kommt auch in einem anderen Verb vor, das in der Heilslehre eine wichtige Rolle spielt: „Vorkenntnis“ und „zuvor erkennen“.
c) Was bedeutet „verordnen“?
An drei Stellen steht das Wort im Zusammenhang mit Gottes Erwählung einzelner Personen zum Heil und zum Dienst: Apg 13,48; 22,14; 26,16.
Es werden dabei im Griechischen zwei verschiedene Wörter verwendet: tassw (tassô; Apg 13,48) und proceirizomai (procheirizomai; Apg 22,14; 26,16).
d) Was bedeutet „zuvor erkennen“ und „Vorkenntnis“?
„Petrus, Apostel Jesu Christi, den Fremdlingen von der Zerstreuung von Pontus, Galatien, Kappadocien, Asien und Bithynien, auserwählt nach Vorkenntnis Gottes, des Vaters …“. (1Petr 1,1-2)
Das Hauptwort prognôsis, „Vorkenntnis“ kommt an folgenden Stellen vor: Apg 2,23; 1Petr 1,2. Beide Male bezieht es sich auf die Tatsache, dass Gott etwas oder jemand zuvor erkannt hat. Das Verb proginwskw (proginôskô) „zuvor erkennen“ kommt an folgenden Stellen vor: Apg 26,5; Röm 8,29; 11,2; 1Petr 1,20; 2Petr 3,17. Die beiden Stellen in Apg und 2Petr beziehen sich auf jemanden oder etwas, den oder das Menschen vorher wissen oder kennen. Die Stellen in Röm und 1Petr beziehen sich auf Personen (Erlöste und der Erlöser), die Gott zuvor erkannt hat.
Auserwählt gemäß Vorkenntnis Gottes
… bedeutet das dann nicht, dass Gott uns auserwählte, weil er vorher wusste, dass wir uns zu Ihm bekehren würden?
Wenn der Apostel Paulus sagt, Gott habe solche zuvor bestimmt, die er zuvor erkannt hatte (Röm 8,29), und Petrus sagt, dass wir auserwählt sind nach Vorkenntnis Gottes (1Petr 1,1.2), bedeutet das dann nicht, dass Gott uns auserwählte, weil er vorher wusste, dass wir uns zu Ihm bekehren würden?
Selbstverständlich wusste Gott vorher, ob Du und ich uns bekehren würden. Er weiß als der Allwissende alles, was war, was ist und was sein wird. Wir lesen deshalb vom Herrn Jesus, dass er wusste, was im Menschen war (Joh 2,25), dass er wusste, „welche es seien, die nicht glaubten, und wer es sei, der ihn überliefern würde“ (Joh 6,64; 13,11), dass er auch alles wusste, was über ihn kommen würde (Joh 18,4). Das ist uns alles gar keine Frage. Die Frage, die uns aber bewegt, ist die, ob unsere Bekehrung, die der Herr längst vorhergesehen hatte, auch die Ursache unserer Erwählung ist. Sagt das Neue Testament an irgendeiner Stelle, dass Gott uns wegen des vorhergesehenen Glaubens erwählte? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns verschiedene Stellen ansehen, in denen das Wort „Vorkenntnis“ oder „zuvor erkennen“ verwendet wird.
Die Vorkenntnis Gottes wird im Neuen Testament nie mit dem Glauben oder Unglauben der Erlösten, überhaupt mit einer Eigenschaft in ihnen oder einer Haltung ihrerseits Gott gegenüber verknüpft. Gott hat nicht zuvor erkannt, dass etwas in den Erwählten sei, sondern er hat sie vor Grundlegung der Welt zuvor erkannt, damit etwas in ihnen sei: Das, was Er sich für sie vorgesetzt hat.
So sagt Gott über Abraham, er habe ihn erkannt, „auf dass er seinen Kindern nach ihm befehle …“ (1Mose 18,19). Der Ausdruck „auf dass“ hebräisch lema’an bezeichnet die Absicht, die Gott im Auge hatte, als Er Abraham „erkannte“. Er wandte sich ihm in solcher Weise zu, nahm sich seiner mit solcher Wirkung an, dass Abraham genau das tat, was Gott wollte: Er befahl seinen Kindern, dass sie den Weg des Herrn bewahren sollten.
