„Setzrisse“ in der Gemeinde
Kaum merklich driftet die Gemeinde von Jesus in Deutschland auseinander. Auseinander? Man hört doch von fortschreitender Einheit. Das stimmt. Doch wer genauer hinschaut, der bemerkt, wie sich Belastungsrisse mehren. Es ist wie bei einem Haus, das sich „setzt“. Das Mauerwerk reagiert auf Belastung, wenn die Untergründe nicht ganz gleich sind oder wenn unterschiedliche Materialen aufeinander treffen. Dann zeigen sich „Setzrisse“. Bei einem neuen Haus ist das nicht einmal ungewöhnlich. Aber man muss etwas dagegen tun.
Das Bild des Hauses ist uns aus der Bibel vertraut. Aus Gottes Sicht gehören wir zusammen: als Gemeinde vor Ort und als Gemeinde des Herrn in unserem Land. Diese Zusammengehörigkeit mag dem einen mehr gefallen und dem anderen weniger. Aber sie ist eine von Gott bestimmte Tatsache, und zwar unabhängig davon, ob und wie sie sich sichtbar darstellt. Diese Zusammengehörigkeit bedingt Wechselwirkungen aufeinander. Wir können uns voreinander nicht aus der Affäre ziehen, im Guten nicht und auch nicht im Schlechten.
Mit den „Setzrissen“ ist es so: Wegschauen oder Überstreichen hilft nicht. Entscheidend ist, genau zu klären, worin das Problem liegt. Woher kommt die Belastung? Wie stark ist sie? Warum reagiert das Mauerwerk? Am Anfang jeder Problemlösung steht die sorgfältige Analyse.
Meine Analyse beginnt mit der Beobachtung, dass sich auch die Evangelikalen heute immer weniger an traditionellen Mustern orientieren. Früher waren die Unterschiede – wenn man so will – „klarer“: Es gab volkskirchliche und freikirchliche Evangelikale, es gab Anhänger der Kinder- und der Glaubenstaufe, es gab Gegner und Befürworter einer sogenannten „zweiten Erfahrung“, es gab pastoral und kollegial geprägte Gemeinden, es gab ein mehr oder weniger heilsgeschichtlich orientiertes Bibelverständnis, es gab liturgische und offenere Formen im Gottesdienst und so fort. Zwei Dinge wenigstens einten die Evangelikalen: die Überzeugung, dass ein echter Christ nur der ist, der eine persönliche Beziehung zu Jesus hat; und die Orientierung an der Bibel als Gottes Wort. Damit einher gingen natürlicherweise auch Abgrenzungen: gegenüber Kirchen, in denen ohne Glaube und Bekehrung eine lediglich formal behauptete „christliche“ Religiosität gelebt wird; gegenüber einer Theologie, die menschliche Vernunft über Gottes Offenbarung stellt; gegenüber einem Christentum, das sich rein individualistisch auf Erfahrungen gründet und sich damit einer schriftgemäßen, nüchternen Prüfung entzieht; gegenüber Formen vermeintlichen „Gottesdienstes“, die Menschliches, Manipulierendes oder Pragmatisches in den Vordergrund rücken.
Auch Evangelikale orientieren sich heute immer weniger an
traditionellen Mustern
Im „Zeitalter der Unübersichtlichkeit“ hat sich dies nachhaltig geändert. Vielleicht könnte man mit Mühe noch einen Konsens herstellen, wenn es um die beiden genannten positiven Merkmale des Evangelikalismus geht; wobei man dann aber nicht zu genau nachfragen darf, was unter „Beziehung zu Jesus“ und was unter „Bibel als Gottes Wort“ im Detail verstanden wird. Bei den benannten Abgrenzungen aber ist heute nichts mehr so, wie es noch vor zehn, bestenfalls fünfzehn Jahren war.
Es ist diese enorme Veränderung binnen kurzer Zeit, die sich alle Beteiligten deutlicher vor Augen führen sollten. Man sollte auch offener darüber sprechen. Die Behauptung etwa, die Bekenntnisgrundlage der Evangelischen Allianz sei in den letzten Jahren nicht um ein Jota verändert worden, ist zwar formal richtig, in der Sache aber überhaupt nicht weiterführend. Als Gegenthese formulieren viele: Die Allianz selbst hat sich so sehr verändert, dass jede Diskussion um eine Veränderung ihrer Bekenntnisgrundlage sie in eine Existenzkrise führen müsste.
