Wer wäre nicht gern in einer attraktiven Gemeinde? Eine Gemeinde, in der richtig was los ist, die Nichtchristen erreicht und wächst. Eine Gemeinde, auf die man stolz sein kann. Die einen werden zu Gottesdiensttouristen, weil „zuhause“ nichts läuft. Andere suchen das Erfolgsrezept, das vielleicht irgendwie Leben in ihre Gemeinde bringt. Der Blick schweift schnell nach Willow Creek und ähnlichen Vorbildgemeinden, die so atemberaubend sind, dass es einen dort förmlich in die Kirchenbank pressen muss. Meint die Mehrheit. Und dann gibt es da eine Gemeinde in der Nähe von Hollywood, absolut quer zu diesem Trend und dennoch absolut erfolgreich. Dreimal am Sonntagmorgen füllt sich die „Grace Community Church“ in Los Angeles mit insgesamt 10.000 Besuchern. Und was wird geboten? Eine Stunde Predigt. Nein, Bibelauslegung! Gemeindezucht! Keine Auftritte von Bands! Und das mitten in L.A.! Trotzdem kommen pro Monat 80 bis 90 neue Mitglieder dazu! Die meisten von ihnen sind unter 30! Obwohl der Pastor schon 60 ist. Aber gerade deswegen wollten wir ihn sprechen.
Seit Sie vor dreißig Jahren bei der Grace Community Church Pastor wurden, ist die Gemeinde von einigen 100 auf heute 10.000 Mitglieder angewachsen. Was ist das Erfolgsrezept?
John MacArthur: Von Anfang an stand die Auslegung der Bibel bei uns im Zentrum, in unseren Gottesdiensten nimmt Anbetung eine zentrale Stellung ein, die Musik verherrlicht Gott – alles ist auf ihn ausgerichtet. Ich nehme mir etwa eine Stunde Zeit für die Auslegung eines Bibeltextes. Das war immer unser „Rezept“ und ist es auch heute noch.
Was macht die Gemeinde denn so attraktiv für so viele Menschen?
John MacArthur: In Los Angeles suchen viele Leute nach Angeboten, wo sie das Wort Gottes hören können. Denn das gibt es dort nicht oft. Große Not herrscht in unserer Stadt auch beim Thema Familie: Kaputte Familien, Ehescheidungen sind weit verbreitet. Also haben wir schon sehr früh Angebote für Familien und Ehepaare eingeführt, sowie ausgedehnte Kinder- und Jugendarbeit mit dem Ziel, Familien zu stärken.
Was hat denn am meisten zu dem starken Wachstum Ihrer Gemeinde beigetragen?
John MacArthur: In den letzten Jahren haben die Mitglieder unserer Gemeinde sehr stark persönliche Evangelisation trainiert. Zur Zeit absolvieren ungefähr fünf- bis sechstausend Menschen unser 16wöchiges Trainingsprogramm über effektive persönliche Evangelisation. Wir sind von etwa 400 auf 10.000 Mitglieder hauptsächlich durch persönliche Evangelisation, durch „Selbstvervielfältigung“ gewachsen.
Aber was wirklich entscheidend für unser Gemeindewachstum war, wird die meisten überraschen: Gemeindezucht. Und damit meine ich, dass wir die Vorgaben von Mt 18 wortwörtlich befolgt haben.
Befreundete Pastoren sagten mir, als ich vor 30 Jahren anfing: „Du wirst die Gemeinde entleeren.“ Aber genau das Gegenteil geschah. Wenn wir bei Sünde nicht tatenlos zusehen, werden Menschen angezogen, die Gott lieben. Wenn wir Menschen liebevoll mit ihrer Sünde konfrontieren, kehrt eine gesunde Realität in die Gemeinde ein. Einer kümmert sich um den anderen, und zwar nicht nur oberflächlich, sondern auf der tieferen Ebene seines Verhaltens Gott gegenüber.
Manche Gemeinden sind erfolgreich, manche – trotz aller Anstrengungen – nicht. Worin liegt der Unterschied?
