Hier lesen Sie den zweiten Teil von Bibeltreue und ihre Grenzgebiete. Weitere Teile finden Sie hier: Teil 1, Teil 3
Auf dem Weg entlang an den Grenzen von Bibeltreue hatte ich im ersten Teil auf den unaufgebbaren Zusammenhang zwischen Bibeltreue und Christustreue aufmerksam gemacht. Das war gleichsam der Startpunkt für den Weg entlang der Grenzen des Feldes, das mit dem Begriff „Bibeltreue“ bezeichnet ist. Ist es aber überhaupt möglich Grenzen aufzuzeigen, und wenn es möglich ist, ist es dann sinnvoll? Kann man nicht mit einer gewissen Unklarheit in den Begriffen viel besser leben? Sind gar präzise Aussagen mit unnötigen Streitfragen und Wortgezänk gleichzusetzen? Wovor warnt Paulus Timotheus?
Wenn jemand etwas anderes lehrt und sich nicht an die gesunden Worte unseres Herrn Jesus Christus und die allgemeine christliche Lehre hält, dann ist er eingebildet und unwissend. Er hat einen krankhaften Hang zu spitzfindigen Untersuchungen und Wortgefechten. Daraus entstehen Neid und Streit, Beleidigungen, böse Verdächtigungen (1Tim 6,3-4).
Nicht wenige schließen, dass man um des lieben Friedens willen umstrittene Fragen nicht berührt oder aber so wolkig davon redet, dass jeder einverstanden sein kann. Auf der Ebene der Gemeinden hat das bei manchen dazu geführt, dass man so tut als sei alles klar, ohne eine klare Position zu haben. So erlebe ich, dass mir ein Ältester zuerst sagt, eine bestimmte Lehrfrage sei in der Gemeinde geklärt, um mich gleich anschließend zu fragen, wo in der Bibel denn etwas zum Thema stehe. Wie sich auf meine Nachfrage hin herausstellte, hatte die Gemeindeleitung in dieser Sache sogar schon eine weitreichende Entscheidung gefällt, und zwar nur aufgrund einer Ahnung von dem, was als evangelikale Kompromisshaltung angesehen wird.
Ich habe den Eindruck, dass es in einem Teil unserer evangelikalen Bewegung zur Tugend geworden ist, Kompromissformeln zu finden, hinter die sich möglichst viele stellen können. Es werden Aussagen gemacht, die ein Hintertürchen bieten, so dass man sich nur scheinbar festlegen muss. Ich meine, dass sich eine solche Haltung nicht mit Bibeltreue verträgt, denn Gott macht in seinem Wort klare Aussagen und erwartet von uns klare Antworten.
Paulus hat auch nie für so etwas Werbung gemacht, sondern macht auf den entscheidenden Unterschied aufmerksam, der zwischen einem Streit über spekulative Fragen und der gesunden Lehre besteht.
Die Angegriffenen sind fern genug, um sie zu verurteilen, aber nicht nah genug, um ihnen zurecht zu helfen
Andererseits gibt es unter den Evangelikalen etwas, dass ich als Hardlinertum bezeichnen möchte. Da wird an der Stellung zu einer Bewegung oder einem einzelnen Menschen festgemacht, ob ein anderer noch im rechten Glauben steht. Sachverhalte werden gern auf die Frage reduziert, ob man dafür oder dagegen ist. Man hat in diesem Zusammenhang oft den Eindruck, dass es diesen Christen Freude macht, wenn sie wirkliche Irrtümer oder Sünde bei ihren Geschwistern entdecken. Was sie entdeckt haben, benutzen sie dann zu einem Urteil gegen den anderen, statt sich zu mühen ihn zurechtzubringen. Würden sie daran denken wollen, stellten sie wohl fest, dass ihnen die Angegriffenen zwar fern genug sind, um sie zu verurteilen, aber nicht nah genug, um ihnen zurecht zu helfen. Weil uns die Bibel nicht dazu dienen darf, andere zu richten, verträgt sich dies ebenso wenig mit Bibeltreue.
2.1 Programmatische Indifferenz und Bibeltreue
Wovon ich im Folgenden reden will, ist nicht, dass es im Zusammenhang mit der Auslegung der Bibel Fragen gibt, die man nicht eindeutig entscheiden kann. Auch das gehört zu einem bibeltreuen Umgang mit der Heiligen Schrift, dass man nicht Antworten aus ihr herauspresst. Man muss also gelegentlich sagen, dass diese oder jene Frage nicht eindeutig entschieden werden kann. Das aber ist nur erlaubt, wenn es wirklich keine Antworten gibt. Mir scheint es so, als ob wir heute dazu neigen, gleich jeden zweiten Streitpunkt zu einer Frage ohne klare Antworten zu erklären.
Dass man sich gegenseitig mit seinen unterschiedlichen Erkenntnissen stehen lässt, wird zu einem höheren Prinzip als die gesunde Auseinandersetzung in Wahrheitsfragen. Ich hoffe, dass deutlich wird, dass es sich hier nicht nur um eine Stilfrage handelt, sondern dass Bibeltreue damit einhergeht, dass wir der Bibel klare Aussagen zutrauen, diese in ihr suchen und dann so klar wie möglich bekennen. Auch wenn wir dabei deutlich machen, dass wir uns irren können und jede unserer Aussagen an der Heiligen Schrift gemessen werden muss. Wenn aber – etwa um der brüderlichen Einheit willen – wesentliche Fragen des Glaubens ausgespart werden, oder man sich regelmäßig zwischen einem Ja und Nein hindurch schlängeln will, dann verlässt man das Feld der Bibeltreue.
2.1.1 Die Kennzeichen der Indifferenz
a. Weichgespülte Aussagen und Formelkompromisse
Für was wir in der evangelikalen Bewegung stehen, wird für meinen Eindruck zunehmend unklar. Auf der Ebene der Leiter lässt man sich gegenseitig stehen. Man weiß um die unterschiedliche Sicht in verschiedenen Lehrfragen, aber an diese Punkte wird nicht gerührt. Sie scheinen nur selten Grund für ernste brüderliche Gespräche, gar für ein Ringen in bestimmten Lehrfragen. „Es liegen eben unterschiedliche Erkenntnisse vor“. Diese Aussage ist selten Ansporn zu fragen, welche davon nun richtig ist und dem Wort Gottes entspricht, sondern es scheint so, als ob eine Meinung, nur weil sie unter uns vertreten wird, schon ein gewisses Recht hat, zum Kanon evangelikaler Überzeugung zu gehören.