Um noch einmal das Bild des „sich setzenden“ Hauses aufzugreifen: Woher kommt die Belastung? Sie kommt von einer Veränderungsdynamik, die uns unsere Umwelt auferlegt, die aber starke Kräfte unter den Evangelikalen auch bewusst aufnehmen und forcieren. Wie stark ist die Belastung? Sie scheint mir ziemlich stark zu sein. Warum reagiert das Mauerwerk? Weil die Untergründe nicht ganz gleich sind oder weil unterschiedliche Materialen aufeinander treffen. Die Folge sind „Setzrisse“.
Wenn die Beobachtung richtig ist, dass sich auch Evangelikale heute immer weniger an traditionellen Mustern orientieren, dann ist die Frage: woran dann? Ich meine zwei gegenläufige Orientierungsmuster, fast schon zwei Kulturen wahrnehmen zu können: Die eine Seite der evangelikalen Welt scheint mir heute vornehmlich vom Merkmal der „Offenheit“ geprägt. Sie treibt die „Sehnsucht nach Zugehörigkeit“. Die andere Seite scheint mir heute vornehmlich vom Merkmal der „Abgrenzung“ geprägt. Sie treibt die „Sehnsucht nach Distanz“.
„Sehnsucht nach Zugehörigkeit“
„Sehnsucht nach Zugehörigkeit“ – was ist damit gemeint? Ich denke an viele Mitglieder von Gemeinschaftsverbänden und evangelikalen Werken, die sich trotz aller Enttäuschungen scheinbar unerschütterlich unter dem Dach der Volkskirche aufhalten. Immer wieder haben sie Grenzen definiert, die sie für nicht überschreitbar hielten; und mussten erleben, wie sie dann doch überschritten wurden. Ihr Verbleiben in der großen „Kirchen-Gemeinschaft“ ist meines Erachtens am ehesten mit Furcht vor Vereinzelung und einer gewissen Heimatlosigkeit zu erklären.
Gewissermaßen von der anderen Seite her sehnen sich viele Freikirchler nach Zugehörigkeit. Gewiss hört man mit Interesse, wie das Modell der Freiwilligkeitskirche als besonders zeitgemäß beschrieben wird. Doch der Gedanke, aus den Reihen der etablierten Freikirchen heraus käme heute die Initiative zu einer solchen Gründung, so es sie noch nicht gäbe, stellt sich nicht ein. Die Orientierung geht eher in die umgekehrte Richtung. Eine ganze freikirchliche Generation scheint mir heute von dem Wunsch nach Normalität und Anerkennung durchdrungen: Man will auch „Kapellen“ in der ersten Reihe bauen. Man will mitsitzen am ökumenischen Tisch der Kirchen. Die Prediger sollen auch „richtige“ Pastoren sein und anerkannte Theologie betreiben. Möglichst wenig soll an das alte Stigma des Konventikelhaften erinnern, mit dem man aufgewachsen ist. Auf diesem Weg ist man seit Jahren vorangekommen und das Erreichte soll auf keinen Fall gefährdet werden, selbst wenn intern die Bandbreite erheblich ist. In diesem Sinne scheint mir ein gegenseitiges Sich-Stehen-Lassen um fast jeden Preis inzwischen geradezu zum konstitutiven Prinzip mancher Freikirchen geworden zu sein.
Sehnsucht nach Zugehörigkeit zeigt sich auch in der Sehnsucht nach Zusammengehörigkeit, nach Größe und Präsenz, nach Adäquatheit und Relevanz. Um einen ernstzunehmenden Faktor in der Gesellschaft darzustellen, will man die Grenzen nicht zu eng ziehen. Dazu gehört Attraktivität in der Darstellung nach außen. Das ist gewiss nicht von der Hand zu weisen. Aber ist es unser prioritäres Interesse?
Die Prediger der Freikirchen sollen ja auch „richtige“
Pastoren sein und anerkannte Theologie betreiben
Ich weiß, mit pauschalen Zuordnungen, wie ich sie hier vornehme, wird man der persönlichen Motivation des Einzelnen schwerlich gerecht. Sie können uns dennoch helfen, ehrlich in den Spiegel zu schauen. Mir scheint, es gibt heute einfach zu viele Christen in Deutschland, die ganz froh sind, wenn ihnen der evangelikale Mainstream nicht allzu viel an Peinlichkeiten abverlangt: Kann man das mit dem Glauben nicht wirklich entspannter angehen? Warum sich abgrenzen, wenn es auch gemeinsam geht? Muss man nicht alles Erdenkliche tun, um Vorwürfe des Fanatismus und der Sektiererei von der Hand zu weisen? Sind nicht Offenheit und Toleranz die eigentlichen Kernelemente des Christentums?