Wir müssen den Ausdruck „erkennen“ nicht nur an der genannten Stelle, sondern überhaupt so verstehen, wie er im Alten Testament gebraucht wird
Wir müssen den Ausdruck „erkennen“ nicht nur an der genannten Stelle, sondern überhaupt so verstehen, wie er im Alten Testament gebraucht wird: Erkennen bedeutet nicht allein wissen um etwas oder jemand, sondern – aufs allgemeinste formuliert – sich mit dem erkannten Gegenstand einlassen. Es hat häufig die Bedeutung, sie jemandem aus Liebe zuwenden und sich ihn zu eigen machen. Siehe 1Mose 4,1; 2Mose 2,25; 33,17; Ps 1,6; 101,4; 144,3; Jer 1,5; Hos 13,5; Am 3,2. Auch im NT steht Erkennen für ein den betreffenden Gegenstand aneignendes Erkennen. Es steht, nach den Worten von Theodor Zahn, für:
„ein Verhalten Gottes, wodurch der Mensch aus seiner Entfremdung von Gott in den Bereich der Liebe Gottes gerückt wird … Die Liebe zu Gott ist nach 1Kor8:3 das Merkmal, an welchem man erkennt, dass einer von Gott in diesem tieferen Sinn erkannt worden ist.“
Siehe auch Mt 7,22-23; 2Kor 5,21; Gal 4,9; 2Tim 2,19.
Alle diese Stellen zeigen, dass sowohl das hebräische jada’als auch das griechische ginoskô mehr bedeutet, als bloß wissen oder erkennen im Sinn von wahrnehmen. Entsprechend kann „zuvor erkennen“ auf keinen Fall nur so viele bedeuten wie „vorher wissen“.
„Es würde [dann] nicht mehr ein willentliches, sich selbst seine Objekte setzendes Erkennen Gottes sein, sondern ein bloßes Wissen, dem seine Objekte von der Wirklichkeit aufgedrängt werden“. (Th. Zahn, Römerbrief)
Es ist ein Gott entehrender Gedanke, er sei der lediglich passive Beobachter unseres Tuns
Es ist ein Gott entehrender Gedanke, er sei der lediglich passive Beobachter unseres Tuns, der nicht mehr könne oder dürfe, als zur Kenntnis zu nehmen, wie wir als Seine Geschöpfe uns verhalten und entscheiden würden. In der Tat: Nicht Gott, sondern wir hätten dann vorherbestimmt. So zeichnet die Bibel das Geschöpf Mensch nicht; und ein solcher Gott wäre nicht der Gott der Bibel, der im Anfang war, alles schuf und alles wirkt nach dem Rate Seines Willens (Eph 1,11). Ein solcher Gott wäre ein von uns gedachter, von uns konstruierter und damit unseren Wünschen entgegenkommender Gott, kurz: ein Götze. Einen solchen hätten wir in der Hand; er hätte aber nicht uns in der Hand.
Entsprechend sagt William Kelly zu Röm 8,29:
„Es ist wichtig, zu beachten, dass der Apostel nicht von einem passiven oder bloßen Vorherwissen spricht, als ob Gott lediglich vorher gesehen hätte, was einige sein oder tun oder glauben würden. Seine Vorkenntnis gilt Personen, nicht ihrem Zustand oder Benehmen; es geht nicht um das Was, sondern ‚die, welche‘ er zuvor erkannt hat.“
Fast wörtlich das Gleiche sagt der eminent gelehrte englische Nonkonformist John Gill (1697-1771), der als einer der größten Hebraisten seiner Zeit galt:
„Wir müssen als nächstes nach dem Gegenstand der Erwählung fragen. Er besteht in Menschen … und zwar solche nicht als unter diesem oder jenem Charakter, als Berufene, als Bekehrte, als an Christus Gläubige, als heilige oder gute Menschen, die in Glauben und Heiligkeit bis zum Ende ausharren; denn sie sind nicht erwählt, weil sie berufen, bekehrt usw. sind, sondern weil sie erwählt sind, werden sie all das … all diese Eigenschaften zusammengenommen kommen auf den Lehrsatz heraus, dass der Glaubende und darin bis zum Ende Beharrende errettet werden wird. Gott erwählt aber nicht Lehrsätze, sondern Personen; nicht Eigenschaften, sondern Menschen“. (J. Gill, A Complete Body of Doctrinal and Practical Divinity)
Eine für das Urteil aller Reformatoren charakteristische Bemerkung ist diese:
„Thomas von Aquino … dachte über die Prädestination so: Da Gott alles sieht, bevor es wird, so prädestiniert er den Menschen dann, wenn er in seiner Weisheit sieht, wie er werden wird. Diese Ansicht hat mir einst als Student gefallen, später aber, als ich die Hochschule preisgab und der reinen göttlichen Lehre anhing, missfiel sie mir sehr. Er glaubt nämlich, die Bestimmung Gottes über uns folge unserem Bestimmen. Nämlich, nachdem Gottes Weisheit unsere künftige Beschaffenheit, das heißt: wie wir uns verhalten und bestimmen werden, gesehen hat, dann erst spricht sie das Urteil über uns … Sollte die Bestimmung Gottes unserem Tun folgen, so wären wir aus uns selbst etwas, ehe Gott über uns bestimmte – das ist Torheit“. (U. Zwingli, Von der Erwählung)
Im Neuen Testament lesen wir:
„Gott erwählte uns nach Seiner Vorkenntnis zum Gehorsam und zur Blutbesprengung Jesu Christi“. (1Petr 1,2)
Gott erkennt etwas zuvor, weil Er dieses Geschehen zuvor verordnet hat. Oder: Gott erkennt eine Person zuvor, weil Er diese Person zuvor erwählt und zum Leben verordnet hat.