Menschlich gesehen wachsen Gemeinden, wenn sie begabte Leiter haben
John MacArthur: Gemeindewachstum ist keine Frage einer Technik oder Methode. Damit eine Gemeinde groß wird, braucht sie einen begabten Leiter. Ich will nicht sagen, dass die Gemeinden in Deutschland so groß sein könnten wie in Amerika. Dort sind wesentlich mehr Menschen am Christentum interessiert, haben einen christlichen Hintergrund. Aber menschlich gesehen wachsen Gemeinden, wenn sie begabte Leiter haben. Ob Bill Hybels oder wer auch immer – nicht ihr Gemeindemodell bewirkt Wachstum, sondern ihre Fähigkeit, effektiv zu kommunizieren und Menschen zu mobilisieren.
Eine große Gemeinde zu führen ist wie eine große Firma zu leiten. Es erfordert überdurchschnittliche Fähigkeit zu leiten, zu inspirieren. Große Kommunikatoren, begabte Leiter sind dazu in der Lage. Aber es ist nicht eine Frage des Modells. Man kann nicht den Stil eines erfolgreichen Pastors auf irgendeine andere Situation übertragen und das gleiche Ergebnis erhalten. Es hängt von der Person des Leiters ab. Bill Hybels könnte mit jedem anderen Modell die gleiche Gemeindegröße wie in Willow Creek erreichen, weil er ein sehr begabter Leiter ist. Das ist die menschliche Seite.
In Deutschland gibt es nur sehr wenig Gemeindewachstum. Haben wir also zu wenig begabte Leiter?
John MacArthur: Gott weiß, was er tut. Warum es in Deutschland oder in irgendeinem Land weniger Leiter gibt als anderswo – vielleicht, weil Gott sie noch nicht berufen hat. Alles, was ich bisher gesagt habe gehört in den Kontext dieser Wahrheit: Gott baut seine Gemeinde. Diese geistliche, göttliche Komponente kann ich nicht erzwingen.
Wir stehen immer wieder in der Versuchung eine Gemeinde losgelöst von Gott zu bauen und sie einfach mit allen Menschen zu füllen, die rein wollen. Damit schaffen wir Probleme: Jetzt müssen wir Sünde tolerieren, können immer nur das unterste „Level“ von Hingabe ansprechen.
Natürlich ist Gemeindewachstum auch immer abhängig vom Umfeld. Die Deutschen sind nicht so mobil wie Amerikaner. Wir sind eine Gemeinde für eine ganze Region, Menschen kommen von weit her zu uns. Das gleiche gilt zum Beispiel für Willow Creek. Fast überall auf der Welt gehen Menschen dort zur Kirche, wo sie wohnen. Bei uns herrscht hier eine andere Mentalität.
Kommt es nicht darauf an, dass Gottesdienste so gestaltet sind, dass Nichtchristen sie attraktiv finden? Nach dem Motto: „Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.“
John MacArthur: Ich halte es für falsch, einen Gemeindegottesdienst auf Ungläubige zuzuschneiden. Gottesdienste sind nichts für Ungläubige. Ich sage nicht, dass wir nicht evangelisieren sollen. Aber wir können nicht Gemeinde umdefinieren. Es gibt in der Bibel keinen Hinweis darauf, dass die Gemeinde etwas anderes ist als die Versammlung von Erlösten. Sündigt jemand aus der Gemeinde, muss man ihn damit konfrontieren und manchmal die ganze Gemeinde einweihen und ihn ausschließen. Wir reden von einer heiligen Organisation. In Apostelgeschichte 5 heißt es: „Keiner der Nichtgläubigen wagte es, sich der Gemeinde anzuschließen.“ Denn Ananias und Saphira waren dort gestorben, die erste Gemeinde nahm Sünde sehr ernst. Sobald wir Gemeindeversammlungen an Ungläubigen ausrichten, schaffen wir eine unheilige Situation – man kann das Abendmahl nicht halten, oder zum Bekennen von Sünden aufrufen.
Gemeinde war niemals auf Ungläubige zugeschnitten, und ihre Gottesdienste sollten es auch nicht sein
Wer eine Gemeinde ‚gemütlich‘ für Ungläubige macht, stellt ihr wahres Wesen total auf den Kopf. Gemeinde war niemals auf Ungläubige zugeschnitten, und ihre Gottesdienste sollten es auch nicht sein. Vielmehr sollte dort Gott angebetet, Christus verherrlicht, Heiligkeit angestrebt und das Wort Gottes ausgelegt werden. Das werden Nichtchristen ganz bestimmt nicht unterhaltsam finden.
Und was ist mit unserem Auftrag zu evangelisieren?