Häufig wird auf missionarische Möglichkeiten verwiesen. Ich nehme diesen Hinweis ernst. Gewiss, wir wollen die Hemmschwellen nicht unnötig erhöhen. Doch in vielen Gesprächen werde ich den Eindruck nicht los, „missionarisch“ werde heutzutage ziemlich leichtfertig als Rechtfertigung für vieles herangezogen, was man selbst gerne tun will und früher nicht tun durfte, als es unter Christen vermeintlich noch so „streng“ zuging. Auch halte ich alle Theorien für zweifelhaft, die die biblisch klar belegte Unterscheidung zwischen Gemeinde und „Welt“ zugunsten einer seltsam diffusen „Durchdringungsstrategie“ aufgeben. Boulevardisierung des Christentums. Dem eigentlich missionarischen Anliegen nutzt dies nicht.
Wir begeistern uns für
Gemeindewachstum, aber die Gemeinde wächst nicht
Doch es geht nicht alleine um den Vorwurf einer gewissen Verflachung oder Nachlässigkeit. Es gibt heute eine sehr starke Strömung im Evangelikalismus, die ernsthaft nach Erweckung strebt und dabei „Offenheit“ als eine grundlegende Kategorie ansieht. Gerade weil Vertreter dieser Richtung die Verflachung und fehlende Inspiriertheit vieler Gemeinden beklagen, wollen sie sich nach keiner Seite hin verschließen. Sie wollen Impulse aufnehmen, die der Heilige Geist aus vielleicht bislang ganz unvermuteten Richtungen gibt. Nur so kann ich mir die Symbiose erklären, die etwa viele charismatische Gruppen mit katholisch-mystischer Frömmigkeit eingehen, oder auch die enorme Leidensbereitschaft vieler Evangelikaler in der Zusammenarbeit mit kirchlichen Gremien, in denen man ganz offensichtlich anderer Auffassung ist.
Man will nicht schuldig werden durch falsches Richten. Man hat Angst davor, sich einem Wirken des Heiligen Geistes zu widersetzen, an missionarischer Stoßkraft einzubüßen, wenn man an irgendeiner Stelle zu enge Grenzen zieht. Das klingt vielleicht sympathisch. Aber es ist nicht biblisch. Wer Erweckungsereignisse aus der Bibel, aber auch aus der Kirchengeschichte studiert, der sieht, dass „Offenheit“ in der Regel Teil des Problems, nicht Teil der Lösung ist. Die Vorstellung, man möge sich einfach öffnen und unser liebevoller Gott werde dann schon dafür sorgen, dass nur Gutes in unser Leben kommt, ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was uns die Bibel als christlichen Lebensstil empfiehlt.
Kritische Fragen
Ich denke, es wird deutlich, wie skeptisch ich den Vertretern der „offenen“ Richtung gegenüber stehe. Man muss ihnen abverlangen, dass sie sich kritischen Fragen wie den hier aufgeworfenen stellen. Für jeden Christen gilt, die eigenen Motive immer und immer wieder zu überprüfen. Es gilt auch, die Wirkung in den Gemeinden zu überprüfen. Hat die Gemeinde von Jesus Christus in Deutschland im letzten Jahrzehnt wirklich an missionarischer Strahlkraft gewonnen? Ist tatsächlich ein Mehr an geistlicher Einheit und herzlicher Liebe gewachsen? Ist Erweckung in Sicht? Ich kann das nicht erkennen.
Ist es nicht sonderbar: Wir feiern ein „Jahr der Bibel“ – doch in vielen Gemeinden wächst eine Generation heran, die nicht einmal mehr ahnt, dass es so etwas wie biblische Lehre überhaupt gibt. Wir sprechen viel von Lobpreis – und verstehen darunter ein seltsames soft-poppiges Kultur-Gemisch. Wir wollen Evangelisation – und praktizieren sie fast nur noch in der einen Variante, die ProChrist uns vorgibt. Wir halten uns für zeitgemäß – und kultivieren ein erstaunlich kleinbürgerliches, weltfernes Kuschelchristentum. Wir begeistern uns für Gemeindewachstum – aber die Gemeinde wächst nicht. Was wir erleben ist bestenfalls ein Gemeinde-interner Populationsaustausch. Ohne den Zuzug von Aussiedlern wäre die Gemeinde von Jesus in Deutschland in den letzten Jahrzehnten bereits für jedermann sichtbar massiv geschrumpft.
