Eine Beschäftigung mit dem Montanismus ist deshalb so interessant, weil es sich bei ihm um gedankliche Vorläufer von Bewegungen handelt, zu denen wir heute in unmittelbarer Beziehung stehen. Ähnlichkeiten zum Adventismus und zur Pfingstbewegung drängen sich. Wir werden später sehen, ob und inwieweit solche Bezüge gerechtfertigt sind.
Die Quellenlage
Die Quellenlage über Montanus und seine Bewegung ist sehr dürftig. Außer wenigen seiner Sprüche und einigen Sprüchen der beiden ihn begleitenden Prophetinnen gibt es keine originalen Aussagen oder montanistisches Schrifttum mehr. Was wir über Montanus und seine Bewegung wissen, stammt fast ausschließlich aus den Erwiderungen seiner Gegner, die allerdings sehr zahlreich waren. Trotzdem lässt sich ein ziemlich verlässliches Bild dieses Mannes und dieser Bewegung zeichnen.
Der Gründer und die Anfänge der montanistischen Bewegung
Der Gründer
Das genaue Entstehungsdatum des Montanismus ist umstritten. Entweder wird das Jahr 156 n. Chr. genannt oder das Jahr 172, was von vielen für wahrscheinlicher gehalten wird.
Fest steht dagegen, dass die Bewegung eine klar zu bezeichnende Gründerperson hat, nämlich Montanus. Er stammte aus Phrygien, einer wichtigen Provinz Kleinasiens, und wohnte in einem Dorf namens Ardabau. In Kleinasien hatte das Christentum sehr früh Fuß gefasst. Es gab große Gemeinden, die aus Heidenchristen bestanden, aber auch einen großen Anteil von Judenchristen enthielten.
Montanus stammte aus dem Heidentum und war zunächst Priester im heidnischen Kybelekult. Er kam dann zum christlichen Glauben und entwickelte seine Sonderlehren schon unmittelbar nach seiner Bekehrung. Von seinen Gegnern wird Montanus deshalb als eine Person beschrieben, die im Glauben unerfahren war, sich schlecht unterordnen konnte und ein maßloses Verlangen hatte, eine führende Rolle in der Gemeinde zu spielen. Deshalb begann Montanus auch bald, die Gemeinde zu kritisieren und sich durch seine Prophetien zu profilieren. Er entwickelte sich schnell zum Leiter einer eigenen Bewegung, die bald Züge einer eigenständigen Kirche annahm.
Das Prophetentum des Montanus
Der Ausgangspunkt der montanistischen Lehre war der Prophetismus. In der Gemeinde des 1. und 2. Jahrhunderts spielte die Gabe der Prophetie eine wichtige Rolle. Paulus spricht von ihr als von einer Geistesgabe, die Christus der Gemeinde gegeben hat. Apostel, Evangelisten, Hirten, Lehrer und auch Propheten werden in Eph 4 als wichtige Funktionen in der Gemeinde genannt. Die Apostelgeschichte berichtet auch von besonderen prophetisch begabten Personen, so von Philippus und seinen prophezeienden Töchtern (Apg 21,9). Die Prophetie spielte auch in der Kirche des zweiten Jahrhunderts eine große Rolle. Besonders im Bereich Phrygiens gab es wohl eine lebendige Tradition prophetischer Gaben, die Montanus auf alle Fälle kennengelernt haben wird.
Wie weit verbreitet und wie selbstverständlich die prophetische Gabe war, erkennen wir an den Anweisungen der Didaché aus der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts. Sie gibt Unterscheidungsmerkmal für echte und falsche Prophetie. Daraus wird allerdings auch ersichtlich, dass es neben dem Gebrauch auch einen Missbrauch gab, und das schon vor Montanus. Trotz der Möglichkeit falscher Propheten und falscher Prophetie wurde das prophetische Reden als solches nicht grundsätzlich verworfen, sondern in den Gemeinden gepflegt. Sicherlich aber kann gesagt werden, dass in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts die Prophetie eine immer geringere Rolle in den Gemeinden spielte. Montanus hatte das Prophetentum aber immerhin in der Gemeinde kennengelernt und behauptete nun, selbst ein Prophet zu sein. Die Offenbarung Gottes durch die Apostel betrachtete er nicht als abgeschlossen. Er war der Ansicht, dass mit ihm „die neue Prophetie“ – so eine Selbstbezeichnung des Montanismus – einsetzen und die „alte Prophetie“ damit erneuert und fortgesetzt werden würde. Er erlebte Verzückungen und erhielt in diesem Zustand vermeintliche Offenbarungen des Geistes, mit denen er sich in der Gemeinde hervortat.