Das dem Hauptwort „Vorkenntnis“ entsprechende Verb „zuvor erkennen“ kommt im gleichen Kapitel in V. 20 vor. Dort heißt es: Christus war von Gott als Lamm Gottes zuvor erkannt vor Grundlegung der Welt. Welch anstößiger Gedanke wäre es, Gott habe vorher einfach gewusst, dass Sein Sohn dann zum Lamm werden würde (1Petr 1,19.20). Selbstverständlich wusste Gott das; und selbstverständlich wusste der Sohn Gottes von Anfang an, „alles, was über ihn kommen würde“ (Joh 18,4). Aber heißt das auch, dass Er lediglich das passive Opfer der bösen Taten der Menschen war? Gewiss nicht, denn Er selbst sagte, dass niemand das Leben von Ihm nehme, sondern dass Er es von sich selbst lasse (Joh 10,17.18); denn dieses Gebot hatte Er vom Vater empfangen. Das bedeutet gleichzeitig, dass Gott nicht einfach wusste, dass Jesus (ich verwende bewusst hier nur seinen menschlichen Namen) eines Tages zum Lamm werden würde, ohne dass Gott, der Vater in diesen Beschluss eingeweiht gewesen wäre. Solche Gedanken weisen wir mit aller Entrüstung von uns (siehe Joh 4,34; 5,19; Hebr 10,7). So bedeutet denn der Ausdruck, Christus sei als Lamm zuvor erkannt, genau so viel wie zuvor verordnet. Weil Gott verordnet hatte, dass Sein Sohn als Lamm geschlachtet werden sollte, erkannte Er Ihn vor Grundlegung der Welt als Lamm. Ja, es war der Rat des dreieinen Gottes von Ewigkeit her, wie wir an Hebräer 9,14 lernen: „Christus hat durch den ewigen Geist sich selbst ohne Flecken Gott geopfert.“ Der Schreiber sagt deshalb ausdrücklich, es sei „durch den ewigen Geist“ geschehen.
Wir können mithin sagen: Gott erkennt etwas zuvor, weil Er dieses Geschehen zuvor verordnet hat. Oder: Gott erkennt eine Person zuvor, weil Er diese Person zuvor erwählt und zum Leben verordnet hat.
Gott wählte aus der Masse der Nachfahren Adams jene aus, die der Gegenstand Seines Wohlgefallens sein sollten.
Solche, die Gott zuvor erkannt hat, die hat Er auch berufen (Röm 9,29). Gott hat zuvor erkannt, und dann hat Gott berufen; Sein Handeln ist in Ihm begründet. Es ist ein von Menschen hinzugefügter Gedanke, Gott habe den Glauben oder den guten Willen oder die „Entscheidung für Christus“ vorher gesehen; auf Grund solcher Vorkenntnis habe Er dann berufen und erwählt. Das steht nun eben nicht so geschrieben, sondern ist ein von Menschen gemachter Zusatz. Und ein solcher Zusatz macht jeden Gedanken von „Erwählung“ zunichte, rechtfertigte in keiner Weise den Gebrauch dieses Terminus. eklogh (eklogê) bedeutet Aus-Wahl. Gott wählte aus der Masse der Nachfahren Adams jene aus, die der Gegenstand Seines Wohlgefallens sein sollten. Das bedeutet, dass nicht alle Gegenstand Seiner auswählenden Gnade sein würden, sein könnten. Stimmte es hingegen, dass Gott jene erwählte, von denen Er vorhersah, dass sie Buße tun und an den Sohn Gottes glauben würden, und dass Er sie deshalb erwählte, dann wäre das Wort „erwählen“ ein gänzlich unpassender, ja, ein irreführender Begriff; dann hätte Gott nicht „erwählt“, sondern „belohnt“; dann läge nicht Gnadenwahl vor, sondern Anerkennen einer im Menschen vorhandenen Befindlichkeit.
