Im Jahr 2014 jährte sich der Todestag von Hermann Menge zum 75. Mal. Nennenswert gefeiert oder gewürdigt wurde dieses Jubiläum allerdings nicht – und das, obwohl uns dieser Mann unter anderem eine sehr hochwertige Bibelübersetzung geschenkt hat! Werfen wir dennoch einen Blick in das verborgene Arbeiten und Schaffen des Bibelübersetzers, Philologens und Pädagogens, so dürfen wir etwas vom verborgenen Wirken Gottes entdecken.
Der Mann im Verborgenen
„Wenn ich mit meiner lieben seligen Frau früher zu ihrer Erholung in einen Badeort fuhr, war mein erster Blick, ob in unserem Hotelzimmer auch ein Tisch stünde, an dem ich arbeiten könne. Dort packte ich meine Bücher aus und habe von morgens früh bis abends spät wieder über den Büchern gesessen. Mit Recht sagte meine liebe Frau zu mir: ,Hör einmal, arbeiten kannst du doch auch zu Hause‘. Worauf ich antwortete: ,Ja, du hast auch recht‘, und so sind wir dann lieber wieder nach Hause gefahren.“1
Diese Episode ist typisch für Hermann Menge und seinen Alltag. Er liebte seinen Schreibtisch, die Ruhe und das stille Arbeiten über seinen Büchern. Auch wenn er die Geselligkeit und Gemeinschaft mit anderen sehr schätzte, ein begabter Lehrer war und sogar ganze Gesellschaften zu unterhalten vermochte, strebte er seiner Natur entsprechend beständig danach, „für die Welt im dunklen Hintergrunde zu stehen“2 :
„Ich habe mich während meiner ganzen Manneszeit – unbeschadet meiner amtlichen Tätigkeit – in kleinen Städten vor der Welt geradezu verborgen gehalten und bin, während meine schulmännischen und wissenschaftlichen Werke eine weite Verbreitung auch im Ausland fanden, persönlich in geradezu verblüffender Weise unbekannt geblieben.“3
Als er im hohen Alter um Auskunft über seinen Lebensweg gebeten wurde, antwortete er, die an seiner Person interessierten Leute
„mögen sich daran machen, mein Buch [gemeint ist seine Bibelübersetzung, Anm. J. O.] kennenzulernen und sich durch die auf diesem Wege gewonnene Kenntnis zu Gott und zum Heiland führen zu lassen – dann besitzen sie ein Wissen, das wirklich Wert hat“4.
Bis heute ist Hermann Menge „persönlich in geradezu verblüffender Weise unbekannt geblieben“. Während seine philologischen Lehr- und Wörterbücher des Lateinischen und Griechischen immer noch zu den Standardwerken in Lehre und Studium zählen5 und seine Bibelübersetzung zeitweise zu den beliebtesten deutschsprachigen Bibelausgaben gehörte, weiß man über den in vielerlei Hinsicht beachtenswerten Mann hinter diesen Werken wenig bis nichts.6 Ihn hätte es vermutlich gefreut.
Ein hoffnungsloser Fall?
Hermann Menges Leben begann am 7. Februar 1841 in Seesen im Harz. Die Kindheit war wenig verheißungsvoll. Das oft kränkelnde und etwas dümmlich scheinende Kind, das sich dazu noch als „einen Ausbund von Häßlichkeit“7 empfand, gab wenig Anlass zu großen Hoffnungen. Das sollte sich mit dem Eintritt in die Seesener Bürgerschule nur wenig relativieren. Ganz allmählich trat Menges bemerkenswertes Gedächtnis in Erscheinung. So wechselte er 1851 auf die Jacobsonschule, eine „Art Realschule, der die beiden oberen Klassen fehlten“8, wo aber Griechisch und Latein gelehrt wurden. Sein Lehrer bezweifelte allerdings, dass der Junge in eine höhere Klasse kommen könne, und urteilte: „Du kannst ja doch überhaupt nichts!“9
Die erste Klausur in Latein erhielt der spätere Verfasser von lateinischen Lehrbüchern als „unkorrigierbar“ zurück und seine Leistungen im Griechischen waren auch nicht viel besser – was für so manchen Schüler und Studenten heute eine große Ermutigung sein sollte. Menge erhielt Nachhilfe, wodurch langsam sein sprachliches Talent geweckt wurde. Sein Abitur an einem Gymnasium in Braunschweig, das er seit 1856 besuchte, fiel schließlich ausgezeichnet aus und wurde von einer Empfehlung der Schule zur weiteren Förderung des jungen Mannes begleitet.
