ThemenKritik der Bibelkritik

Bibeltreue: Vorausgesetzt und umgesetzt

Bibeltreue will nicht nur bekannt, sondern auch gelebt werden. Nur wo ein klares Bekenntnis zur Bibel sich mit gelebter Bibeltreue verbindet, darf man sich auch wirklich „bibeltreu“ nennen.

Der Bibelbund entstand im Jahre 1894 zur Verteidigung der göttlichen Autorität der ganzen Bibel und eines jeden Teiles der Bibel in all ihren Aussagen (vollumfängliche und verbale Inspiration). 1994 gab der Bibelbund eine Schrift heraus unter dem Titel: „Der Kampf um die Bibel. 100 Jahre Bibelbund“

Wir stehen mitten in diesem Kampf um die Bibel. Das Thema der diesjährigen Bibelbundtagung betrifft genau diesen Kampf.

Es geht bei diesem Kampf um die Autorität der Bibel und alle damit zusammenhängenden Fragen.:

  1. Wer ist der Urheber der Bibel? Hier geht es um den göttlichen Ursprung der Schrift.
  2. Wie entstand die Bibel? Hier geht es um die Inspiration der Schrift.
  3. Wie glaubwürdig ist die Bibel? Hier geht es um die Frage der Irrtumslosigkeit der Schrift.

Alle diese Fragen sind von verschiedenen Gelehrten, Theologen, Philosophen und Christen verschieden beantwortet worden. Wie beantworten wir diese Fragen? Wir setzen voraus:

  1. Gott ist der Urheber der Bibel.
  2. Gott gab den Schreibern der biblischen Bücher das Geschriebene ein.
  3. Die Heilige Schrift ist darum Gottes Wort. Sie ist Gottes Offenbarung. Sie ist wie Gott heilig, fehlerlos, absolut vertrauenswürdig. Darum besitzt sie göttliche Autorität.

Damit ist die Bibeltreue vorausgesetzt. Das ist das Fundament. Aus unseren Überzeugungen zur Autorität der Bibel müssen sich deutliche Konsequenzen im Leben ergeben, und zwar gilt das für

  1. unser persönliches Glaubensleben
  2. unser Leben in der örtlichen Gemeinde
  3. unseren Beitrag zum Missionsbefehl

Diese drei Bereiche werden unausweichlich von unserer Bibelhaltung geprägt sein. Aber erst, wenn unsere Bibelhaltung in diesen drei Bereichen sichtbar wird, können wir von uns sagen, dass wir „bibeltreu“ sind. Die Bibeltreue will umgesetzt sein.

1 Wir können Gott nur erkennen, wenn Er sich offenbart

Offenbart sich Gott, muss Er sich erkennbar offenbaren. Das tut Er durch die Schöpfung, durch die Geschichte, durch die Vorsehung und durch das Gewissen. Aber zudem muss Gott sich unfehlbar und irrtumslos offenbaren. Das tut Er durch die Heilige Schrift.

Es ist in sich widersprüchlich, von einer begrenzt glaubwürdigen Offenbarung zu reden

Es ist in sich ganz widersprüchlich, von einer begrenzt glaubwürdigen Offenbarung zu reden; von einer Offenbarung mit Irrtümern. Warum ist das widersprüchlich? Wenn wir Offenbarung nötig haben, dann doch nur deshalb, weil wir aus uns und mit unseren Fähigkeiten Gott nicht unfehlbar erkennen können; seinen Heilswillen nicht verstehen können. Wir brauchen Offenbarung, weil wir in dieser Sache Unmündige sind.

Beginne ich nun die geschriebene Offenbarung Gottes kritisch zu hinterfragen, sage ich damit, dass ich auf Offenbarung nicht angewiesen bin. Mein Verstand, mein kritisches Vermögen, ist tüchtig genug, mir zuverlässiges Wissen und gesicherte Erkenntnis zu vermitteln.

Einer göttlichen Offenbarung kann ich mich nur bedingungslos beugen

Einer göttlichen Offenbarung kann ich mich nur bedingungslos beugen. Beginne ich sie zu bewerten und zu sichten, habe ich mich über sie gestellt und mich damit auch über den Urheber der Offenbarung gestellt und so jede Notwendigkeit von Offenbarung und auch die Offenbarung selbst geleugnet.