Und dann müssten wir zudem in Röm 8,28 das Wort „nach Vorsatz“ streichen. Gott hat es sich vorgesetzt, Dich zu retten, und darum bist Du zum Glauben gekommen; er hat es nicht dir und deinem Glauben „nachgesetzt“ als Antwort oder als Reaktion auf deinen Glauben. Allein die Vorsilbe pro im Wort (prothesis), oder Vor- im deutschen Wort „Vorsatz“ sagt mit unübersehbarer Deutlichkeit, was zuerst da war: Gottes Wahl oder des Menschen Wahl. In der Tat: Nicht wir haben den Herrn Jesus erwählt, sondern Er hat uns erwählt (Joh 15,16).
Erwählung ist definitionsgemäß nicht im Erwählten, sondern im Erwählenden begründet, ansonsten man Belohnung, Entlöhnung, Reaktion, Antwort oder ein ähnliches Wort gebrauchen müsste. Es müsste das NT dann von einer im Menschen liegenden Qualitas, Qualität sprechen, die ihn zur Errettung qualifizierte; aber gerade das tut das Neue Testament nicht; im Gegenteil: Es hebt ausdrücklich hervor, dass niemand auf Grund von Verdienst oder Qualifikation errettet, gerechtfertigt, berufen und erwählt ist. Da ist keiner, der Gutes tue, da ist keiner, der Gott suche (Röm 3,11). Gott wurde vielmehr von solchen gefunden, die ihn nie gesucht hatten (Röm 10,20). Die Erwählung ist Wahl reiner und freier Gnade, wenn aber Gnade, dann nicht nach Werken, denn sonst ist Gnade nicht mehr Gnade (Röm 11,6). Es ist durchaus nicht so, dass Gott uns erwählt hat, weil Er Glauben in uns sah; es ist umgekehrt so: Er hat uns auserwählt, damit wir glauben. So steht ausdrücklich im Jakobusbrief zu lesen:
„Hört, meine geliebten Brüder: Hat nicht Gott die weltlich Armen auserwählt, reich zu sein im Glauben, und zu Erben des Reiches, welches er denen verheißen hat, die ihn lieben?“. (Jak 2,5)
Er hat auserwählt, „reich zu sein im Glauben“, nicht „weil sie reich sind im Glauben“.
Die Erwählung geschieht mithin nicht mit Blick auf etwas, das sich einst im Erwählten finden würde.
In Röm 9,11 wird ausdrücklich gesagt, dass Gott Jakob erwählte, bevor er irgend Gutes oder Böses getan hatte. Die Erwählung geschieht mithin nicht mit Blick auf etwas, das sich einst im Erwählten finden würde. Der Apostel doppelt noch nach und sagt, dass Gott gemäß Seinem Vorsatz erwählt hatte, nicht gemäß vorhandenem oder fehlendem Glauben, den er in den Zwillingen vorhersah. Die Meinung, Gott habe Jakob erwählt, weil er wusste, Jakob würde „sich für Gott entscheiden“, wird von Paulus auf diese Weise mit einem Federstrich abgetan. Sie lässt sich angesichts der Deutung der Zwillingsgeburt Jakobs und Esaus und ihres so verschiedenen Geschicks durch den inspirierten Apostel nicht mehr halten. Die Erwählung ist allein in Gottes Willen, in Gottes zuvor gefasstem Ratschluss begründet. Paulus sagt deshalb, dass der Vorsatz Gottes nach Auswahl besteht, und dass diese Auswahl nicht im Berufenen begründet ist, sondern „aus dem Berufenden“ (Röm 9,11) hervorgeht. Das kann man gar nicht deutlicher sagen. Also nochmals: Die Auswahl wird getroffen aufgrund dessen, der beruft, nicht aufgrund dessen, der berufen wird. Wann wollen wir glauben, was Gott durch Seine Apostel sagt?
„Was machen die Menschen? Sie kommen mit ihren Bedingungen, die ihnen die Gnade sichern sollen … Wir sagen, Gottes Gnade ist eine zuvorkommende Gnade; sie geht allem voraus, was im Menschen ist. Aber auf jene Weise wollen die Menschen der Gnade Gottes zuvorkommen und ihr voraus sein“. (Thomas Goodwin, Works, Vol. 8, S. 198)
„Zuerst: Gott hat uns von Ewigkeit her zuvor erkannt. Das ist nicht ein bloßes Wissen; denn selbstverständlich weiß Er von Ewigkeit her, wer je geboren werden wird. Dieses Zuvorerkennen aber umfasst nur jene, die er zuvor verordnet, oder vorherbestimmt hat, dem Bilde Seines Sohnes gleichförmig zu sein. Es war also Erkennen verbunden mit einer Absicht, die nie vereitelt werden kann. Es genügt nicht zu sagen, dass Gott vorher wusste, wer alles eines Tages Buße tun und glauben würde. Es handelt sich um eine Vorkenntnis, die Buße und Glauben sicherstellen.“ (William MacDonald: Believers Bible Commentary, Röm 8,29)