Auf der Ebene der Gemeinden hat sich so bei vielen eine gewisse Resignation breit gemacht. Eine aufkommende Frage ermuntert nicht dazu, Tag für Tag in der Schrift zu forschen, ob sich dies wirklich so verhielte (Apg 17,11). Mit resignierter Stimme heißt es: „Die Exegeten sind sich nicht einig“ oder „Bestimmt sind schon viele Bücher über diese Frage geschrieben worden“. Dann herrscht die Ansicht, dass wir in der Gemeinde sowieso nicht in der Lage sind, die Frage zu klären. Und so bleiben die Meinungen schiedlich friedlich nebeneinander stehen. Das traurige Ergebnis sind einzelne Christen und ganze Gemeinden, die theologisch Enthaltsamkeit leben und denen feste Behauptungen Anlass zu Misstrauen statt zu genauem Nachfragen sind.
Martin Luther hatte im Zusammenhang seiner Auseinandersetzung mit Erasmus von Rotterdam über die Freiheit des Willens auch einen Streit darüber, wie fest man als Christ etwas behaupten darf. Erasmus hatte Luther immer wieder vorgeworfen, er sei so hartnäckig in seinen Behauptungen, er mache so klare und feste Aussagen. Erasmus hielt das für unchristlich. Vielmehr solle man abwägen, erwägen, annehmen, denken oder vermuten und wo immer möglich lieber sein Nichtwissen behaupten. Das erscheint höchst modern, obwohl es vor beinahe 500 Jahren geschrieben wurde. Luther antwortet:
„Schweigen will ich einstweilen davon, dass Du – Dir darin immer ähnlich – hartnäckig darauf achtest, nur ja nirgendwo nicht aalglatt und zweideutig zu sein, und vorsichtiger als Odysseus zwischen Scylla und Charybdis zu segeln scheinst. Während Du nichts sicher behaupten willst, willst Du dennoch als jemand erscheinen, der solche sicheren Behauptungen aufstellt.“1
So sah es Luther: Wer ein Christ ist, der will Klärung und besteht auf festen Meinungen
Auch heute kommen Aussagen des Glaubens teilweise wachsweich oder dehnbar daher. Man will sich nicht festlegen. Man kann alles eben so und so sehen. Diese Haltung wird von manchen sogar für ausgesprochen christlich gehalten. Das mag sie auch sein, wenn es um die Frage geht, ob man beim Singen christlicher Lieder sitzen oder stehen soll. Wenn aber die gleiche Unentschiedenheit auf Bekenntnisfragen und auf die Bibelfrage ausgedehnt wird, wirft das Fragen auf. Wie kann man die Bibelfrage einerseits zu einem Fundament unserer Glaubensüberzeugung erklären und zugleich an vielen Punkten in der Schwebe lassen? Dies ist etwa der Fall, wenn man sich auf das sola scriptura der Reformatoren beruft, aber die Konsequenzen, die das haben muss, verschweigt.2 Wer ein Christ ist, der will Klärung und besteht auf festen Meinungen. So sah es ganz zu Recht Luther:
„Denn das ist nicht Christenart, sich nicht an festen Ansichten zu freuen. Man muss vielmehr an festen Meinungen seine Freude haben oder man wird kein Christ sein. Eine „feste Meinung“ (assertio) aber nenne ich (damit wir nicht mit Worten spielen): einer Lehre beständig anhängen, sie bekräftigen, bekennen, verteidigen und unerschüttert bei ihr ausharren. […] Nichts ist bei den Christen bekannter und öfter gebraucht als die feste Behauptung einer Meinung.
Nimm die sicheren Gewissheiten weg, und Du hast das Christentum weggenommen. Ja, sogar der heilige Geist wird den Christen vom Himmel gegeben, dass er Christus verherrliche und bekenne bis zum Tode. […]“
Welcher Christ könnte den Satz ertragen, dass feste Meinungen nicht zu ertragen seien? Das würde nichts anderes bedeuten, als ein für alle Mal alle Religion und Frömmigkeit verleugnet, oder fest behauptet zu haben, dass Religion oder Frömmigkeit oder irgendeine Lehre nichts sei. Was also versicherst Du bestimmt: Du hättest keine Freude an festen Meinungen, und diese Sinnesart sei Dir lieber als die entgegengesetzte? (WA 18,603-604)
Luther fordert für jeden Christen klare Einsicht in die Fragen des Glaubens und die Aussagen der Heiligen Schrift. Auf diese Einsicht soll sich Gewissheit gründen. Und aus der Gewissheit kommen klare Aussagen und ein offenes Bekennen.
„Lass uns Menschen sein, die feste Meinungen haben, sich darum bemühen und an ihnen Freude haben. Du magst es mit Deinen Skeptikern halten, bis Christus Dich auch wird berufen haben. Der Heilige Geist ist kein Skeptiker, er hat nichts Zweifelhaftes oder unsichere Meinungen in unsere Herzen geschrieben, sondern feste Gewissheiten, die gewisser und fester sind als das Leben selbst und alle Erfahrung.“ (WA 18,605)
Wer aber heute klare und feste Aussagen macht, handelt sich leicht den Vorwurf der Dickköpfigkeit ein
Wer aber heute klare und feste Aussagen macht und verteidigt, handelt sich leicht – wie Luther – den Vorwurf der Starrsinnigkeit oder Dickköpfigkeit ein.
Oder es wird ihm gar vorgehalten, er zerstöre die Gemeinschaft mit anderen Christen. Was das Miteinander mit anderen Menschen angeht, scheint sich auf den ersten Blick wirklich ein Vorteil zu ergeben, wenn viele Aussagen in der Schwebe bleiben. Man kann mit allen gut Freund sein, eckt nicht an und meint vielleicht sogar, dies sei ein Zeugnis der Liebe, das nach innen die Gemeinschaft der Christen erhält und nach außen Menschen dazu bringt, nach unserem Glauben zu fragen.
Bei genauer Betrachtung passiert aber etwas anderes: Das Evangelium wird verfälscht. Die Gemeinschaft der Christen beruht auf dem einen Glauben an das gleiche Evangelium. Wenn die Gemeinschaft aber nur unter Absehung des Inhalts des Evangeliums besteht, ist sie lügenhaft und ein Selbstbetrug. Wenn die Gemeinschaft in Gefahr ist, aufgelöst zu werden, wo jeder seine Überzeugung offen vertritt, hat nie eine Gemeinschaft bestanden. Ich möchte hier anwenden, was Paulus in Epheser 4,25 formuliert:
„Darum legt die Lüge ab und redet die Wahrheit, ein jeder mit seinem Nächsten, weil wir untereinander Glieder sind.“
Ein Glaube, der nicht aussagbar ist, ist nicht verstehbar, ist auch nicht lebbar und nicht bekennbar
Und für das Zeugnis nach außen gilt: Wer Christen begegnet, die den Glauben an Jesus als Annahmen, persönliche Meinungen oder Nichtwissen weitergeben, bekommt den Eindruck, dies sei der Inhalt des Glaubens. Er wird vielleicht denken, dass jeder die Bibel verstehen kann, wie er will. Er wird meinen, dass jeder glauben kann, wie und was er will. Als einzige Aussage bleibt irgendwie stehen, dass Gott es mit uns allen gut meine. Man wird den Glauben statt für eine feste Zuversicht für ein Gefühl halten, das man irgendwie bekommen kann. Aber hier entsteht ein unseliger Kreislauf: Ein Glaube, der nicht aussagbar ist, ist nicht verstehbar, ist auch nicht lebbar und nicht bekennbar. Dass er auch nicht angreifbar ist, scheint nur ein Vorteil zu sein.