2 Gott hat sich durch das geschriebene Wort geoffenbart

Gott redet zu uns nicht durch Träume; nicht durch unmittelbare Inspiration, sondern durch das Wort, das einzelne Männer, die inspiriert waren, für alle nachfolgenden Zeiten aufgeschrieben haben. Das gibt diesem geschriebenen Wort ein außerordentliches Gewicht. Siehe: 1Mo 1,1; 5Mo 1,1; Joh 1,1; Offb 19,13. Es bedeutet, dass die heilige Schrift Alten und Neuen Testaments die Offenbarung Gottes ist, die wir besitzen. Natürlich hat Gott sich auch auf andere Weise geoffenbart – in der Schöpfung, in der Geschichte, in der Vorsehung und im Gewissen eines jeden einzelnen Menschen. Diese Offenbarungen sind aber zu unbestimmt; sie sind offen für zu viele Deutungen. Darum hat Gott sich verbindlich, klar, unmissverständlich offenbaren wollen.

Der Herr selbst nennt sich das Alpha und das Omega, zwei Buchstaben des griechischen Alphabets. Damit deutet Er an, wie eng Seine Offenbarung mit der Schrift verbunden ist. Das geschriebene Wort Gottes ist das Wort Gottes.

Hieraus ergibt sich die Gewissheit von der Verbalinspiration der Bibel. Hieraus ergibt sich die Gewissheit von der Irrtumslosigkeit der Bibel.

Ein Seitenblick auf die Dogmengeschichte:

a) Das Inspirationsverständnis der Kirchenväter

„In den ersten Jahrhunderten der Kirche wurde viel und heftig über verschiedene Lehrmeinungen gestritten. Ein Thema wurde dabei allerdings nie berührt: die Autorität und Inspiration der Heiligen Schrift. Bei aller Meinungsverschiedenheit und theologischen Gegnerschaft war man sich darüber einig, dass die Bibel Gottes Wort ist und deshalb göttliche Autorität besitzt. Was die Bibel lehrte, war zum Teil umstritten, nicht jedoch, was sie war: nämlich die gewisse und verbindliche Offenbarung Gottes. Aus diesem Grund wurde die Lehre von der Heiligen Schrift in den frühen Bekenntnissen auch nicht beschrieben und definiert.“1

Nehmen wir als eine Stimme, die für die vielen spricht, Aurelius Augustin:

„An der Irrtumslosigkeit der Schrift zu zweifeln wäre Sünde“.2

b) Das Inspirationsverständnis der Reformatoren

Es deckt sich mit dem der Kirchenväter.

„Die fast durchweg unprogrammatischen und sicherlich nicht systematischen Äußerungen Luthers zum Wesen der Heiligen Schrift lassen keinen Zweifel daran, dass er eine strenge Schriftauffassung voraussetzt und vertritt: Die Heilige Schrift ist Gottes Wort und ist als solches irrtumslos, klar, verbindlich und wirksam“.3

„Gott stellt allen Menschen ohne Ausnahme die Umrisse seines Wesens in der Schöpfung vor Augen. Aber es bedarf eines anderen und besseren Mittels, das uns zuverlässig zum Schöpfer der Welt weise … Die Schrift bringt unser sonst so verworrenes Wissen um Gott in die richtige Ordnung, zerstreut das Dunkel und zeigt uns deutlich den wahren Gott. Das ist gewisslich ein einzigartiges Geschenk Gottes: Er braucht zur Unterweisung seiner Kirche nicht bloß stumme Lehrmeister (die Schöpfungswerke, B.P.), sondern öffnet selbst seinen heiligen Mund.“4

„Wir glauben und bekennen, dass die kanonischen Schriften das wahre Wort Gottes sind, und dass sie aus sich selbst heraus Kraft und Grund genug haben, ohne der Bestätigung durch Menschen zu bedürfen“.5

Die beiden Zitate von Calvin und Bullinger zeigen, dass den Reformatoren die Heilige Schrift Gottes Wort war, dass dieses Wort sich selbst beglaubigt und keiner menschlichen Beurteilung oder Bestätigung unterstehen kann. Damit ist die göttliche Inspiration und die Autorität der Bibel unmissverständlich bezeugt.