Offenheit und Synthese, Einheit und Toleranz – für die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts waren das die gesellschaftlichen Megatrends. Diejenigen unter den Evangelikalen, die solche Prägungen vertreten, waren in fast allen Bereichen in der Offensive. Haben sie ihr Ziel erreicht? Oder sind sie zu weit gegangen?
Gerade die Verantwortlichen der Evangelischen Allianz müssen sich fragen lassen, ob sie nicht in den letzten Jahren in vielfältiger Weise eine Entwicklung forciert haben, die am Ende zu ihren Lasten gehen könnte. Viele gestandene „Allianzleute“ leiden unter dem fortschreitenden Substanzverlust. Und viele derjenigen, die die Allianz heute loben, weil es ihnen um Einheit geht, denen das Allianzbekenntnis in seiner vollen Ausprägung aber wenig bedeutet, dürften der Allianz vermutlich auch nicht erhalten bleiben. Nach dem Motto „Überholen ohne einzuholen“ werden sie zum großen Schiff der Ökumene weiter schwimmen, so wie es einige Freikirchen längst tun. Am Ende könnte die Frage stehen, warum es eigentlich eine Allianz gibt, wenn sich doch alle Christen einig sind.
Um hier nicht missverstanden zu werden: Ich halte die Evangelische Allianz für eine notwendige Einrichtung. Sie muss sich um die Einheit der Christen im biblischen Sinne bemühen. Das ist ihre Aufgabe. Ich frage allerdings, ob sie ihr Ziel auf den eingeschlagenen Wegen erreicht. Das ist meine grundsätzliche Anfrage an alle Vertreter der „offenen“ Richtung.
„Sehnsucht nach Distanz“
Megatrends der 90er Jahre:
Offenheit und Synthese, Einheit und Toleranz
„Sehnsucht nach Zugehörigkeit“, eine teilweise naive Haltung der „Offenheit“: das scheinen mir nicht die geeigneten Orientierungsmuster zu sein, um in den geistlichen Herausforderungen unserer Zeit bestehen zu können. Doch was ist die Alternative?
Eigentlich ist es ja ein ganz normaler Vorgang, wenn diejenigen, denen inhaltliche Substanz wichtig ist, einem Prozess fortlaufender Verdünnung mit Widerstand begegnen. Zu dieser Intention bekenne ich mich auch persönlich. Gleichwohl spreche ich, bezogen auf diese Gegenbewegung, vom Merkmal der „Abgrenzung“ als handlungsleitendem Motiv, sogar von einer „Sehnsucht nach Distanz“. Das klingt nicht positiv und ist auch so gemeint. Bereits im Begriff soll deutlich werden, dass auch hier eine kritische Selbstprüfung unerlässlich ist.
Sie wünschen sich nichts mehr, als einfach einmal ohne Hintergedanken den Herrn anbeten und eine schriftgemäße Predigt hören
zu können
Ich denke an viele evangelikale Christen, die in den letzten Jahren aus inhaltlichen Gründen ihre Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften entweder verlassen haben oder in die innere Emigration gegangen sind. Sie haben sich häufig bis an den Rand der Selbstaufgabe mit bestimmten Streitfragen auseinander gesetzt. Sie haben immer wieder versucht, Grenzen des für sie zu Tolerierenden zu markieren, und kaum einmal gespürt, dass ihre Anliegen überhaupt wahrgenommen wurden. Irgendwann haben sie – wie auch immer – die Konsequenzen gezogen. Sie wünschen sich nichts mehr, als einfach wieder einmal ohne Hintergedanken den Herrn anbeten und eine schriftgemäße Predigt hören zu können. Sie wünschen sich eine missionarische Veranstaltung, zu der sie guten Gewissens einladen, und eine Jugendgruppe, die sie ihren Kinder gerne empfehlen können. Von Offenheit und Toleranz wollen sie in nächster Zukunft nicht viel hören. „Sehnsucht nach Distanz“.
Die Anzahl der Christen, auf die diese Beschreibung zutrifft, lässt sich natürlich nicht beziffern. Sie scheint mir aber nicht gering zu sein. Hier wäre das Klientel für eine neue konservative Freikirche in Deutschland. Bemerkenswert ist, dass die etablierten Freikirchen gegenwärtig (anders als früher) kaum noch in der Lage sind, dieses Klientel anzusprechen. Das liegt, wie oben beschrieben, an deren gegenläufiger Orientierung. Sie können immer weniger nachvollziehen, welche Gründe Christen in eine Haltung der Distanziertheit treiben. Wenn also heute in manchen Freikirchen im Zeichen von Mitgliederschwund und Überalterung über die eigene Integrationsfähigkeit neu nachgedacht wird, dann wären solche Beobachtungen einzubeziehen.