Von daher war es zu begrüßen, dass die Deutsche Evangelische Allianz zur Gebetswoche 2002 das Nachdenken über ihre Glaubensbasis aufs Programm setzte.
„Christen müssen zuerst wieder selbst wissen, was sie glauben. Dabei können wir dann auch wieder neu dankbar werden für das gemeinsame Fundament unseres Glaubens – ungeachtet unserer verschiedenen Detailerkenntnisse“ (S. 2).
Schaut man sich aber die Erklärungen zum Bekenntnis zur Heiligen Schrift an, dann spiegelt das nicht dankbare Gewissheit, sondern Verunsicherung wieder. Die „unterschiedlichen Erkenntnisse“ über die Inspiration innerhalb der Evangelischen Allianz scheinen dazu zu führen, dass nur ein Formelkompromiss verbinden kann:
„Aber wir sind verbunden in dem dankbaren Wissen: Die Bibel, wie sie uns vorliegt, ist genau so, wie Gott wollte, dass wir sie haben sollten“ (S. 6).
Unter dieser Aussage können sich so viele gegensätzliche Ansichten über die Bibel finden, dass sie zu nichts taugt.3 Ist es wirklich nur eine „Detailerkenntnis“, ob die Heilige Schrift Fehler enthält und in sich widersprüchlich ist?
Luther zum Missbrauch der Sprache: „Aber das schickt sich nicht für Theologen, sondern für Schauspieler und Betrüger.“
Es scheint positiv zu sein, wenn viele eine Aussage mittragen können. Wenn sie aber etwas Unterschiedliches darunter verstehen und wenn darüber keine Rechenschaft gegeben wird, führt das zur Aushöhlung der Begriffe. Was wäre damit gewonnen, wenn jemand sagt „Die Bibel ist fehllos“, meinte aber zugleich, dass die Bibel Fehler enthält?4 Auf diese Art und Weise werden auch andere Wortbedeutungen unsicher („Die Bibel ist zuverlässig.“ „Die Bibel ist maßgeblich.“) Beim Lesen oder Hören fragt man sich, ob sie noch so gemeint sind, wie sie auf den ersten Blick scheinen, nämlich als Glaubensaussagen über die Qualität der Heiligen Schrift. Oder sind das nur Aussagen über die Erfahrungen, die wir mit der Bibel gemacht haben? Diese Unsicherheit hat fatale Folgen, nicht nur für das Vertrauen untereinander, sondern auch für unsere Positionen, die zunehmend unklar werden. Interessant dass dieses Problem auch ein Diskussionspunkt zwischen Luther und Erasmus war:
„Wer würde nicht jenen unpassenden Worteveränderer verlachen oder vielmehr unausstehlich finden, der wider den Sprachgebrauch aller eine derartige Redeweise einzuführen versuchte, dass er den Bettler reich nennte, nicht weil er irgend welches Besitztum hätte, sondern weil irgendein König ihm vielleicht sein eigenes schenken könnte. Ebenso, wenn er einen Todkranken als vollkommen gesund bezeichnete, allerdings nur deshalb, weil ein anderer ihm seine Gesundheit geben könnte. Item, wenn er einen ganz ungelehrten, einfältigen Menschen sehr gelehrt nennte, weil irgendein anderer ihm vielleicht Gelehrsamkeit geben könnte. Ebenso klingt es auch hier: der Mensch hat einen freien Willen, freilich unter der Bedingung, dass Gott ihm seinen geben würde. Bei diesem Missbrauch der Sprache könnte jeder beliebige sich einer jeden beliebigen Sache rühmen, wie z.B.: jener ist Herr des Himmels und der Erde, (d. h. wenn Gott ihm das geben würde). Aber das schickt sich nicht für Theologen, sondern für Schauspieler und Betrüger.
Unsere Worte müssen zuverlässig, ohne Vorbehalt und besonnen sein und, wie Paulus sagt, gesund und untadelig (Tit. 2, 8).“ (WA 18,637-638)
b. Ausweichen vor der Auseinandersetzung
Ist Auseinandersetzung und Streit unter uns eigentlich immer schlecht? Nicht, wenn es dazu führt, dass wichtige Fragen geklärt werden. Eine Frage, die unter Christen nach heftigem Streit gemeinsam entschieden wurde, führt zu größerer Gewissheit, als wenn man sich leise auf einen Kompromiss geeinigt hat, von dem dann nicht klar ist, von welchen eventuell sachfremden Interessen er geleitet ist. Deswegen lehnt Paulus auch in 2Tim 2 nicht jede Auseinandersetzung ab, sondern einen Streit um Worte statt um Inhalte (V. 14), dann den Streit um unnütze Fragen (V. 23) und schließlich die Streitsucht (V. 24). Das schließt aber gerade ein, dass Menschen mit Sanftmut zurechtgewiesen werden (V. 25).
Die heftigen Auseinandersetzungen um die Bedeutung der Beschneidung für die christliche Gemeinde, können hier ein gutes Vorbild abgeben. In Kapitel 15 der Apostelgeschichte lesen wir, wie die streitenden Parteien daran interessiert waren, zu erfahren, was Gottes Wille in dieser Sache ist. Sie gingen nicht zu den Aposteln nach Jerusalem, weil diese ein päpstliches Recht zur Entscheidung gehabt hätten, sondern weil sie wegen ihrer Nähe zu Jesus selbst, eine Hilfe geben könnten. So ging es nicht darum, Recht zu behalten, sondern das Evangelium dem Willen Jesu gemäß zu sagen. Die Beratungen finden unter Anhörung der streitenden Parteien statt, neben den Aposteln und den Leitern der Jerusalemer Gemeinde, scheinen auch viele Mitglieder der Gemeinde anwesend zu sein. Sowohl die Rede des Petrus, wie auch die des Jakobus machen ganz klar, dass – obwohl es keine klare Anweisung Jesu zur Sache gibt – dem Evangelium und der Heiligen Schrift gemäß nach Gottes Willen gesucht wird.