„Das war ein Nein gegen die Entscheidungen der Konzile, das war ein Nein gegen den Primat des Papstes, das war ein Nein gegen den freien Willen des Menschen, der da meint, aus sich heraus, durch seine Vernunft oder seine Gefühle Maßstäbe über die Bibel setzen zu können, um Gott zu erkennen.“6

c) Das Inspirationsverständnis seit der Aufklärung

Der Ursprung der Bibelkritik findet sich in den geistesgeschichtlichen und philosophischen Vorgaben des Humanismus, des Deismus und der Aufklärung

Der Ursprung der Bibelkritik findet sich nicht in diesem oder jenem Theologen, sondern in den geistesgeschichtlichen und philosophischen Vorgaben des Humanismus, des Deismus und der Aufklärung, das heißt also des Rationalismus. Es genügt, uns in Erinnerung zu rufen, was den Humanismus ausmacht. In ihm finden sich schon alle Anlagen zu den bis heute das europäische Denken bestimmenden Anschauungen:

  1. Anthropozentrismus: Der Mensch steht im Mittelpunkt des Denkens. An ihm wird das Denken gemessen; in seinem Interesse geschieht alles Denken. Cartesius sagt darum: Cogito, ergo sum. Das denkende Subjekt verdrängt und ersetzt das zu denkende Objekt.
  2. Rationalismus: Die menschliche Vernunft ist wichtiger als alle Tradition; die Vernunft muss die biblische Offenbarung beurteilen. Sie entscheidet, was gültig ist.
  3. Autonome Ethik.

Kant befindet, „dass die Bibel, gleich als ob sie eine göttliche Offenbarung wäre, aufbewahrt, moralisch benützt und der Religion als Leitmotiv unterlegt zu werden verdiene“.7

Man will durchaus noch Ethik; und man weiß auch, dass das menschliche Zusammenleben für alle verbindliche Maßstäbe braucht. Nur war man nicht mehr willens, diese als von Gott gesetzt und geoffenbart hinzunehmen. Die Ratio musste darüber befinden, was gut, was nützlich und was wahr sei.

Der bedeutendste wissenschaftliche Vertreter der theologischen Aufklärung, Johann Salomo Semler (1725-1791), griff die Identifizierung von Heiliger Schrift und göttlicher Offenbarung an, und zwar mit den Mitteln der historischen Kritik und der sittlichen Brauchbarkeit.8 Die wissenschaftliche Kritik wird so zur Richterin über Gottes Wort. Die Bibel in ihrem ganzen ist nicht mehr der von Gott gegebene Kanon; sondern man muss im Kanon einen „wahren Kanon“ suchen.

Diese Trennung zwischen göttlicher Offenbarung einerseits und der heiligen Schrift andererseits bleibt ein tragendes Merkmal des liberalen protestantischen Bibelverständnisses bis in unsere Tage, auch bei Emil Brunner und Karl Barth.

Mit dieser Auffassung hatte man das Bibelverständnis der Reformation aufgegeben: das reformatorische Sola Scriptura und damit auch das reformatorische Solus Christus.

d) Sola scriptura und solus Christus

Sola scriptura bedeutet:

  1. die Bibel ist ausschließlich;
  2. die Bibel genügt

Wenn die Bibel allein genügen soll, dann muss sie unfehlbar und irrtumslos sein. Wäre sie das nicht, könnte man sich nicht auf alles, was sie sagt, verlassen; und man könnte sich nicht ausschließlich auf sie verlassen.

Es gibt kein Solus Christus ohne Sola Scriptura, denn der einzige Christus, den wir kennen, ist der Christus der Schrift

Es gibt kein Solus Christus ohne Sola Scriptura, denn der einzige Christus, den wir kennen, ist der Christus der Schrift (Joh 5,39), so wie die alttestamentlichen Propheten Ihn weissagten (Joh 1,45; Röm 1,2), so wie die Augenzeugen, die der Herr dazu erwählt hatte, Ihn verkündigten (Heb 2,3; 13,7) durch das gepredigte und im Neuen Testament schriftlich fixierte Wort (1Petr 1,11.12).

3 Wir brauchen eine objektive Offenbarung der Wahrheit

Aus dem Anthropozentrismus der Aufklärung ergibt sich der Subjektivismus heutiger Theologie. Die meisten modernen Theologen sagen, Offenbarung sei „identisch mit einer nicht in Worte fassbaren Erfahrung, deren Inhalt und Bedeutung Sache persönlicher Überzeugung“.9

Wir sind auf eine verbindliche und für alle gleiche Offenbarung der Wahrheit angewiesen

Eine solche „Offenbarung“ ist wertlos. Sie hilft niemandem, mit dem Leben und seinen ungeheuren Herausforderungen fertig zu werden; sie hilft niemandem, Gott und seinen Willen zu erkennen. Wir sind auf eine verbindliche und für alle gleiche Offenbarung der Wahrheit angewiesen. Wir brauchen eine objektiv gegebene und darum allen zugängliche, zuverlässige Offenbarung.