Montanus erlebte Verzückungen und erhielt in diesem Zustand vermeintliche Offenbarungen, mit denen er sich in der Gemeinde hervortat
Von der Form her kennzeichnend war, dass die Prophetien des Montanus meist mit Ekstase verbunden waren – ein Phänomen, das die gemeindliche Prophetie in dieser massiven Weise nicht kannte, das aber aus dem Heidentum durchaus bekannt war. Montanus selbst empfand sich als völlig passiv. Er soll gesagt haben:
„Siehe, der Mensch ist wie eine Lyra, und ich fliege herbei wie der Schlägel; der Mensch schläft, und ich wache. Siehe, der Herr ist es, der die Herzen der Menschen in Ekstase bringt und gibt den Menschen ein anderes Herz.“
Außerdem erhielt Montanus seine Prophetien immer in der Ich-Form, so dass eine unmittelbare Identität zwischen Gott und dem Propheten hergestellt war. „Ich bin Gott, der Allmächtige, der Mensch geworden ist; nicht bin ich Engel, nicht Bote, sondern ich bin gekommen als Herr“, ist einer dieser prophetischen Aussprüche. Auf seine Zuhörer musste diese Form der Geistoffenbarung sehr eindrücklich gewirkt haben.
Montanus verstand sich als der letzte große Prophet vor der Wiederkunft Christi
Inhaltlich verstand sich Montanus als der letzte große Prophet vor der Wiederkunft Christi. Er behauptete, der von Christus in Joh 14,16-18 verheißene Paraklet zu sein, der die Gemeinde tröstet und in alle Wahrheit führt. In diesem Sinne ist Montanus als ein typischer Endzeitprophet zu verstehen, wie nach ihm noch Hunderte folgen sollten.
Sehr schnell schlossen sich Montanus zwei Frauen an, die ihn ständig begleiteten und ebenfalls als Prophetinnen tätig wurden. Es waren dies Maximilla und Priscilla. Dass Frauen ebenfalls die prophetische Gabe besitzen konnten, war in der damaligen Kirche kein Diskussionspunkt. Die Art und Weise ihres Auftretens und die verkündigten Inhalte stellten das eigentliche Problem dar. Montanus und seine beiden Prophetinnen bestätigten sich in ihren Offenbarungen gegenseitig und erweckten damit um so mehr den Eindruck eines tatsächlichen Redens Gottes. Bei manchen überlieferten prophetischen Aussprüchen ist deshalb nicht eindeutig festzustellen, von welcher der drei Personen sie stammt. Beide Frauen sollen übrigens ihre Familien verlassen haben, als sie in die Gefolgschaft des Montanus eintraten.
Die starke Betonung des Heiligen Geistes und der Gabe der Prophetie muss sicherlich auch als ein Protest gegen sich verfestigende Formen des gemeindlichen Lebens verstanden werden. Die Einschätzung, als sei die Kirche in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts eine starre und unflexible Amtskirche geworden, in der das Laienelement keinen Platz mehr gehabt hätte, ist in dieser Weise sicherlich falsch. Aber das Wachstum der Gemeinden und die sich daraus ergebende stärkere Strukturierung des Gemeindelebens drängten die anfängliche Spontaneität doch stark zurück. Viele sahen diese Entwicklung mit Besorgnis und Bedauern. Das zentrale Anliegen des Montanus war allerdings nicht ekklesiologisch (gemeindlich) auf eine vom Geist gewirkte Aufweichung verfestigter Strukturen ausgerichtet, sondern eschatologisch (endzeitlich) auf die Wiederkunft Christi.
Die Eschatologie des Montanus
Alle Prophetien des Montanus und seiner beiden Weggefährtinnen haben ein zentrales Thema: Die Wiederkunft Jesu steht unmittelbar bevor. Die Gemeinde muss sich deshalb sammeln und durch ein striktes Heiligungsleben nach montanistischen Wertvorstellungen auf die Begegnung mit ihrem Herrn einstellen.