Man spürt beim Lesen fast die Erleichterung, die davon ausgeht, dass am Ende der Auseinandersetzung eine klare Entscheidung steht: Beschneidung und folglich Unterordnung unter die Reinheitsgebote des Alten Testaments sind nicht vom Evangelium gefordert, aber die Rücksichtnahme auf die vielen Judenchristen und der Wille so die Einheit der Gemeinde zu wahren.
Es sollte uns alle auszeichnen, dass wir in der Lage sind, einen Fehler oder eine irrige Ansicht zu bekennen
Ich wünschte mir, es gäbe an den für uns wichtigen Fragen mehr solche Auseinandersetzungen.5 Dazu gehörte zuerst, dass jeder offen und ohne Angst von den Geschwistern gleich zerrissen zu werden, seine Sicht formulieren kann. Es ist nichts gewonnen, wenn wir aus Furcht mit klaren Aussagen hinter dem Berg halten. Dabei muss zugestanden werden, dass sich jeder von uns irren kann. Ein Streit muss die Möglichkeit bieten, dass man umkehren kann. Es gehört doch zum Wesen des Christseins, dass wir Buße tun, d.h. umkehren vom verkehrten Denken zurück auf den Weg Christi. Es kann nicht sein, dass in einem Streit die Alternative nur zwischen Recht haben und Gesicht verlieren zu bestehen scheint und man als Konsequenz alle Meinungen nebeneinander stehen lässt. Es sollte uns alle auszeichnen, dass wir in der Lage sind, einen Fehler oder eine irrige Ansicht zu bekennen.
Das wäre wirkliche Demut im Gegensatz scheinbarer Demut, die sich klarer Aussagen enthalten will.
Es gibt eine Empfindlichkeit, die man als Sünde bezeichnen muss
Statt dessen scheint die Vermeidung von Auseinandersetzung eine christliche Tugend. Dies ist verständlich, wenn man sieht wie oft Christen in einer Weise aufeinander losgehen, die sogar den Respekt vor dem Mitmenschen vermissen lässt. Da wird man des Streitens müde. Auf der anderen Seite gibt es aber auch eine so große Empfindlichkeit, dass es kaum gelingt in einer Frage zu ringen, ohne dass sich der Bruder im Glauben gleich persönlich angegriffen fühlt und verletzt reagiert. Wenn ich aber die Wahrheit nur noch so sagen soll, dass ich niemandem weh tue, dann kann ich sie gar nicht mehr sagen. Es gibt nämlich – unter den Christen besonders – derart empfindliche Leute, dass ich diese Empfindlichkeit als Sünde bezeichnen möchte. Diese Christen nehmen sich selber viel zu wichtig, wenn sie sich dauernd angegriffen fühlen und alles persönlich nehmen, statt zu erkennen, dass wir für die Wahrheit einstehen, die Christus selber ist und dass wir im Suchen und Streiten um die Wahrheit gemeinsam bei Christus ankommen werden. Ich befürchte, dass hier oft nicht die Liebe Christi Maßstab ist, sondern tatsächlich nur die Selbstliebe.
Wenn ich jemandem erst fünf Mal etwas Positives sagen soll, bis ich einmal etwas Kritisches sagen darf, dann hat das mit Liebe Christi nichts zu tun, sondern mit christlicher Selbstverliebtheit. Wenn wir wirklich so handeln, dann manipulieren wir die Menschen und verkaufen die Wahrheit. Trotzdem sollte bei jeder Auseinandersetzung deutlich gemacht werden, dass wir die Gemeinschaft mit den Brüdern erhalten wollen. Wenn Geschwister öffentlich Falsches lehren und ich dürfte nur unter vier Augen mit ihnen darüber reden, dann ist das nicht christliche Liebe, sondern christliche Heuchelei, die um den eigenen Ruf mehr besorgt ist, als um die Ehre Gottes. Dass ich allerdings zuerst persönlich reden soll, ist Jesu Weisung und ein guter Schutz vor unnötig harter oder verurteilender Rede.
Auseinandersetzungen müssen aber sein, wo Gottes Wort gepredigt wird. Sie vermeiden zu wollen, hieße sich gegen Gottes Wort zu stellen. Dies sah auch Luther in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus:
„In Summa, Du behandelst diese Sache so, als ob es zwischen Dir und mir um das Risiko einer wieder zu beschaffenden Geldsumme gehe oder um irgendeine andere Sache von ganz geringer Bedeutung, durch deren Verlust (da sie ja so viel weniger wert ist als der äußere Friede) sich niemand so bewegen lassen dürfe, dass er nicht nachgebe und handle, wie es die Umstände gestatten, und dass es nicht notwendig sei, deswegen die Welt so in Unruhe zu versetzen. Ganz offensichtlich gibst Du also zu verstehen, dass Dir jener Friede und die Ruhe des Reiches weit wichtiger scheint als der Glaube, als das Gewissen, als die Seligkeit, als das Wort Gottes, als die Ehre Christi, als Gott selbst. Deshalb sage ich Dir und bitte Dich, Dir das ganz fest ins Herz zu schreiben, dass es mir in dieser Frage um eine ernsthafte, notwendige und ewige Sache geht, so groß und so wichtig, dass sie auch unter Dahingabe des Lebens behauptet und verteidigt werden muss, und wenn die ganze Welt darob nicht nur in Unfriede und Aufruhr versetzt, sondern auch ganz in ein einziges Chaos zusammengestürzt und vernichtet werden sollte. Und wenn Du das nicht begreifst und wenn das auf Dich keinen Eindruck macht, so kümmere Dich um Deine Sachen und lass jene es begreifen und anrühren, denen Gott es gegeben hat. […]
Diesen Aufruhr beschwichtigen zu wollen, bedeutet also nichts anderes, als das Wort Gottes beseitigen und verbieten. Denn das Wort Gottes kommt, um die Welt zu wandeln und zu erneuern sooft es kommt. […] Und wenn ich nicht diese Unruhen sähe, würde ich sagen, das Wort Gottes sei nicht in der Welt.“ (WA 18,625-626)
Wenn es also um Gottes Wort geht, müssen wir mit Auseinandersetzungen rechnen und sollten sie nicht scheuen
Wenn es also um Gottes Wort geht, müssen wir mit Auseinandersetzungen rechnen und sollten sie nicht scheuen. Sie sind ein gesundes Zeichen, weil Gottes Wort immer Scheidung hervorruft, weil es unsere Gedanken unter den Gehorsam Christi gefangen führen will. Es gibt also Auseinandersetzungen in uns selber, unter den Christen und nach außen. Wer bibeltreu sein will, darf also die Auseinandersetzung genauso wenig scheuen wie klare Aussagen und das Eingeständnis eines eigenen Irrtums.