Warum sprechen wir von der Notwendigkeit einer erstens objektiven und zweitens schriftlich festgehaltenen Offenbarung?

a) Erkenntnis Gottes fordert eine objektive Quelle der Erkenntnis.

Es geht durchaus nicht nur um das Erkennen des Erkennenden, sondern es geht mehr noch um den Gegenstand des Erkennens, es geht um den zu erkennenden Gott. Dieser ist wichtiger als das Erkennen und der Erkennende, denn Er war zuerst.

Objektiv wahre Aussagen in der Bibel sind der Gegenstand des Glaubens. Gottes objektiv tatsächliches Wirken in der Geschichte zur Erlösung der Menschen ist die Grundlage unserer Erlösung. Die objektiven Heilstatsachen sind der Grund des Heils. Dieses geschieht, wie die Reformatoren immer wieder betonten, „extra nos“. Das gleiche muss für das Wort Gottes, für die Offenbarung und für die Inspiration gelten.

Der Weltkirchenrat hat sich 1971 im Bericht von Louvain zur „Autorität der Bibel“ geäußert:

„Die Bibel wird … als eine Sammlung von menschlichen Dokumenten einer zeitlich weit zurückliegenden Epoche bezeichnet, die wie jedes andere literarische Dokument zu studieren und zu interpretieren ist … Die Autorität der Bibel ist keine von vornherein festgelegte … Die Bibel hat nur dann und deshalb Autorität, wenn und insofern sie durch ihr Zeugnis eine Kenntnis Gottes ermöglicht. Sie hat nur eine abgeleitete Autorität. Mit anderen Worten: Die Autorität der Bibel wird nur dann gegenwärtige Realität, wenn sie als Autorität erfahren wird … Inspiration als apriorische dogmatische Voraussetzung wird verworfen; das heißt, die biblische Autorität kann nicht von der Inspiration abgeleitet werden. Inspiration ist das Ergebnis jener Erfahrung, in welcher die Botschaft der Bibel sich selbst als maßgeblich erweist … Die Preisgabe der objektiven Offenbarung und der apriorischen Inspiration führt dazu, dass objektive Autorität ebenfalls verlorengeht. Der Mensch hat am Ende nur sich selbst und sein eigenes Reden und Erfahren“.10

b) Ohne eine objektive Offenbarung der Wahrheit kann es kein gemeinsames Glauben und damit auch keine Gemeinschaft der Glaubenden geben.

 

c) Ohne eine objektive Offenbarung kann es keine für alle verbindliche Dogmatik und Ethik geben.

 

4 Die Notwendigkeit der subjektiven Erleuchtung durch den Geist

Ich höre im geschriebenen Wort Gottes Stimme selbst. Und diese Stimme ist mächtig. Sie gibt Leben, Gewissheit und Trost.

Zur Notwendigkeit einer geschriebenen Offenbarung, d. h. einer objektiv geoffenbarten Wahrheit, bedarf es auch eines subjektiv erfahrbaren Wirkens des Geistes der Wahrheit. Das Wort Gottes und der Geist Gottes wirken zusammen, um uns Erkenntnis Gottes zu geben. Dieser Geist erleuchtete und leitete die biblischen Autoren, als sie die von Gott empfangene Offenbarung niederschrieben. Da es der gleiche Geist ist, der von Gott ausgeht, der im Autor wirkte und der in mir wohnt und mich erleuchtet, kann ich den Sinn und die Absicht des biblischen Autors und damit des letztendlichen Autors, Gottes, verstehen. Ich höre im geschriebenen Wort Gottes Stimme selbst. Und diese Stimme ist mächtig. Sie gibt Leben. Sie gibt Gewissheit und Trost.

„Dabei soll es also bleiben: Wer innerlich vom Heiligen Geist gelehrt ist, der verharrt fest bei der Schrift, und diese trägt ihre Beglaubigung in sich selbst. Daher ist es nicht angebracht, sie einer Beweisführung und Vernunftgründen zu unterwerfen. Die Gewissheit aber, die sie uns gewinnt, die erlangen wir durch das Zeugnis des Geistes. Gewiss verschafft sich die Schrift ganz von selbst durch ihre eigene Majestät Ehrfurcht, aber sie ergreift uns erst dann recht und ernstlich, wenn sie durch den Geist in unseren Herzen versiegelt ist.“11

Aus der Tatsache der göttlichen Inspiration der Schrift ergeben sich ihre Eigenschaften.