„Sehnsucht nach Distanz“ prägt allerdings auch diejenigen Christen, die – aus welchen Gründen auch immer – in für sie fragwürdigen Umgebungen verbleiben. Sie sind schon aus dieser Situation heraus gezwungen, jede Bemerkung, etwa des ungläubigen Pfarrers, von allen Seiten kritisch zu betrachten. Sie sehen sich veranlasst, beständig Klarstellungen vorzunehmen und Grenzpflöcke einzuschlagen. Eine äußerst stressige, aber wie mir scheint nicht seltene Form evangelikalen Christentums in unserem Land.
Nicht außer Acht lassen darf man auch die vielen Gemeinden und Gemeinschaften, die sich in bewusster Distanz zur tonangebenden Richtung der „Offenen“ positionieren. Ich denke an der „Bekenntnisbewegung“ nahestehende Kreise, an selbstständige evangelische Gemeinden, an die Hausgemeinde-Bewegung, an Brüdergemeinden verschiedener Provenienz, an Modell-4-Gemeinden im Gnadauer Verband, an große freikirchliche Gemeinden evangelikaler Prägung, die nicht dem Strom der Masse folgen, aber auch an die großen Aussiedlergemeinden. Es wird leicht übersehen, wie groß der Anteil solcher Gemeinden und Gemeinschaften im evangelikalen Spektrum schon heute ist. Sie sind die eigentlich wachsenden Gemeinden in Deutschland. Sie machen nur nicht soviel Aufhebens darum.
Es ist erstaunlich und erfreulich zu sehen, wie Gott auf vielfältige Weise wirkt. Vielleicht sortiert er selbst die evangelikale Bewegung in Deutschland neu, ganz unabhängig von unseren Konzepten und Beschlüssen. Mit Sorge erfüllt mich gleichwohl die Beobachtung, dass sich viele dieser Kreise und Gemeinden in Abgrenzung definieren. Dies scheint in besonderem Maße für „Bibeltreue“ zu gelten. „Abgrenzung“ als konstitutives Element: diese Tendenz nimmt zu und sie nimmt bisweilen merkwürdige Formen an.
Es gibt christliche Kreise, in denen „Bibeltreue“ heute daran gemessen wird – nicht öffentlich, aber de facto schon –, ob jemand gegen ProChrist, gegen WillowCreek und gegen Alpha-Kurse ist. Die Liste ließe sich erweitern und variieren. Dazu ist zu sagen: Es gibt viele berechtigte Anfragen an die drei genannten Initiativen. Als Maßstab zur Bemessung von Bibeltreue eignen sie sich aber nicht.
Es gibt heute auch Christen sehr unterschiedlicher Provenienz, die ihre Einigkeit davon herleiten, dass sie anti-charismatisch sind. Auch ich bin kein Charismatiker. Aber eine Einheit alleine auf dieser Basis scheint mir fragwürdig. Sie kann nicht wirklich belastbar sein. Was sollte an einer großen Koalition gegen Charismatik biblischer sein als an einer großen Koalition für Evangelisation?
In manchen Gemeinden hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass pragmatische Überlegungen per se unbiblisch sind. Es ist geradezu kurios zu beobachten, wie sie sich um einen „besucherunfreundlichen“ Stil bemühen. Der Heilige Geist soll’s nun wirklich ganz alleine richten. Das halte ich nicht für angemessen.
Ist also nicht auch dieses sonderbar: Christen, die der Bibel treu sein wollen, scheinen an einer bestimmten Stelle die Maßstäbe durcheinander geraten zu sein. In ihrem Bemühen, Fehlentwicklungen zu bekämpfen, messen sie selber bestimmten Fragen eine Bedeutung zu, die ihnen von der Bibel her so eigentlich nicht zukommt. Nein, auch das kann nicht richtig sein. Auf Abgrenzung als handlungsleitendes Motiv lässt sich Gemeinde auch nicht bauen. „Sehnsucht nach Distanz“ ist keine geeignete Orientierung, um in den geistlichen Herausforderungen unserer Zeit zu bestehen.