2.1.2 Gründe für Indifferenz
Es gibt sicher verschiedene Gründe für Indifferenz, ich will aber nur auf die näher eingehen, die die Bibeltreue betreffen. So ist einer der Gründe sicher, dass es dem Denken unserer Zeit entspricht, in Fragen des Glaubens eine indifferente Haltung einzunehmen. Als Kinder unserer Zeit sind wir davon auch betroffen. Das gleiche gilt von der grundsätzlichen Annahme, dass es verschiedene Wahrheiten gebe, vielleicht so viele Wahrheiten wie es Menschen gibt und dass alle Sichten eine prinzipiell gleiche Berechtigung haben. Dies macht es schwer mit einem Menschen über eine Wahrheitsfrage zu sprechen, ohne dass er sich persönlich angegriffen fühlt. Dann möchte man sich nicht abgrenzen, sondern immer die Gemeinsamkeiten statt die Unterschiede betonen. Zwar bestehen die unterschiedlichen Meinungen weiter, aber man will eine Zeit lang darauf verzichten, sie auszusprechen, vielleicht um ein Ziel zu erreichen oder den anderen zu gewinnen. Wenn eine solche Strategie überhaupt eine Berechtigung hat, dann muss ihre Grenze umso klarer benannt werden. Dass oft nach der Anzahl der Gemeinsamkeiten geurteilt wird, statt sie in ihrer Bedeutung zu gewichten, ist Ausdruck und weiterer Grund von wachsender Indifferenz. Es könnte tausend Gemeinsamkeiten geben, aber ein entscheidender Punkt des Glaubens kann uns doch voneinander trennen.
Dass viele Lehrer der evangelikalen Bewegung zugleich mit der Führung von Institutionen befasst sind, scheint mir einen Beitrag zu leisten. Die Leitung eines Werkes kann ohne Kompromisse nicht geschehen. Dies wird allerdings leicht verwechselt mit der Lehre der Bibel. Dass Jesus Ehescheidung prinzipiell ablehnt, ist eindeutig. Dass es in fast jeder Gemeinde und Werk geschiedene Christen gibt ebenso. Der Leiter eines Werkes, der einen christlichen Umgang mit Geschiedenen verantworten will, wird eventuell geneigt sein, seine Kompromissentscheidung im Sinne eines „seelsorgerlichen Umgangs“ auch in die biblische Lehre hineinzutragen.
Wenn Predigten an ihrem Unterhaltungswert gemessen werden und nicht an ihrem Lehrinhalt, dann ist das Ergebnis wachsende Unklarheit bei den Zuhörern
Entscheidender ist aber wohl eine ungesunde Theologievergessenheit auf der Ebene der Gemeinde. Hier herrscht oft die Botschaft, Theologie sei nicht so wichtig, Leben ginge vor Lehre, der Verstand regiere uns schon viel zu stark. Wem die Lehre der Gemeinde wichtig ist, dem wird gelegentlich tote Rechtgläubigkeit vorgeworfen. Wenn Predigten an ihrem Unterhaltungswert oder an ihrer praktischen Umsetzbarkeit gemessen werden und nicht an ihrem Lehrinhalt, dann ist das Ergebnis fast zwangsläufig wachsende Unklarheit in Bezug auf Lehre bei den Zuhörern.
Auch Oberflächlichkeit im Umgang mit der Bibel ist Ursache von Indifferenz. Wenn Bibelstellen als Beleg für alle möglichen und unmöglichen Dinge herangezogen werden, dann entsteht der Eindruck von Beliebigkeit im Umgang mit der Bibel. Ist es wirklich sinnvoll, alles, was wir tun, mit Bibelstellen zu belegen, auch wenn diese wirklich nichts dazu aussagen? Ich wünsche mir manchmal, jemand würde einfach tun, was er für richtig hält, aber nicht eine Bibelstelle dazu bemühen, die beweisen soll, dass das, was er tut, biblisch sei. Diese Praxis muss auf Dauer den Eindruck hinterlassen, mit der Bibel könne man alles begründen.
Diese Gründe treten aber hinter dem Verlust der Einheit und der Klarheit der Heiligen Schrift zurück. Immer häufiger begegnet mir in Diskussionen das Argument, dass dies oder jenes eben nur Paulus gesagt habe, Jesus aber nichts darüber gelehrt hat. Oder man spielt sogar Aussagen in einem einzigen Buch der Bibel gegeneinander aus, behauptet es liege ein Widerspruch vor und zieht daraus die Konsequenz, dass man es eben so oder so sehen kann.
Statt das Zueinander und die gegenseitige Interpretation der Verse zu betonen, heben sie sich schließlich gegenseitig auf. Oder eine Frage wird dadurch entschieden, dass man auf die Auslegungsgeschichte verweist. Weil diese uneinheitlich ist, scheint es keine klare Lehre in der Bibel zu geben und jeder kann in der Sache so handeln, wie er meint.
Es ist sicher berechtigt, etwa auf die Unterschiedlichkeit der Evangelien aufmerksam zu machen, dies darf aber nicht dazu führen, dass die Einheit der Schrift, die doch durch den einen Gott gegeben ist, im Angesicht der Vielstimmigkeit verloren geht. Es ist darum ein gesunder Ausdruck von Bibeltreue, dass man keine Widersprüche in der Schrift erwartet und davon ausgeht, dass hier die eine Stimme Gottes zu Gehör kommt. Der Umgang Jesu und der Apostel mit dem Alten Testament zeigt sehr deutlich, dass kein Gegensatz darin zu sehen ist, ob Mose oder David oder durch ihren Mund Gott spricht. Auch mit Widersprüchen ging Jesus sehr ermutigend um, ohne einen Gegensatz in der Schrift zuzulassen. Das zeigt sich zum Beispiel, als die Sadduzäer ihm eine Falle stellen, indem sie einen Widerspruch zwischen dem Gebot der Leviratsehe und der Hoffnung auf die Auferstehung sehen. Jesus antwortet ihnen auf zweierlei Weise, indem er Einblick gibt in sein Wissen über die Auferstehung, dass dann Ehen keine Rolle mehr spielen und indem er darauf verweist, dass der gleiche Gott, der die Leviratsehe geboten hat, der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs ist. Schließlich stopft Jesus den Pharisäern das Maul, indem er selbst auf einen Widerspruch in der Schrift aufmerksam macht. Wie kann der Christus Davids Sohn sein, wenn David ihn in Psalm 110 seinen Herrn nennt? Jesus wusste, dass es darauf eine Antwort gab und wir kennen die Antwort heute auch, den Pharisäern war es aber ein unlösbarer Widerspruch in der Bibel (Mt 22).