5 Sechs Eigenschaften der Heiligen Schrift

5.1  Die Schrift besitzt Autorität Jer 2,2

„So spricht der HERR“ ist die Formel, die Gottes Propheten vor ihre Aussprüche stellten. „Es steht geschrieben“ ist die Formel, die die Apostel gebrauchen, um eben damit auszudrücken, dass allein das geschriebene Wort in den Fragen des Heils, des Glaubens und des christlichen Wandels normativ ist.

Die Schrift besitzt normative Autorität und kausative Autorität – sie verursacht im Glaubenden Zustimmung und damit Gehorsam. So gewinnt Gottes Wort Autorität über das Leben des Einzelnen.

Auf diese Weise zeigt sich, wie das Bekenntnis sola scriptura nur sinnvoll ist, wenn wir in der Heiligen Schrift die einzige von Gott gegebene und für alle Zeiten und Menschen verbindliche Autorität anerkennen. Wir müssen uns als Christen beständig dieser Autorität stellen. Wir müssen bereit sein, uns von Gottes Wort überführen, zurechtweisen und unterweisen zu lassen (2Tim 3,16).

5.2  Die Schrift ist vollkommen und irrtumslos Ps 12,7

„Wir bekennen, dass die Schrift als Ganzes und in allen ihren Teilen, bis hin zu den einzelnen Wörtern der Originalhandschriften, von Gott inspiriert wurde. Wir verwerfen die Ansicht, dass die Inspiration der Schrift mit Recht auf ihr Ganzes, nicht aber auf ihre Teile, oder auf einige ihrer Teile, nicht aber auf ihr Ganzes bezogen werden könnte“.12

Sie ist so vollkommen wie Gott selbst. Denn sie ist Sein Wort. Darum liebe ich Sein Wort (Ps 119,97). Darum äußert sich meine Liebe zu Gott im Gehorsam gegenüber Seinem geschriebenen Wort (5Mo 6). Meine Gottesfurcht misst sich an meiner Ehrfurcht vor der Bibel, Gottes Wort. Lieben wir Gott nicht, ist alles was wir tun nichtig (1Kor 13,1-3). Fürchten wir Gott nicht, werden wir nie weise (Spr 1,7).

Nur wenn sie irrtumslos ist, kann die Heilige Schrift die Autorität besitzen, die wir unter 1. behauptet haben. Daher können wir am sola scriptura nur so lange festhalten, als wir an die Unfehlbarkeit der Schrift glauben.
Sieben Gründe für die Irrtumslosigkeit der Bibel

  1. Gottes Charakter verlangt die Irrtumslosigkeit Seines Wortes.
  2. Der Charakter des Menschen verlangt eine Irrtumslose und unfehlbare Offenbarung (Jer 17,9; Eph 4,18).
  3. Das Selbstzeugnis der Schrift fordert ihre Irrtumslosigkeit.
  4. Das Zeugnis des Herrn Jesus verlangt die Irrtumslosigkeit der Schrift.
  5. Wenn ein Fehler in der Bibel möglich ist, dann sind unzählige Fehler möglich.
  6. Nur eine irrtumslose Bibel kann verbindliche und alleinige Autorität in allen Fragen des Glaubens, des Heils und des christlichen Wandels haben.
  7. Der historische Glaube der christlichen Kirche bestätigt die Irrtumslosigkeit der Bibel.

Der Glaube an eine „eingeschränkte Irrtumslosigkeit“ ist unmöglich.

Manche Evangelikale wollen die Irrtumslosigkeit oder Zuverlässigkeit auf die Aussagen der Schrift beschränken, die das Heil und die Sittlichkeit betreffen

Manche Evangelikale meinen, die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift sei nicht mehr zu halten. Sie wollen die Irrtumslosigkeit oder Zuverlässigkeit auf die Aussagen der Schrift beschränken, die das Heil und die Sittlichkeit betreffen.

  1. Es gibt keinen objektiven Maßstab, nach dem wir entscheiden könnten, welche Teile der Bibel unfehlbar und welche fehlbar sind. Wir begäben uns in einen unendlichen Regress: Wir müssten „einen Kanon im Kanon“ finden. Dieser würde wieder in Frage gestellt, und dann müsste man „den Kanon im Kanon des Kanons“ finden …
  2. Es gibt keine Autorität, welche die Grenze bestimmt, wie weit wir gehen dürfen, wenn wir mögliche Irrtümer annehmen wollen. Wer sorgt dafür, dass „eingeschränkte Irrtumslosigkeit“ nicht zu uneingeschränkter Fehlerhaftigkeit wird?
  3. Da es keine außerhalb von uns liegende Autorität gibt, muss der Ausleger sich selbst zur Autorität machen, die über die Bibel befindet. Das ist das Ende jedes Glaubensgehorsams.