John MacArthur: Evangelisation geschieht, wenn wir nach draußen gehen. „Besucherfreundliche Gottesdienste“ ignorieren die Gläubigen und übernehmen den Job der Evangelisation. Es entsteht eine Gemeinde, in der sich Ungläubige wohl fühlen. In unserer Gemeinde haben wir all die Menschen, die besucherfreundliche Gottesdienste erreichen wollen. Wir nehmen 80 bis 90 neue Mitglieder pro Monat auf. 80 Prozent von ihnen sind unter 30 Jahre alt. Wir bieten keine Unterhaltung, keine Rock-Musik, keine Video-Vorführungen, aber unsere Leute gehen raus und gewinnen Menschen für Christus.
Ich habe mit vielen Menschen aus besucherfreundlichen Gemeinden gesprochen, die sich Sorgen machen, dass sie oberflächlich werden. Denn dort wird alles getan, um vermeintliche Bedürfnisse zu erfüllen. Das ist der „Köder“. Wer in die Gemeinde kommt, weil hier seine Bedürfnisse erfüllt wurden, wird auch in Zukunft erwarten, dass die Gemeinde nur dafür da ist. So konzentriert sich alles auf Menschen statt auf Gott. Und anstatt persönlich zu evangelisieren, brauchen die Mitglieder einfach nur andere zur Show mitzubringen.
Moment Mal – sollen sich Außenstehende bei uns nicht angenommen, zuhause fühlen?
John MacArthur: Der einzige Ort, wo der Himmel auf der Erde sichtbar wird, ist die Gemeinde. Was geschieht im Himmel? Anbetung Gottes, Verherrlichung Christi und die Gegenwart von Heiligkeit. Also sollten wir in der Gemeinde Gott anbeten, Christus verherrlichen, Heiligkeit anstreben. Heutzutage wird Gemeinde als ein Ort definiert, wo die Welt ‚reinkommt‘ – ich definiere sie als einen Ort, wo der Himmel ‚runterkommt‘.
Wir wollen niemand erreichen, der Unterhaltung sucht, sondern echte Antworten auf echte Fragen
Wenn ein Nichtchrist zu uns in die Kirche kommt, wird er nicht sagen: „Das ist cool, hier fühle ich mich wohl!“ Er wird sagen: „Was ist das denn? So was habe ich ja noch nie gesehen! Diese Leute hier beten Gott an, die meinen es ernst!“ Bei uns kommen Leute aus der homosexuellen Szene zu Christus, vielleicht weil sie verzweifelt sind, weil sie an Aids sterben müssen. Sie kommen, weil sie die Wahrheit suchen. Wir sind als Gemeinde bekannt, die Gott und heilige Wahrheiten ernst nimmt, und wir sind glücklich darüber. Wir wollen niemand erreichen, der Unterhaltung sucht, sondern echte Antworten auf echte Fragen.
In der verzweifelten Gemeindewachstumssituation in Deutschland halten viele das Willow-Creek-Modell für die Rettung. Insbesondere den bedürfnisorientierten Ansatz. Menschen mit dem Bedürfnis nach harmonischen Ehen, nach einem Leben ohne Angst, hören einen Vortrag zu dem Thema und fangen an, sich für Gott zu interessieren. Ist das nicht ein richtiger Ansatz?
John MacArthur: Darum geht es nicht. Ich habe kein Problem damit, wenn man Sportveranstaltungen oder Jugendevents macht, um Nichtchristen anzuziehen. Aber es ist ein Problem, wenn man Gemeinde so umdefiniert, dass Nichtchristen sich wohl fühlen. Wenn Menschen die Gemeinde für einen Ort halten, wo ihren Bedürfnissen begegnet wird, dann wird die Gemeinde ihre ganze Zeit und Energie aufwenden müssen, um diese Menschen zu befriedigen. Die gehen nämlich davon aus, dass die Gemeinde nur dafür existiert.
Wenn Willow Creek, Saddleback1 oder andere Programme für Alkoholiker, Abhängige, Alleinerziehende anbieten, dann ist das gut – es sei denn, man definiert Gemeinde um, nimmt sie Gottes Leuten aus der Hand, und lässt von Ungläubigen bestimmen, was in der Gemeinde läuft.