Es ist berechtigt, darauf aufmerksam zu machen, dass unsere Auslegung der Bibel immer nur unsere Auslegung ist, aber dies darf nicht dazu führen, dass eine Vielzahl widersprüchlicher Auslegungen nebeneinander stehen bleiben.
Vielmehr müssen widersprüchliche Auslegungen ein Ansporn sein, zu fragen, welche die richtige ist oder ob gar keine die Richtige ist. Es muss ein gesundes Ringen einsetzen. Wird ein Wahrheitspluralismus sanktioniert, dann geht unweigerlich auch das Vertrauen in die Einheit der Schrift verloren und dies kann nur Verunsicherung zur Folge haben.
In früheren Jahrgängen von „Bibel und Gemeinde“ wurden regelmäßig Fragen beantwortet, die Christen beim Bibellesen gekommen waren. Seit einigen Jahren wurden kaum noch Fragen gestellt.6 Ich kann mir nicht vorstellen, dass dies daran liegt, dass alle Fragen geklärt sind. Ich vermute, dass die scheinbaren Widersprüche und schwierigen Aussagen in der Bibel deswegen so wenig Bibellesern auffallen, weil sie nicht intensiv genug lesen und studieren. Anstelle konkreter Fragen hört man immer wieder pauschale Aussagen wie:
„Manche Texte der Bibel sind allerdings schwer oder nur ansatzweise zu verstehen. Mit dieser Spannung müssen wir leben …“ oder „Wir sollen festhalten, wenn uns die Bibel ein spannungsreiches oder auch widerspruchsvolles Gesicht zeigt“. Man kann diesen Aussagen nicht widersprechen, wenn sie auf einzelne Stellen bezogen sind. Doch frage ich mich, was es bedeutet, wenn konkrete Fragen und die Suche nach Antworten gegenüber pauschalen Urteilen weniger werden. Diese bergen die große Gefahr in sich, dass das Vertrauen in die Klarheit der Schrift über einige unklare Stellen verloren geht. Ich sehe aber keine Möglichkeit, Bibeltreue ohne dieses Vertrauen zu leben. Denn das Vertrauen in die Klarheit der Schrift beinhaltet, dass ich von der Überzeugung getragen bin, dass die „dunklen“ Stellen keine Überraschungen bergen, dass sie nicht die gesunde Lehre in Frage stellen, sondern wenn sie aufgeklärt würden nichts anderes sagten, als es die Bibel an anderer Stelle klar tut. Bibeltreue ohne dieses Vertrauen erscheint mir unvorstellbar.
Luther hat Erasmus wegen solcher Aussagen schwer getadelt. Es gebe keine Sache oder Lehre in der Bibel, die widersprüchlich oder verworren sei. Es gebe wohl „viele Stellen in der Schrift, die dunkel und verworren sind, nicht um der Hoheit der Dinge, sondern um unserer Unkenntnis der Worte und der Grammatik willen, die aber nicht die Erkenntnis aller Dinge in der Schrift verhindern können“ (WA 18,606). Eine klare Schriftstelle werfe dann ihr Licht auf eine dunkle. Dieser Umstand berechtige aber nicht, die Heilige Schrift für dunkel zu erklären:
„Aber dass in der Schrift etwas verworren sei und nicht alles klar verständlich, das ist zwar durch die gottlosen Sophisten verbreitet, mit deren Mund auch Du hier redest, Erasmus. Jedoch haben sie niemals einen einzigen Artikel angeführt noch anführen können, mit welchem sie diesen ihren Unsinn beweisen konnten. Durch solche Schreckgespenster hat der Satan vom Lesen der heiligen Schrift abschrecken wollen und die heilige Schrift verächtlich gemacht, damit er seine aus der Philosophie hergenommene Pestilenz in der Kirche zur Herrschaft brächte.“ (WA 18,606)
Die tatsächliche Kenntnis der Bibel hat abgenommen und wurde durch oberflächliche Urteile und Unsicherheit ersetzt
Sicher, es wird in der evangelikalen Bewegung soviel Bibel gelesen, wie sonst nirgendwo. Trotzdem lässt sich der Eindruck nicht erwehren, dass die tatsächliche Kenntnis der Bibel abgenommen hat und durch oberflächliche Urteile und Unsicherheit ersetzt wurde. Ich sehe allerdings erste ermutigende Anzeichen für eine Trendwende, etwa in der Zunahme der Bibelschüler und in Begegnungen mit jungen Christen, die ein Interesse am intensiven Bibellesen und Bibelstudium zeigen.
2.2 Hardlinertum und Bibeltreue
Klare Positionen und Aussagen gehören untrennbar zu Bibeltreue, Hardlinertum aber nicht. Man kann nicht nur von zwei Seiten vom Pferd fallen, sondern gleich von vier. Darum muss auch klar gesagt werden, dass es einen Missbrauch der Bibel darstellt, wenn wir gute Positionen und die Wahrheit des Wortes Gottes zum Kampf gegen Geschwister benutzen. Die Heilige Schrift darf uns nicht als Munition dienen, um andere zu beschießen. Dies ist deswegen nicht nur eine Frage des Umgangs miteinander, sondern auch der Bibeltreue, weil Gottes Absicht zu retten, das Zentrum der Bibel darstellt. Jede Warnung und Mahnung und auch das Gesetz dient Gott durch Christus dazu, Menschen zum Glauben und zur Umkehr zu rufen. Darum hatte Jona nicht das Recht dazu, die Vernichtung der Einwohner Ninives ihrer Umkehr vorzuziehen, noch hat irgend ein Christ das Recht, sogar die ernsteste Botschaft Gottes als Gericht zu verkündigen. Hardlinertum liegt sicher noch nicht dann vor, wenn einer im Eifer des Gefechtes über das Ziel hinausschießt, die Worte einmal zu hart sind und das Verhalten lieblos, sondern wenn dies zum Programm wird, mit dem man Gottes Wort benutzt.
2.2.1 Mit der Bibel zum Richter werden
Jesus hat uns in der Bergpredigt grundsätzlich verboten, uns zum Richter aufzuschwingen. Er selbst sagt, er sei nicht als Richter, sondern als Retter gekommen. Deswegen kann uns auch die Bibel, in der er der Mittelpunkt, das Evangelium selber ist, nicht dazu dienen, zu verurteilen. Wir dürfen warnen, zur Umkehr rufen, ermahnen, aber eben nicht verurteilen. Auch hier kann uns der Umgang Luthers mit Erasmus ein gutes Beispiel geben. So hart Luther auch argumentiert, er hält Erasmus alles zugute, was nur möglich erscheint. Vielleicht hat dieser die Sache noch nicht gründlich genug bedacht, oder sich zu sehr von der Papstpartei drängen lassen. Luther unterscheidet und hält Erasmus zugute, dass er in seinem Herzen anders denken könnte, als es seine Worte vermuten lassen. Er könnte sich in seinen Worten einfach verrannt haben und so weiter.