5.3  Die Schrift ist vollständig

Sie genügt. In ihr steht alles, was der Sünder wissen muss, um selig zu werden und gottselig zu leben.

Weil die Schrift vollständig ist, können wir mit den Reformatoren sagen sola scriptura. Und nur weil die Schrift vollständig ist, können wir die Bibel durch die Bibel auslegen: Scriptura sacra sui ipsius interpres.

Darum konnten die Apostel die Bibel zitieren, um das Evangelium zu erklären; mit der Bibel konnten sie die Identität Jesu, des Messias, belegen (Apg 17); mit der Bibel konnten sie die Lehre der Rechtfertigung durch den Glauben (Römerbrief) und der Erlösung durch das Opfer Jesu Christi (Hebr) erläutern und beglaubigen.

Die Bibel ist eine geschlossene Offenbarung; der Kanon ist nicht offen

Das bedeutet: Die Bibel ist eine geschlossene Offenbarung; der Kanon ist nicht offen. Gott hat immer wieder zu verstehen gegeben, dass kein Mensch etwas zu Seinen geoffenbarten Worten hinzutun oder von Seinen Worten wegnehmen darf. 5Mo 4,2; Spr 30,6. In Verbindung mit der Menschwerdung des Sohnes Gottes sollte Gottes Heil vollendet und Seine Offenbarung abgeschlossen werden: Heb 1,1; Kol 1,25; Jud 4; Offb 22,18.19.

Die Bibel ist vollständig. Sie sagt mir alles, was ich wissen muss, um selig zu werden und als Christ zu leben: 2Tim 3,15-17.

Wenn ich wissen will, wie ich als Christ mein Eheleben führen soll; wie ich mich als Staatsbürger oder als Angestellter verhalten soll; was die Gemeinde ist; wie die Gemeinde geführt wird; was Mission ist usw., dann muss ich die Bibel daraufhin befragen.

Die Bibel rüstet mich vollkommen aus für alle Herausforderungen, die auf mich persönlich und auf die Gemeinde des Herrn als Ganze zukommen (2Tim 3). Ich brauche keine Traditionen; ich brauche keine außerbiblischen Quellen der Belehrung; ich brauche auch keine besonderen Erfahrungen, Salbungen und Erleuchtungen, keine Handauflegungen und Ekstasen. Was ich brauche, ist die Schrift. Aber ich muss sie kennen; ich muss sie studieren; ich muss über sie nachdenken. Sie muss mir zur Nahrung und zum Licht, zum Stab und zur Waffe werden.

Darum sollte ich die ganze Bibel lesen, nicht nur besondere Abschnitte oder Lieblingsbücher, wie die Adventisten, bei denen man den Eindruck bekommt, die Bibel enthielte nur zwei Bücher, nämlich den Propheten Daniel und das Buch der Offenbarung; oder wie die Pfingstler und Charismatiker, die offenbar auch nur von zwei Büchern der Bibel wissen, von der Apostelgeschichte und dem 1. Korintherbrief.

Nein, wir brauchen die ganze Bibel mit all ihren Teilen. Wir brauchen die Lehren der Geschichte Israels; wir brauchen die Innigkeit der Psalmen, die Donnerkeile der Propheten; wir brauchen die Beschreibung des Lebens unseres Herrn Jesus, und wir brauchen die Abhandlungen des Apostels Paulus, ebenso wie die Rügen des Jakobus und die Ermunterungen und Ermahnungen des Johannes. Wenn wir täglich und fortlaufend in der Bibel lesen, werden wir nicht einseitig werden. Gottes Heiligkeit und Gottes Liebe, beide werden vor unseren Augen immer größer. Gottes Souveränität und die Verantwortung des Menschen, beide bekommen wachsendes Gewicht; Gemeindebau und Mission ebenso.