Anmerkungen für Bibeltreue
Es gibt christliche Kreise, in denen „Bibeltreue“ daran gemessen wird, ob jemand gegen ProChrist, gegen WillowCreek und gegen Alpha-Kurse ist
Seit einigen Jahren erleben wir eine kontinuierliche Verschärfung des Tons unter den Evangelikalen in unserem Land und in gewissen Kreisen eine Renaissance der Apologetik. Ich habe deutlich gemacht, wie sehr ich mich der „bibeltreuen“ Seite verpflichtet fühle. Umso mehr liegt es mir am Herzen, dass wir als Bibeltreue durch unbiblisches Verhalten nicht selber schuldig werden. Auch wir müssen unsere Motive überprüfen und die Folgen unseres Tuns für die Gemeinden bedenken. Falsche Orientierungsmuster dürfen auch uns in unserer geistlichen Positionsbestimmung keineswegs prägen. Ist es nicht geradezu eine Strategie des Feindes, dass er uns – gerade weil wir es besonders ernst meinen – zu ungeistlichen Kampfesweisen und einer Härte verführt, die nicht von Christus ist?
Die Herausforderung, nicht
abzuweichen zur Rechten und zur Linken, ist eine eminent biblische Situation
Die Frage an uns Bibeltreue ist, ob wir unserer Verantwortung vor Gott für die ganze Gemeinde des Herrn gerecht werden, oder ob auch zwischen uns selbst die „Setzrisse“ breiter werden. Denn natürlich muss ich mein Bild hier verfeinern: Es gibt ja nicht den einen großen Setzriss. Auf der gesamten evangelikalen Bandbreite zwischen weit links und ganz rechts gibt es diverse Strömungen, die sich im Rahmen ihrer jeweiligen Kontexte mehr nach Zugehörigkeit sehnen oder mehr nach Distanz. Das ganze Mauerwerk ist voll von kleinen und größeren Rissen. Bleibt also die Frage, ob wir als Bibeltreue es hier halten wollen wie alle anderen auch, oder ob wir uns nachhaltiger um ein Beisammenbleiben bemühen. Mir scheint, das ist auch eine Frage nach der Zukunft des „Bibelbundes“. Gerade er ist in seiner Geschichte immer ein Bund von Christen gewesen, die zwar der Wunsch nach Bibeltreue eint, die sich aber an anderer Stelle durchaus signifikant voneinander unterscheiden. Der Wunsch, solche Unterschiede auszuhalten und beisammen zu bleiben, war konstitutiv.
Einige Anmerkungen für die „bibeltreue Seite“ sind mir wichtig:
Vergessen wir nicht: „Bibeltreue“ ist viel mehr als ein Beurteilungskriterium gegenüber anderen. Es ist ein Anspruch, den wir vor allem zunächst einmal in Verantwortung vor Gott an unser eigenes Leben richten. Seinem Wort und damit ihm selbst wollen wir treu sein. Da müsste uns eigentlich jedes Mal das Herz klopfen, wenn wir diesen Begriff mit Blick auf uns selbst gebrauchen.
Wir sollten uns nicht zu sehr von Trends beeindrucken lassen. Das ist ein Problem: Wir lassen uns ein Thema nach dem anderen aufzwingen und reagieren im Reflex – was dann oft wenig überzeugend wirkt. Doch man darf auch einmal eine Mode unkommentiert vorüber gehen lassen. Wir stehen nicht mit dem Rücken zur Wand, sondern an der Seite unseres Herrn. Damit plädiere ich ja nicht für Blauäugigkeit, wohl aber für etwas mehr an vertrauensvoller Gelassenheit. Der Herr baut seine Gemeinde, oft überraschend anders als wir denken.
Es ist nicht sinnvoll so zu tun, als sei jedes Bemühen um ein zeitgemäßes, adäquates Christentum bereits von Übel. Im Gegenteil: Zu allen Zeiten haben sich Christen genau darum bemüht. Die Balance muss allerdings stimmen. Offenheit hat ja durchaus ihren Platz im christlichen Leben, Distanz aber auch. Beides muss da sein, keines darf einen Stellenwert einnehmen, der ihm nicht zugehört. Falsche Frontstellungen sind zu vermeiden.
Natürlich höre ich den Vorwurf, dies sei ein billiges Plädoyer für den Mittelweg. Manche Christen meinen, jeder Mittelweg sei unbiblisch. Das sehe ich anders. Ich sehe viele biblische Anhaltspunkte für einen mittleren Weg und auch für pragmatische Überlegungen. Das Ringen um die jeweils richtigen Entscheidungen unter der Leitung des Heiligen Geistes nimmt uns der Herr in der Regel nicht ab. In vielen Fällen des praktischen Lebens verzichtet die Bibel ganz bewusst auf Ja- oder Nein-Antworten. So einfach ist es eben nicht, dass wir uns immer nur nach einer Seite hin zu distanzieren hätten. Die Herausforderung, nicht abzuweichen zur Rechten und zur Linken, ist eine eminent biblische Situation.