Tatsächlich war in vielen Gemeinden die lebendige Naherwartung verblasst. Sie war nicht vergessen oder verdrängt. Aber sie hatte an der Lebendigkeit verloren, die die ersten beiden Generationen der Gemeinde Jesu noch ausgezeichnet hatte. Schon im zweiten Petrusbrief spricht der Apostel diese Problematik an und ermutigt die Gemeinde, die Naherwartung nicht fallen zu lassen und sie mit einem intensiven Heiligungsleben zu begleiten (2Petr 3,1-14). Gegen Mitte des 2. Jahrhunderts war die Erwartung der Wiederkunft zwar nicht vergessen, aber im Blick auf die inzwischen verstrichene Zeit und die gegenwärtigen Aufgaben der Gemeinde in den Hintergrund getreten. Das Grundanliegen des Montanus war in diesem Sinne durchaus verständlich, aber in seiner Ausformung maßlos und sektiererisch.
Montanus begann mit ersten Berechnungen der Wiederkunft Jesu und erwartete diese in Pepuza (Phrygien)
Die baldige Wiederkunft Jesu war nun also das Zentralthema der montanistischen Prophetie. Priscilla prophezeite:
„Christus kam zu mir in Gestalt einer Frau und in leuchtendem Gewande und legte in mich seine Weisheit. Er offenbarte mir, dass dieser Ort heilig sei und hier das himmlische Jerusalem kommen werden.“
Mit „diesem Ort“ war das Dorf Pepuza in Phrygien gemeint, wo sich Montanus und seine Prophetinnen aufhielten. Die Verlegung der Wiederkunft Christi von Jerusalem nach Pepuza lässt sich damit erklären, dass in Phrygien ein ausgesprochener Patriotismus herrschte, dem offensichtlich auch Montanus verfallen war. Montanus begann zudem mit ersten Berechnungen der Wiederkunft Jesu. Die spätere eigenartige Berechnung des Osterdatums hatte denselben Hintergrund, nämlich das Datum des Herabkommens des himmlischen Jerusalems zu bestimmen. Die Botschaft der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi und des damit anbrechenden Tausendjährigen Reiches verbreitete sich schnell und fand allerorten Gehör. Tatsächlich sammelten sich viele Gläubige, die der montanistischen Lehre verfallen waren, in diesem Dorf Pepuza und erwarteten die unmittelbare Wiederkunft Jesu.
Die montanistische Endzeit-Ethik
Im Blick auf die baldige Wiederkunft Jesu entwickelte der Montanus eine rigoristische Ethik, mit der er die Brautgemeinde auf die Vollendung vorbereiten wollte. Zu den fundamentalen Überzeugungen dieser Ethik gehörten:
Das Fasten Es war dazu gedacht, den Anbruch des Tausendjährigen Reiches zu beschleunigen, so wie Hanna in Erwartung der Erlösung Israels Tag und Nacht fastete (Lk 2,37f.). Nach jüdischer Praxis fastete ein Gläubiger am Montag und Donnerstag jeder Woche. Er verzichtete dabei darauf, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang feste Speise zu sich zu nehmen. Die christliche Gemeinde hatte diese Fastenpraxis weitgehend übernommen, fastete aber am Mittwoch und Freitag. Montanus übernahm diese christliche Fastenpraxis und verschärfte sie zusätzlich, indem Christen 14 Tage im Jahr nur Trockenkost essen durften und sich an allen anderen Fastentagen grundsätzlich von Fleisch, saftigen Früchten, Wein und auch vom Baden enthalten mussten.
Das Martyrium Da das Christentum bis zum Jahr 313 der Verfolgung der Römer ausgesetzt war, kam es immer wieder vor, dass Christen das Martyrium erleiden mussten. Montanus verbot streng, einem eventuellen Martyrium auszuweichen, ja es gab sogar Tendenzen, es bewusst zu suchen. Das Martyrium galt als Vollendung der Nachfolge Jesu.
Die Auflösung der Ehe
Als Paraklet der Gemeinde maß Montanus sich eine höhere Offenbarungsstufe bei, als sie das Neue Testament selbst inne hatte
Angesichts der baldigen Wiederkunft Jesu verlor die Ehe als göttliche Einrichtung in den Augen der Montanisten ihre Bedeutung. Sie hinderte im Gegenteil die Gläubigen, sich ganz auf das Kommende einzustellen. Deshalb forderte Montanus die Auflösung bestehender Ehen und die Ehelosigkeit für die Mitglieder seiner Glaubensgemeinschaft. Die beiden Prophetinnen Priscilla und Maximilla waren mit gutem Beispiel vorausgegangen und hatten ihre Familien verlassen und ihre Ehen geschieden. Montanus war sich bewusst, dass er mit seiner Forderung über die Aussagen der Heiligen Schrift und Jesu hinausging. Aber er meinte, dass angesichts der anbrechenden Endzeit solche außergewöhnlichen Forderungen gerechtfertigt seien. Als letzter Prophet der Endzeit und als Paraklet der Gemeinde maß er sich außerdem eine höhere Offenbarungsstufe bei, als sie das Neue Testament selbst inne hatte. Das Gebot der Ehelosigkeit wurde später auch auf die zweite Heirat Verwitweter ausgeweitet.