5.4  Die Schrift ist harmonisch und einheitlich

Sie bildet ein geschlossenes, übereinstimmendes Ganzes. Das muss so sein, da sie von einem Geist eingegeben ist. Alle ihre Schreiber wurden vom gleichen Geist gelehrt, erleuchtet, getragen und getrieben (2Petr 1,20). Das ist für die persönliche Bibellese äußerst wichtig. Es lehrt mich, Gottes Wort in all Seinen Aussagen zu vertrauen. Es lehrt mich zu glauben, dass Gott souverän zum Heil erwählt, und zwar ganz einfach, weil Gott es mir so sagt. Es lehrt mich auch zu glauben, dass jeder Mensch verantwortlich ist, Buße zu tun und an das Evangelium zu glauben. Auch das glaube ich, weil Gottes Wort es so deutlich sagt. Dass ich diese beiden Wahrheiten nicht logisch miteinander aussöhnen kann, beweist nicht, dass die Bibel widersprüchlich sei, dass sie verschiedene Theologien und Denkschulen enthalte; nein, das zeigt mir nur, dass ich in meinem Verstehen sehr begrenzt bin. Dass der Mangel bei mir ist, nicht bei Gott und Seinem Wort.

5.5  Die Schrift ist deutlich und klar Ps 119,105

Zu oft und zu leichtfertig drücken wir uns davor, ernsthaft um ein gründliches Verständnis von umstrittenen Lehren zu ringen

Weil sie ohne menschliche Vermittlung – durch die Kirche, durch Priester, durch Gelehrte – dem Glaubenden verstehbar ist, genügt die Schrift. Ohne die perspicuitas und claritas der Scriptura können wir am sola scriptura nicht festhalten. Und wäre die Schrift nicht deutlich und klar, hätten wir keine Antworten auf den Agnostizismus in all seinen Schattierungen, besonders auch den frommen (siehe Auseinandersetzung Luthers mit Erasmus über gerade diese Frage). Zu oft und zu leichtfertig drücken wir uns davor, ernsthaft um ein gründliches Verständnis von umstrittenen Lehren zu ringen. Es ist bequemer, die verschiedenen Ansichten über das Wesen und Werk des Heiligen Geistes „stehen zu lassen“ unter dem Verweis, all unser Erkennen sei nur Stückwerk. Das gleiche kann gesagt werden vom wachsenden Widerwillen vieler Christen und Gemeinden, auch über so fundamentale Lehren wie das Inspirationsverständnis der Bibel, die Rechtfertigung durch den Glauben etc. nachzudenken, um zu festen und biblisch begründeten Positionen zu kommen. Wir leben in einer Zeit, da man gegenüber „Lehre“ sehr nachlässig, teils sogar argwöhnisch geworden ist. Es heißt immer öfter: „Lehre trennt; Liebe eint.“ Das ist ein ganz dummes und, was schlimmer ist, ein ganz bibelfeindliches Schlagwort.

Für schwierigere Stellen (siehe 2Petr 3,16) gilt das unter 2. schon genannte Scriptura sacra sui ipsius interpres.

5.6  Die Schrift ist wirksam Heb 4,12

Sie ist wirksam, weil sie Gottes Wort ist (Heb 4,12). Sie führt aus, wozu Gott sie uns gesandt hat (Jes 55,11): Sie weckt Glauben (Röm 10,17), und sie wirkt fortwährend in dem, der sie im Glauben aufnimmt (1Thes 2,13). Sie überführt (Joh 16,8), sie bringt zurecht, sie befestigt und sie rüstet aus (2Tim 3,16-17). Das soll mich ermuntern. Gottes Wort wird nicht ohne Wirkung auf mich bleiben, wenn ich es glaubend lese. Gottes Wort wird nicht ohne Wirkung bleiben, wenn ich es im Glauben lehre und predige.

6 Die Tragweite unseres Problems

Die Bibel redet von den wichtigsten Dingen, die es überhaupt gibt, von den Problemen, die menschliches Denken beschäftigt haben, solange es Menschen gibt

Die Bibel redet von der Schöpfung, oder neutraler ausgedrückt: von der Herkunft und Entstehung des Universums. Sie redet von der Herkunft des Menschen, von seiner Eigenart und seiner Bestimmung. Sie redet von den wichtigsten Dingen, die es überhaupt gibt, von den Problemen, die menschliches Denken beschäftigt haben, solange es Menschen gibt. Da ist es nicht gleichgültig, ob dieses Buch glaubwürdig ist oder nicht. Da ist es nicht eine bloß akademische Frage, ob die 66 Bücher, aus der die ganze Sammlung besteht, die wir „Bibel“ nennen, von Gott inspiriert sind oder nicht. Unser ewiges Schicksal und unser gegenwärtiges Glück hängen daran, wie wir dieses Buch deuten, wie wir es lesen und aufnehmen.