Achten wir selbstkritisch auf unsere Motive. Das Gefühl, zu den „letzten Getreuen“ in einer Welt des Abfalls zu gehören, wird bisweilen geradezu fahrlässig kultiviert. Schwingt da nicht auch Stolz mit, vielleicht sogar Neid, jedenfalls ein grundlegendes Misstrauen gegenüber all denjenigen, die vermeintlich erfolgreicher sind? Das dürfen wir nicht tolerieren.
Wir brauchen einen Blick für die geistliche Notlage, in der sich viele unserer Mitchristen, oft sogar unbewusst, heute befinden. Bei unserem Kampf für die Wahrheit vergessen wir dies leicht. Wie viele evangelikale Christen leben bis heute zwischen kraftloser liberaler Theologie und Traditionalismus. Sie haben den Namen reich zu sein, und sind doch arm. Viele spüren das auch. Wo finden sie Hilfe? Sind es vielleicht auch unsere eigenen „bibeltreuen“ Traditionalismen, die ihnen Not bereiten? Haben wir Atem genug, um sie ein Stück ihres Weges zu begleiten?
Oft wird zum Beispiel übersehen, wie nahe uns viele Geschwister stehen, die sich aus solchen Nöten heraus für charismatische Impulse öffnen. Sie suchen geistliche Veränderung. Wir sollten sie umwerben und nicht bloß vor den Kopf stoßen. Spüren sie, dass wir ihre Anfragen ernst nehmen? Geht es uns um sie oder bloß um die Abwehr eigener Ängste? Ist uns bewusst, dass es sich hier häufig um „Notwucherungen“ handelt, deren Ursachen – falsche Ernährung oder Mangel an Licht – an ganz anderer Stelle liegen?
Ich wundere mich über den harschen Ton, der von Bibeltreuen oft angeschlagen wird
Ich wundere mich über den harschen Ton, der von Bibeltreuen oft angeschlagen wird. Was will man damit erreichen? Wen will man damit erreichen? Bemühen wir uns noch darum, in Ton und Argument so kommunizierbar zu bleiben, dass Christen, die Orientierung suchen, sich in unsere Überlegungen mit hinein nehmen lassen? Ich meine, wir sollten in diesem Zusammenhang auch mehr darauf achten, dass wir nur solchen Geschwistern eine öffentliche Plattform bieten, die sich erkennbar im gemeindlichen Leben bewährt haben oder sich zumindest darum bemühen. Eigenbrötlerei und unlautere Motive schaden der guten Sache.
Vorsicht vor einer wild blühenden Apologetik. Hier muss man die Frage nach der Berufung immer wieder kritisch stellen. Der Dienst der Apologetik ist sehr verantwortungsvoll. Aber er kann die Gesamtheit biblischer Lehre nicht ersetzen. So wie die „offene“ Richtung der Gefahr unterliegt, die Lehre zugunsten missionarischer Bemühungen zu vernachlässigen, so wird die „abgrenzende“ Richtung gefährdet durch eine Vorherrschaft der Apologetik. Was wir brauchen ist eine gesunde Ausgewogenheit, die alle Aspekte gebührend berücksichtigt.
Wir sollten wieder mehr über Inhalte sprechen und weniger in Stereotypen. Zum Beispiel: Über die Erklärung der Evangelischen Allianz mit dem Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden aus dem Jahr 1996 wurde jahrelang leidenschaftlich gestritten. Aber in welcher Gemeinde wurde wirklich inhaltlich darüber gesprochen? Das, was die Erklärung fördern wollte, nämlich das qualifizierte Gespräch über Fragen, die verbinden, und Fragen, die unterscheiden, findet doch in Wirklichkeit überhaupt nicht statt. Wenn es nur so wäre, wie in der Erklärung vorgeschlagen, dass über die unterschiedlichen Sichtweisen zu 1. Korinther 12 und 14 gesprochen würde. Stattdessen kommt in den Gemeinden als Botschaft nur an: „Es gibt diese Erklärung, also sind wir uns irgendwie einig.“ Die meisten Evangelikalen haben heute – im Gegensatz zu den Pfingstlern – überhaupt keine Sichtweise zu 1. Korinther 12 und 14.