Diese rigoristische Endzeit-Ethik der Montanisten sollte ein Kennzeichen aller wahrhaft Gläubigen sein, die sich auf das bald erscheinende Himmlische Jerusalem vorbereiteten. So sehr diese Ethik auch über das Neue Testament hinausgeht, so sehr wurde sie aber dennoch von denen begierig aufgenommen, die zu einem rigorosen Lebensstil neigten und/oder unter manchen Lauheiten in der Kirche litten. Dieser an sich erfreuliche Tatbestand erschwerte die kirchliche Polemik allerdings, weil sie sich argumentativ auf die entscheidenden Punkte des Prophetismus und der Wiederkunftserwartung konzentrieren musste.
Über die oben genannten Punkte hinaus zeigte sich der Montanismus aber als orthodox. Er entwickelte keine anderweitigen Sonderlehren, die beispielsweise die Person Jesu oder sein Werk betroffen hätten.
Die montanistische Kirche
In der montanistischen Kirche konnten auch Frauen als Bischöfe oder Ältestinnen tätig sein
Weil Montanus sehr schnell eine große Anhängerschaft um sich scharen konnte, die zu einer großen Spendenfreudigkeit ermutigt wurde, entstand bald eine eigenständige montanistische Kirche. Zunächst hatten die Montanisten als „Kirche in der Kirche“ gelebt. Bald schon bauten sie aber Parallelstrukturen zur offiziellen Kirche auf. Als sie schließlich als Irrlehrer aus der offiziellen Kirche ausgeschlossen wurden, errichteten sie endgültig eine eigenständige Kirche. In späterer Zeit, etwa im 4. Jahrhundert, gab es dann schon eine eigene Priesterschaft, eine hierarchische Leitungsstruktur mit Bischöfen, Presbytern, Diakonen und sogar einem Patriarchen. Auch Frauen konnten als Bischöfe oder Ältestinnen tätig sein. Die Gottesdienste hatten oft schwärmerische Züge. Die Predigten waren meist feurige Bußaufrufe, die die Gemeinde auf die Endzeit vorbereiten sollten. Frauen in weißen Kleidern und Fackeln in der Hand symbolisierten die Reinheit der Gemeinde und das Warten auf das Erscheinen des Himmlischen Jerusalems.
Die Ausweitung der montanistischen Bewegung
Erstaunlich ist, dass der Montanismus von Anfang an eine sehr schnelle Verbreitung fand. Offensichtlich ließen sich viele Christen von den vermeintlichen Prophetien des Montanus und seiner Prophetinnen überzeugen. Auf viele wirkten die Ernsthaftigkeit des Glaubens, die strenge Ethik und die Erneuerung der Wiederkunftshoffnung bei Montanus faszinierend.
Phrygien blieb das geographische Zentrum der Bewegung. Deshalb wurden die Montanisten oft auch nur „die Phrygier“ oder „die Kataphrygische Sekte“ genannt. Auch der Ort Pepuza verlor seine Bedeutung für die Montanisten nie. Aber die Lehren verbreiteten sich auch nach Rom und Südfrankreich. Besonders starken Widerhall fanden sie in Nordafrika, wo der Kirchenvater Tertullian begeisterter Anhänger der Montanisten wurde. Er kämpfte gegen die Laxheit der Gemeinde und trat deshalb zum Montanismus über. Erst kurz vor seinem Tod kehrte er wieder zur offiziellen Kirche zurück.
Erstaunlich ist, dass der Montanismus auch die ausbleibende Wiederkunft Jesu überlebte. Über den Tod des Montanus und der Prophetin Priscilla wissen wir nichts. Aber sicher ist, dass Maximilla im Jahr 179 als letzte der drei Gründerpersönlichkeiten starb. Sie hatte prophezeit: „Nach mir wird es keine Prophetie mehr geben, das Ende wird kommen.“ Dieses Ende trat zwar nicht ein, aber der Bewegung schadete das nicht. Sie entwickelte sich weiter und entfaltete mehr und mehr kirchliche Strukturen. Ab dem Jahr 230 spielte sie in der frühen Christenheit aber keine große Rolle mehr und stellte für die Kirche auch keine Gefahr mehr dar. Dass es zu dieser Entwicklung kam, hängt mit dem entschiedenen Widerstand der Kirche gegen den Montanismus zusammen.