Wenn die Bibel, das geschriebene Wort, identisch ist mit Gottes Wort, dann beweist sich an meiner Haltung zum Wort Gottes meine Haltung gegenüber Gott. Liebe ich Ihn, habe ich Ehrfurcht vor allem, was Er gesagt hat.

7 Die Preisgabe des Offenbarungsglaubens und die Endzeit

Der Mensch hat sich selbst zur Mitte gemacht, zum Richter über gut und böse. Er hat den Platz eingenommen, der allein Gott zusteht. Die prophetischen Aussagen des Herrn und Seiner Apostel lehren uns, dass genau das am Ende der Zeit geschehen wird. Die Religion des Antichristen ist die Anbetung des Menschen:

„Lasst euch von niemand auf irgend eine Weise verführen, denn dieser Tag kommt nicht, es sei denn, dass zuerst der Abfall komme und geoffenbart worden sei der Mensch der Sünde, der Sohn des Verderbens, welcher widersteht und sich selbst erhöht über alles, was Gott heißt oder ein Gegenstand der Verehrung ist, so dass er sich in den Tempel Gottes setzt und sich selbst darstellt, dass er Gott sei“ (2Thes 2,3-4).

„Und sie beteten den Drachen an, weil er dem Tiere die Gewalt gab, und sie beteten das Tier an und sagten: Wer ist dem Tiere gleich? Und wer vermag mit ihm zu kämpfen?“ (Offb 13,4).

Weil der Mensch und die Harmonie unter den Menschen die Hauptsache ist, muss dem Menschen übergeordnete, normative Wahrheit zurücktreten. Erst Bibelkritik macht die endzeitliche Religionsvermischung möglich:

„J. F. W. Jerusalem (1709-1789) führt in seinen ‚Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion‘ (1768) aus, dass man unter Offenbarung die Bestätigung des allen Religionen zugrunde liegenden Glaubens an einen Gott zu verstehen habe. Die ‚Offenbarung‘ ist relativ, weil sie keinen zureichenden Grund in sich selbst hat“13

Die heutige Religionswissenschaft, Anthropologie und Soziologie sieht alles Wissen nur noch als kultur- und gesellschaftsrelativ an. Dass es absolute und für alle verbindliche Wahrheiten geben sollte, ist von vornherein ausgeschlossen.

Die ganze Sittlichkeit der Moderne und der Postmoderne beruht auf Selbstgesetzgebung des menschlichen Willens

Nicht nur in den Fragen der Erkenntnis und des Erkennens, sondern auch in den Fragen der Ethik setzt der Mensch und der Mensch allein das Maß. Die ganze Sittlichkeit der Moderne und der Postmoderne beruht auf Selbstgesetzgebung des menschlichen Willens. Selbstverwirklichung muss sein, Selbstverleugnung kommt nicht mehr in Frage. Das hat auch auf die christliche Gemeinde abgefärbt. Sie ist je länger je weniger christozentrisch, sie stellt je länger je mehr den Christen in den Mittelpunkt. Das subjektive Erkennen, Empfinden und Ergehen des Christen ist ihm wichtiger geworden als die objektiven Wahrheiten und Wirklichkeiten des Heils, des Himmels und des Reiches Gottes. Damit wir als christliche Gemeinde ins Lot kommen, müssen wir zurück zur Schrift und damit zum Glaubensgehorsam. Um, so wir im Lot sind, nicht umgestoßen und weggerissen zu werden, müssen wir an der Inspiration und an der Autorität der Heiligen Schrift festhalten und uns dieser Autorität im täglichen Leben bedingungslos beugen. Dazu gebe Gott uns Gnade.


  1. Eckhard Schnabel: Inspiration und Offenbarung. Die Lehre vom Ursprung und Wesen der Bibel, Wuppertal 19972, S. 9. 

  2. Aurelius Augustin, Epist. 82,7,3. 

  3. Schnabel, S. 21. 

  4. Calvin, Institutio I, 6,1. 

  5. Heinrich Bullinger im Zweiten Helvetischen Bekenntnis von 1566 unter der Überschrift „Die Heilige Schrift, das wahre Wort Gottes“. 

  6. Georg Huntemann: Die verratene Reformation, Bremen 1983, S. 45. 

  7. Kant, Streit der Fakultäten, 1798, S. 111. 

  8. Schnabel S. 51. 

  9. Schnabel, S. 194. 

  10. Schnabel, S. 79. 

  11. Calvin, Institutio I, 7,5. 

  12. Chicago-Erklärung, Artikel VI. 

  13. Schnabel, S. 51.