Geschieht Ermahnung im christlichen Sinne, müsste man sich gemeinsam unter dem Kreuz treffen
Man muss sich selber immer wieder die Frage stellen, ob es beim Ruf zur Umkehr wirklich um die Umkehr geht und das Zurechthelfen. Dann wird man doch alles unternehmen, um dieses Ziel zu erreichen. Geschieht Ermahnung im christlichen Sinne, müsste man sich gemeinsam unter dem Kreuz treffen.
Ermahnung will zur Umkehr zu Christus bringen, will Vergebung und nicht Verurteilung.
Nun mag man sich leicht von dem Vorwurf zu richten freisprechen, aber es gibt doch viele Variationen dieses Themas. Da werden Vorwürfe formuliert und in Umlauf gesetzt. Dann richtet man wohl nicht selbst, sondern lässt es andere für sich machen. Oder man übernimmt Gerüchte von anderen und trägt sie weiter. Allzu oft schmecken Auseinandersetzungen danach, dass jeder Recht behalten will, Bibeltreue ist aber davon geprägt, lieber selber unrecht zu haben, als den Willen Gottes zu verfehlen.
Ich meine deswegen auch, dass alle Fernverurteilungen zu unterbleiben haben. Wenn ich dem anderen nicht nahe genug bin, um ihm zurecht zu helfen, dann bin ich ihm nur fern genug ihn zu verurteilen. Dass heißt nicht, dass wir uns nicht mit einer öffentlich geäußerten Meinung auseinandersetzen sollen, auch wenn wir mit der Person, die diese Meinung vertritt nicht selbst sprechen können. Dies wäre eine unsinnige Forderung, auch wenn sie gelegentlich erhoben wird. Aber die Auseinandersetzung mit der Meinung hat doch ständig zu beachten, dass sie die Person nicht unnötig angreift. An dieser Stelle gibt es viele Grenzüberschreitungen, die uns nicht dazu führen dürfen zu schweigen, sondern unsere Position umso klarer zu formulieren und Unterstellungen und persönliche Verunglimpfungen zu unterlassen.
Nur so kann unter uns wieder ein Klima entstehen, in dem man Auseinandersetzungen um Jesu willen führt, aber doch Raum zur Umkehr bleibt, denn das ist grundsätzlich das Ziel Gottes mit seinem Wort.
2.2.2 Kein Raum zur Umkehr
Wenn Meinungen oder Auslegungen zu Gottes Wort nicht mehr ausgesprochen werden können, nur weil sie von einem bestimmten gängigen Verständnis abweichen, dann ist eine unnötige Enge entstanden. Wir sollten einander nicht gleich der Irrlehre verdächtigen, wenn uns ein Gedanke ungewöhnlich erscheint. Er darf geprüft werden, bedacht und kann immer noch verworfen werden, wenn er sich als falsch erweist. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass bei der Prüfung der Prophetien in der Korinthergemeinde auch einige verworfen wurden. Es scheint nicht so, als ob die Geschwister damit ihr Gesicht verlieren oder gar als Irrlehrer gelten. Es erschwert aber jede Umkehr zusätzlich, wenn man versucht Lager und Parteien zu bilden. Auseinandersetzungen sollen derart vereinfacht werden, dass man für oder gegen etwas oder jemanden sein kann. Dann kann man feststellen, wer zu welcher Fraktion gehört. Solche Lager zu bilden und gar einen Fraktionszwang für zukünftige Abstimmungen abzuleiten, widerspricht der Heiligen Schrift.
Wenn also Gottes Wort wirklich unser Maßstab ist, dann müssen wir auch unsere eigenen Worte immer unter dem Vorbehalt sehen, dass wir durch Gottes Wort und mit Hilfe der Geschwister eines Irrtums oder einer Sünde überführt werden können. Bibeltreue kann unmöglich damit in eins gesetzt werden, dass der Bibeltreue nie etwas Falsches denken, sagen oder schreiben kann. Das ganze Gegenteil ist der Fall: Zur Bibeltreue gehört untrennbar der Vorbehalt, dass man durch Gottes Wort überzeugt werden kann. Die Wahrheit der Bibel hinterfragen wir nicht, aber die Wahrheit jeder Glaubensaussage kann hinterfragt werden. Und weil sie prinzipiell in Frage stehen kann, darum kann ihre Wahrheit auch belegt werden. Dieser Vorbehalt darf also nicht benutzt werden, um eine Glaubensaussage abzuschwächen, wie es oft geschieht.
2.2.3. Wahrheit ohne Liebe
Wenn uns Gottes Wort wirklich so wichtig ist, dann dürfen wir es nicht mit Rechthaberei und Lieblosigkeit verdunkeln
Es ist eine traurige Tatsache, dass Hardliner, von denen, über die sie reden, nicht gehört werden. Aber diese Tatsache wird in der Bibel vorausgesagt.
Paulus sah, dass alles Reden ohne Liebe doch nicht mehr ist als das Klingeln einer Schelle. Es entsteht ein Geräusch, aber es kommt nicht die Botschaft zu Gehör. Wenn uns Gottes Wort wirklich so wichtig ist, dann dürfen wir es nicht mit Rechthaberei und Lieblosigkeit verdunkeln. Wir sind es der herrlichen Botschaft schuldig, dass wir sie so klar und liebevoll sagen, wie es uns immer möglich ist. Wir sollen die Wahrheit in Liebe festhalten (Eph 4,15: „Lasst uns aber die Wahrheit reden in Liebe und in allem hinwachsen zu ihm, der das Haupt ist, Christus“.) Das ist gesagt im Zusammenhang des Wachsens der Gemeinschaft zu Christus hin. Das meint nicht den geringsten Kompromiss in der Wahrheit selbst, denn damit würden wir Christus in ein falsches Licht stellen und die Gemeinde würde vom Wind einer Lehre hin- und hergetrieben. Aber weil wir wollen, dass das Evangelium gehört wird, Menschen sich zu Christus wenden und der Leib wächst, muss das Evangelium in Liebe gesagt werden.