Der Kampf gegen die Montanisten
Die Kirche durchschaute den wahren Charakter des Montanus und seiner endzeitlichen Auffassungen sehr schnell. Man erkannte, dass diese Bewegung zu einer Spaltung der Christenheit führen musste. Eine wahre Gemeinde, die sich auf die Wiederkunft hin heiligt, distanziert sich von der allgemeinen Kirche der vermeintlich Lauen und Unentschlossenen. Anhand der neutestamentlichen Schriften wurde die Sonderethik des Montanismus als nicht schriftgemäß erkannt.
Schwerer tat man sich mit der Beurteilung der Prophetie. In der Argumentation der Kirche konnte man nicht behaupten, dass es gar keine Prophetie gibt. Prophetische Rede war durchaus auch zu diesem Zeitpunkt in der Gemeinde noch bekannt. Aber die ausgebliebene Wiederkunft Jesu konnte als Beweis herangeführt werden, dass Montanus und seine Prophetinnen falsche Propheten gewesen waren.
Die erste überregionale Synode koordinierte die Kirchenzucht gegen die montanistischen Anhänger
Der Versuch, Priscilla und Maximilla zu exorzieren, scheiterte an deren mangelnder Bereitschaft zu diesem Unternehmen. Schließlich blieb nur das Mittel der Gemeindezucht und des Kirchenausschlusses. Um diesem eine breitere Wirksamkeit zu geben, hatten sich die Gemeindeleiter des phrygischen Raums zum ersten Mal zu einer überregionalen Synode zusammengefunden. Sie stimmten ihre Reaktionen ab und koordinierten die Kirchenzucht gegen montanistische Anhänger. Dieses Zusammentreffen war übrigens die erste historisch belegte kirchliche Synode der frühen Christenheit. Aufgrund ihres Erfolges gegen die Montanisten und aufgrund ihrer Zweckmäßigkeit wurden von dort an überregionale Treffen üblich.
Durch Schriften und Predigten gewann die offizielle Kirche auf Dauer die Oberhand über den Montanismus. Ab der Wende zum dritten Jahrhundert war die montanistische Gefahr weitgehend gebannt und die Mitglieder dieser Bewegung aus der Gemeinde ausgeschieden. Trotzdem hatte der Montanismus indirekte bleibende Auswirkungen auf die damalige Kirche:
Die Gabe der Prophetie kam in Misskredit. Weniger eine festgefügte Amtskirche hatte die prophetischen Gaben zurückgedrängt, sondern die aus dem montanistischen Missbrauch entstandene Skepsis gegenüber Geistoffenbarungen war dafür verantwortlich.
Dienst der Frau abgewertet. Durch das Negativbeispiel der dominanten Frauenpersönlichkeiten Priscillas und Maximillas wurde der Dienst der Frau in der Gemeinde grundsätzlich kritischer bewertet. Hinzu kamen noch andere Faktoren, so dass der Dienst der Frau in der Gemeinde ab dem dritten Jahrhundert mehr und mehr an den Rand gedrängt wurde. Das Witwenamt (Viduat) wurde abgeschafft, und Frauen durften nicht mehr als Diakoninnen tätig sein.
Entwicklung hierarchicher Strukturen. Zur wirksamen Bekämpfung des Montanismus hatten sich erstmals regionale Synoden gebildet. Diese Einrichtung zeigte sich zur Bekämpfung der Irrlehre als sehr wirksam und war in diesem Sinne nur zu begrüßen. Ungewollt förderte sie aber auch die Entwicklung hierarchischer Strukturen und half einer entstehenden Amtskirche, überregionale Autoritäten zu etablieren.
Der Montanismus und seine Bezüge zu uns
Wenn wir nach den Bezügen des Montanismus zu Erscheinungen christlichen Lebens heute fragen, stellen wir damit natürlich eine schwer zu beantwortende Frage. Jede Bewegung hat eine geschichtliche Einmaligkeit, die sich in dieser Form nicht wiederholt. Und jede Bewegung hat einen geschichtlichen Kontext, der mit einem späteren nicht wirklich verglichen werden kann. Es ist deshalb historisch nicht zulässig, im Montanismus einfach die heutige Pfingstbewegung oder andere Glaubensrichtungen wiederfinden zu wollen.