Beide Orientierungsmuster
sind für eine geistliche
Positionsbestimmung nicht geeignet
Aber auch wir als Bibeltreue müssten entschieden inhaltlich über diese Angelegenheit sprechen. Es gibt ja durchaus Gründe, die dafür sprechen, eine derartige Erklärung auszuarbeiten; schließlich ist es unsere christliche Pflicht, unser Verhältnis zueinander trotz aller Unterschiede in möglichst fairer Weise zu bestimmen. Ich meine andererseits, dass die Erklärung aus dem Jahr 1996 aus evangelikaler Sicht nur teilweise, etwa bis zur Hälfte des Textes, eine gelungene Erklärung ist. Es wäre also zu überlegen, wie eine gelungenere Erklärung aussehen müsste. Wer jedoch auf bibeltreuer Seite versuchen wollte, sich diesem Thema in differenzierender Weise zu nähern, läuft noch immer Gefahr, von wortgewaltigen Mitchristen der übelsten Häresie verdächtigt zu werden. Also unterbleibt es. Seit bald zehn Jahren wird die Existenz der Erklärung von den einen bejubelt und von den anderen verteufelt. Und wir wundern uns, dass unsere eigene Diskurskultur so eigenartig kraftlos und inhaltsleer zu werden droht.
Schließlich: Als „Bibeltreue“ sollten wir uns wieder mehr auf unser „Kerngeschäft“ konzentrieren. Das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Schrift zu stärken und daraus Hilfestellung für das Leben als Christ zu gewinnen – das ist uns das Wichtigste. Wer dies bestreitet und damit der Gemeinde des Herrn das Wasser abgräbt, dem treten wir entgegen, nicht aber jedem Bruder mit anderen Detailansichten.
„Achtet genau darauf“
Ich habe versucht, die gegenwärtige Situation der Evangelikalen in Deutschland mit Hilfe zweier gegenläufiger Orientierungsmuster zu beschreiben: „Offenheit“ und „Abgrenzung“, „Sehnsucht nach Zugehörigkeit“ und „Sehnsucht nach Distanz“. Solche Typologie hat natürlich ihre Grenzen. Deutlich soll vor allem werden: Beide Orientierungsmuster sind für eine geistliche Positionsbestimmung nicht geeignet. Sie mögen verständlich sein und in gewisser Weise auch ihre Berechtigung haben. Aber sie dürfen nicht handlungsleitend werden. Sonst werden wir der Belastungsrisse nicht mehr Herr.
Nun bin ich nicht optimistisch genug, um an ein Schließen aller Risse zu glauben. Ein allgemeiner Appell für mehr Toleranz scheint mir nicht realistisch. Manche Frage wird wohl tatsächlich erst im Himmel beantwortet werden. Und es wird immer genug Christen geben, die aus einmal gefundenen Orientierungen nicht herausfinden können oder wollen. Gleichwohl hoffe ich beiderseits auf die Besonnenen. Es wäre viel erreicht, wenn wir Radikalisierungen vermeiden und im Ganzen wieder zu qualifizierteren Formen der Positionsbestimmung wie der Auseinandersetzung finden könnten. An die eigene Seite aber ergeht doch ein Appell: Lasst uns nachhaltiger dafür Sorge tragen, dass wir als Bibeltreue so weit es geht beieinander bleiben.
Wenn in einem Haus Setzrisse festgestellt und bis auf den Grund sorgfältig frei gelegt werden, dann finden in der Regel verbindende Materialien ihren Einsatz. Es gibt Schaum, Kleber oder Binder, um Lücken auszufüllen. Es gibt Netze, die über die gerissenen Stellen geputzt werden. Ihr gemeinsames Merkmal: sie sind flexibel. Wenn Untergrund oder Mauerwerk weiter in Bewegung sind, bewegen sie sich bis zu einem gewissen Grad mit. Ab und zu bedarf es einer Dehnungsfuge. Das sind vielleicht nicht die perfekten Lösungen, aber in der Regel helfen sie ein gutes Stück weiter.
Unser Herr konnte atemberaubend offen sein – und äußerst distanziert
Wahrscheinlich ist das Mauerwerk der Gemeinde Jesu noch bis zur Entrückung Belastungen ausgesetzt, weil die Untergründe nicht ganz gleich sind oder weil unterschiedliche Materialen aufeinander treffen. Setzrisse wird es geben, wenn wir starr an unseren eigenen, falschen Orientierungsmustern festhalten. Die notwendige Flexibilität können wir dadurch gewinnen, dass wir uns an unserem Herrn selbst ausrichten: Er konnte atemberaubend offen sein – und äußerst distanziert. So lange wir aufrichtig nach seinem Willen fragen, bin ich nicht bang, dass wir ihn auch erkennen werden. Wieder genauer darauf zu achten, wie wir wandeln, im Blick auf eigene Orientierungen und Motive: vielleicht könnte dies die „Sehnsucht“ sein, die uns neu motiviert und prägt.