Bei evangelistischen Veranstaltungen reden auch wir über Ehe, Angst, Enttäuschung oder Drogen, wir bieten das Jahr über Konzerte an – um Nichtchristen zu erreichen. Aber wir bauen unsere Gemeinde nicht um die Bedürfnisse dieser Menschen herum. Evangelistische Veranstaltungen sind völlig okay, aber wir müssen den Tag des Herrn und den Gemeindegottesdienst verteidigen, damit die Christen reif werden und wachsen können. Dann werden sie die evangelistische Arbeit schon selbst machen. Sie werden sich selbst vervielfältigen.
Es heißt immer wieder: „Die beste Botschaft der Welt braucht die beste Verpackung.“
Gott benutzt die Wahrheit um Menschen zu erretten, nicht ihre Verpackung
John MacArthur: Man muss ein guter Redner sein, Klarheit ist gefragt. Aber nicht „Schmuck“ errettet Menschen, sondern die Wahrheit. Niemand wurde bisher wegen des Stils wiedergeboren, aufgrund der Verpackung. Gottes Geist benutzt die Wahrheit, wenn sie verstanden wurde und schafft Glauben. Hier ist ein grundsätzlicher Unterschied in unserer Theologie. Mein Ansatz ist: Wir bringen die Wahrheit, Gott benutzt die Wahrheit und errettet die Leute. Der Ansatz von Suchergottesdiensten ist: Die Wahrheit allein kann nicht erretten, sie muss richtig verpackt sein, weil wir am Willen dieses Menschen arbeiten.
In Deutschland sind in diesem Jahr mehrere Großevangelisationen geplant, unter anderem Pro Christ, die per Satellit an Hunderte von Orten übertragen wird. Ist persönliche Evangelisation besser?
John MacArthur: Die überwältigende Mehrheit kommt durch persönliche Evangelisation zum Glauben. Positiv ist, dass das Evangelium gepredigt wird, die Menschen es hören und sich bekehren. Aber selbst wer sich bei Großereignissen bekehrt, kommt oft mit jemand hin, der ihm schon vorher ein Zeugnis war. Die effektivste Art der Evangelisation ist eine reife Gemeinde, die sich selbst vervielfältigt. Deshalb muss es in der Gemeinde in erster Linie um Erbauung gehen. Wenn die Gemeinde zusammenkommt, um Ungläubige zu unterhalten, werden die Christen nicht erbaut, und sie sind nicht effektiv was persönliche Evangelisation angeht. In Willow Creek geht es zu stark um Psychologie, um persönliche Ängste, Lebensanalyse, Mitarbeiter gehen zu Psychologen und Psychiatern. Es geht darum, wie ich mit mir selbst klar komme, anstelle sich auf Gott zu konzentrieren, in Hingabe reif zu werden und dann rauszugehen und zu vervielfältigen. Massenevangelisation, Marketing, Gemeindewachstumsbewegungen haben lange nicht solche Auswirkungen wie persönliche Evangelisation.
Als Argument für Großveranstaltungen wird immer wieder angeführt, dass es auf die Welt einen großen Eindruck macht, wenn Christen so einig sind.
John MacArthur: Das hilft doch aber nicht dem einen, der Christus nicht kennt! Es muss ihm immer noch jemand davon sagen.
Das große kollektive Zeugnis hat bestimmt einige Auswirkung. Aber bei uns habe ich beobachtet, dass Menschen, die viel Zeit, Geld und Energie in so ein großes Unternehmen stecken, nicht zu ihrem Nachbarn gehen und ihm von Christus erzählen würden.
Wenn ich kein Christ bin und 50.000 Christen sehe – bedeutet das für mich persönlich noch lange nichts. Aber der eine mit dem veränderten Leben, der bedeutet etwas für mich. Ich denke immer noch, die größte Auswirkung hat das veränderte Leben eines Einzelnen.
In unserer Gemeinde sind Menschen aus Hollywood, der Filmindustrie – unser sechzigköpfiges Orchester besteht aus Profimusikern, die beruflich in der Musikindustrie tätig sind. Warum sind diese Leute bei uns? Weil sie veränderte Menschen sahen. Nicht so sehr das große Ganze, sondern das Individuelle wird dramatische Auswirkungen auf unsere Gesellschaft haben. Es ist großartig, dass die gute Nachricht quer durch Deutschland verbreitet wird. Aber das wird nur dann große Auswirkung haben, wenn Menschen ihr Christsein leben und Christus liebevoll von Mensch zu Mensch mitteilen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Saddleback Valley Community Church in Kalifornien, Pastor: Rick Warren. ↩