Es gibt keine direkt nachweisbaren Linien zu heutigen Bewegungen, aber strukturelle Ähnlichkeiten
Wenn man dennoch nach Beziehungen sucht, dann sind es im Falle des Montanismus sicherlich keine direkten kausalen. Die Bewegung ging spätestens im 6. Jahrhundert endgültig unter. Es gibt keine direkten nachweisbaren Linien zu heutigen Bewegungen. Es handelt sich vielmehr um strukturelle Ähnlichkeiten oder Analogien, aber nicht um direkte Abhängigkeiten.
Bei der Suche nach Verbindungen zu heutigen Bewegungen müssen wir bei den beiden inhaltlichen Schwerpunkten des Montanismus ansetzen: der unmittelbaren Wiederkunftserwartung und dem Prophetismus. Diese beiden Kerngedanken finden sich heute am ehesten in der Bewegung des Adventismus und der Pfingstbewegung wieder.
Bezüge zum Adventismus
Die adventistische Bewegung entstand in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts in Amerika. Unter dem Eindruck der Erweckungsbewegungen entstand bei vielen Christen der Eindruck, die Wiederkunft Jesu stünde unmittelbar bevor. William Miller errechnete diese für den 22. Oktober 1844. Tausende von Christen, die zum großen Teil Hab und Gut verkauft hatten, sammelten sich in den riesigen Zeltlagern (camp meetings) und warteten auf die Wiederkunft ihres Herrn. Unter dem Eindruck der riesigen Enttäuschung spaltete sich die Bewegung in viele unterschiedliche Zweige und Richtungen. Neben der Adventistischen Kirche haben auch die Zeugen Jehovas ihren Ursprung in den übersteigerten Endzeiterwartungen des letzten Jahrhunderts.
Im Blick auf eine ungesunde Wiederkunftserwartung erteilt uns der Montanismus eine mehrfache Lehre:
- Eine lebendige Wiederkunftserwartung darf nicht übersteigert werden.
- Eine Berechnung der Wiederkunft Jesu geht am biblischen Auftrag vorbei und führt in die Enttäuschung oder gelegentlich auch in die Katastrophe.
- Eine übersteigerte Wiederkunftserwartung kann in die Isolation treiben und zum Ausstieg aus dem allgemeinen kirchlichen Leben und aus der Gesellschaft führen.
- Es besteht die Gefahr eines Elitedenkens, dem die Gruppe verfällt, die sich in der alleinigen Erkenntnis der vermeintlichen baldigen Wiederkunft Jesu vermutet.
- Eine lebendige Wiederkunftserwartung soll durchaus in einen heiligen Lebenswandel münden, sie darf aber zu keiner über die Schrift hinausgehenden Endzeit-Ethik gesteigert werden.
Bezüge zur Pfingstbewegung
Der Montanismus ist eigentlich keine pfingstliche, sondern eher eine prophetische Bewegung. Es fehlen die wesentlichen Lehren, die die traditionelle Pfingsttheologie entwickelt hat:
- die Geistestaufe als zweite Segnung nach der Bekehrung
- die Sprachengabe als Beweis der empfangenen Geistestaufe
- Außerdem entwickelte der Montanismus Lehren, die für die Pfingstbewegung atypisch sind:
- der Rigorismus in der Ethik
- das Eheverbot
- Eine inhaltliche Verbindung zur Pfingstbewegung besteht allerdings in folgender Hinsicht:
- der Sehnsucht nach besonderer Geisterfahrung und Glaubenstiefe
- der Überbetonung des Geistes gegenüber dem Vater und dem Sohn
- der Erwartung geistlicher Aufbrüche vor der Wiederkunft Jesu
- der Betonung der prophetischen Gabe
- der Betonung besonderer geistlicher Praktiken wie das Fasten, wobei Fastenübungen durchaus nicht auf die Pfingstkirchen beschränkt bleiben.
Mit Sicherheit aber dürfen wir aus der Tatsache, dass der Montanismus in seiner Maßlosigkeit weit über das Ziel hinausgeschossen ist, nicht den Schluss ziehen, dass die Pfingstbewegung heute demselben Urteil verfallen muss wie der Montanismus. Der Montanismus zeigt, wohin Maßlosigkeit und das Überschreiten der Heiligen Schrift führen. Dies muss der Gemeinde Jesu als bleibende Warnung dienen.