Auch die Unklarheit der Kommunikationssituation trägt zur Lieblosigkeit bei. Redet man über die Geschwister, die man kritisiert oder spricht man zu ihnen? Hier entsteht leicht eine Gemengelage, die dann so aussieht, dass eine Hilfsabsicht vorgetäuscht ist, aber man tatsächlich nur sein eigenes Lager mit kritischen Argumenten gegen andere bedient. Oder will man anderen Christen helfen, nicht auf falsche Lehren hereinzufallen? Dann entsteht die Frage, ob sie wirklich in Gefahr sind oder ob so nicht doch das Urteil über andere im Vordergrund steht. Auch wird gelegentlich vor Endpunkten einer Entwicklung gewarnt, deren Anfang man irgendwo sieht. Dies ist aber eine Form von Prophetie und unterliegt erst noch der Prüfung und wartet auf die Bestätigung. Da werden leicht Anklagen formuliert, die erst berechtigt sind, wenn die Entwicklung wirklich dort endet, wo es angenommen wird. Man verwechselt in seiner Kritik den erwarteten Ausgang mit den gegenwärtigen Tatsachen. Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand deswegen angegriffen wird, weil er mit einem Katholiken gesprochen hat, nur weil man die Gefahr wittert, dieses Gespräch könne zur Aufgabe von Glaubensüberzeugungen führen.
Vielleicht kann es hier helfen, sich zu vergegenwärtigen, was Paulus im 2. Korintherbrief sagt:
„Wir sind ja nicht wie die vielen, die mit dem Wort Gottes Geschäfte machen; sondern wie man aus Lauterkeit und aus Gott reden muss, so reden wir vor Gott in Christus.“
Paulus redet nicht nur in Wahrheit und ohne falsche Absicht aus Gott, er redet auch vor Gott in Christus. Ich stelle mir das so vor, dass er sich vergegenwärtigt, dass er im Angesicht Gottes redet. Gott selbst ist sein erster Zuhörer. Wenn wir doch gerade bei kritischen Äußerungen zuerst vor dem Angesicht Gottes reden würden, mit einem Schrecken darüber, dass Gott Richter ist und nicht wir, mit einem Zittern darüber, dass Gott Licht ist und er keine Zweideutigkeiten duldet, mit einem heiligen Erstaunen, dass Gott in Gemeinschaft mit uns Christen lebt und wir ihn angreifen, wenn wir seine Kinder ungerechtfertigt angreifen.
Wenn Unentschiedenheit und Lieblosigkeit zum Programm werden, ist das Feld der Bibeltreue verlassen
Tatsächlich steht sowohl bei der programmatischen Indifferenz als auch beim Hardlinertum die Bibeltreue auf dem Spiel. Das ist aber nicht schon der Fall, wenn man in einer Frage einmal unentschieden ist oder schon lieblos und zu hart gegen seine christlichen Geschwister geredet hat. Dann gäbe es gar keine Bibeltreue. Es geht darum, dass Unentschiedenheit und Lieblosigkeit zum Programm werden. Dann ist das Feld der Bibeltreue verlassen.7
Martin Luther, Vom unfreien Willen (1525), WA 18,601; deutsche Übersetzung aus Luther-Werke, Bd. 3, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht. S. 153. ↩
Wolfhard Pannenberg macht in seiner Dogmatik sehr eindrücklich darauf aufmerksam, dass die Haltung der Reformatoren in der Schriftfrage zwangsläufig zu Aussagen über die Zuverlässigkeit und Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift führen mussten, „wenn man vollen Ernst machen wollte mit Luthers Anschauung, dass die Schrift das Prinzip der Theologie sei, aus welchem alle Aussagen der Theologie herzuleiten sind“. Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen: V&R, 1988, S. 42. Darum distanziert sich Pannenberg auch von der Schrifthaltung der Reformatoren, statt zu versuchen Gegensätze zu vereinen. ↩
Eine kleine Übersicht findet sich bei Thomas Schirrmacher, Irrtumslosigkeit der Schrift oder Hermeneutik der Demut?, Nürnberg: VTR, 2001, S. 25-26. ↩
Dies war etwa die Haltung von Adolf Schlatter, der unter der Überschrift „Die Unfehlbarkeit der Schrift“ anmerkt: „Denn nicht das ist Gottes Herrlichkeit, daß er vor uns den Beweis führt, daß er ein fehlloses Buch verfassen kann, sondern das, daß er Menschen so mit sich verbindet, daß sie als Menschen sein Wort sagen. […] Unfehlbarkeit ist ein Merkmal Gottes; sie ist aber nur das Merkmal Gottes und überträgt sich nicht auf die Menschen, die in Gottes Dienst stehen. Nicht die Schrift, sondern der die Schrift gebende und durch sie uns berufende Gott ist unfehlbar. […] Demgemäß gibt auch uns die Schrift Unfehlbarkeit nicht so, daß sie uns ein unbegrenztes Wissen gäbe, wohl aber dadurch, daß sie uns in die Verbundenheit mit Gott setzt, der Licht ohne Finsternis ist und uns auf der geraden Straße zu Gottes sicherem Ziel führt. Darin besteht die Fehllosigkeit der Bibel, daß sie uns zu Gott beruft. Das tut sie jedoch nicht bloß durch richtige Vorstellungen, als wäre die Berichtigung unserer Gedanken einzig oder zuerst unser Bedürfnis und die Gabe der Bibel, sondern das Erste, was sie will und tut, ist, daß sie den Kampf mit unserem Willen führt, damit er sich Gott ergebe“. Das christliche Dogma , 2. Aufl. Stuttgart: Calwer, 1923. S. 375-376. [Hervorh. T.J.] Dass hier ständig überflüssige Gegensätze aufgebaut werden, zeichnet diese Argumentation aus und lässt sich auch heute vielfach beobachten. Statt klare Aussagen zu machen, will man Extreme vermeiden. ↩
Insofern ist die gegenwärtige Auseinandersetzung in der Konferenz bibeltreuer Ausbildungsstätten mit Heinzpeter Hempelmann in der Schriftfrage zu begrüßen. Es ist ermutigend, dass sie auch im Ton und in der Sachlichkeit christlichen Maßstäben entspricht. ↩
Aufgrund dieses Artikels wurde die Frage und Antwort Rubrik in Bibel und Gemeinde wieder eingeführt. Leser senden seitdem wieder regelmäßig Fragen ein, die dann beantwortet werden. Hier finden Sie einige Antworten https://bibelbund.de/themen/bibelstudien/frage-antwort/ ↩
Was B. Rothen mit Blick auf Luthers Diskussion mit Erasmus für die theologische Arbeit formuliert, lässt sich auf unsere Diskussion leicht anwenden: „Wissenschaftlich ist eine theologische Arbeit so gesehen nicht dann, wenn sie auf Parteilichkeit verzichtet oder wenn sie umgekehrt engagiert Partei ergreift, sondern dann, wenn sie ihren Gegenstand derart scharf und klar herauszustellen vermag, dass alle bloßen Beteuerungen sich erübrigen. Damit dies aber gelingt, müssen wohl Sachlichkeit und Zurückhaltung wie auch Leidenschaft und Kampfeslust jeweils vom Gegenstand selber erzwungen und herausgefordert werden“. Die Klarheit der Schrift, Bd.1, Göttingen: V&R, 1990, S. 33. ↩