Hermann Menge bildete das Schlusslicht einer sechsköpfigen Kinderschar. Finanziell schlug sich die Familie durch, so gut es ging, und Hermann wurde nicht selten wegen seiner abgetragenen Kleidung verspottet. Doch das Motto seiner Eltern lautete: „Gute Erziehung und Wissen sind die beste Mitgabe für Kinder!“10 So ermöglichten sie auch ihrem jüngsten Sprössling den Weg auf die Universität. Menge studierte ab 1860 in Göttingen Altphilologie und Geschichte. Bei allem Fleiß, den er in sein Studium investierte, konnte er das Studentendasein auch voll genießen. Im sechsten Semester promovierte er zum Dr. phil.11 und legte im darauffolgenden Jahr das Staatsexamen ab.
Als Pädagoge und Philologe
Im Herbst 1864 trat er seine erste Stelle als Lehrer eines Gymnasiums in Helmstedt an. Gegen all seine Bedenken und Einwände wurden ihm der Religions- und der Hebräischunterricht aufgedrängt. Letzterer war eine besondere Herausforderung, da der junge Lehrer, der nicht gerade sehr selbstbewusst auftrat, meinte, diese Sprache nur ansatzweise zu beherrschen.12 Doch im Zuge dessen offenbarte sich Menges pädagogische Gabe. Er verkündete seinen Schülern in der ersten Unterrichtsstunde, dass er auch keine rechte Ahnung von dem hätte, was er ihnen beibringen solle; doch sie haben es zu lernen und er solle es zu lehren hätte und nun müssten sie einander da durchhelfen. Damit gewann er die Herzen seiner Schüler – und das nicht zum letzten Mal.
Auch das Herz seiner Verlobten konnte Hermann Menge in dieser Zeit ganz für sich gewinnen. Am 8. Oktober 1867 heiratete er Marie Hoffmeister, die für die nächsten 62 Jahre treu an seiner Seite stehen sollte. Aus der als glücklich und harmonisch beschriebene Ehe gingen fünf Kinder hervor.
Beruflich sollten noch einige Versetzungen und Wechsel zu anderen Schulen folgen. Bereits 1866 hatte Menge eine Stelle in Holzminden übernommen, wo das frisch vermählte Paar ein Haus am Stadtrand bezog. Schließlich kam der Ruf zum Gymnasialdirektor, zunächst 1876 nach Sangerhausen und dann 1894 nach Wittstock.
Hermann Menge pflegte schon zu Studienzeiten 14 Stunden täglich zu arbeiten. Dieser Fleiß prägte sein Lebenswerk. In seinem Unterricht entwickelte er neue Lehrmethoden, die den Schülern das Sprachwissen in einer Kombination von Fragen und Antworten vermittelten. Daraus entstanden seine Lehrbücher, die er eigentlich nur zum eigenen Gebrauch verfasste, weil ihm das vorliegende Lehr- und Lernmaterial für seine Schüler unbrauchbar erschien. Menges Werke stießen aber bei Kollegen und dann auch in der Fachwelt auf so große Begeisterung, dass sie bis heute genutzt werden. Aufgrund seiner wissenschaftlichen Leistungen wurde Menge 1876 der Ehrentitel eines Professors verliehen.
Der pädagogische Erfolg Menges beruhte auch auf seiner Menschlichkeit und seinem großen Einfühlungsvermögen gegenüber seinen Schülern. Er schaffte es immer wieder, Probleme auf unkonventionelle Weise zu lösen und auf die damals übliche „Schulzucht“ zu verzichten. Bei aller Strenge und Disziplin, die seine Arbeit und seinen Unterricht durchzogen, war Menge immer für einen Spaß zu haben. So kam es auch vor, dass Professor Dr. Menge mit seinen Schülern bei einem Bier in einer Kneipe plauderte – was für die damalige Zeit doch recht außergewöhnlich war. Außergewöhnlich war auch, dass der sonst so stille und zurückgezogen lebende Mann sich bei seinem Ärger über die damalige Schulreform sogar mit Kaiser Wilhelm II. anlegte.
Trotz des Arbeitseifers von Hermann Menge zerrten Schulreformen und Schulalltag an dem gesundheitlich angeschlagenen Mann. Außerdem sehnte er sich nach der ruhigen wissenschaftlichen Arbeit an seinem Schreibtisch. Um das Jahr 1900 erbat er sich mit 59 Jahren den Eintritt in den Ruhestand, was durch ein entsprechendes ärztliches Gutachten ermöglicht und bewilligt wurde. Auf der Suche nach einer passenden Wohnstätte für seinen „Lebensabend“ zog Menge zunächst von Wittstock nach Braunschweig und dann nach Bad Harzburg. Beide Städte waren ihm zu laut. Die gesuchte ruhige Arbeitsumgebung fand er schließlich in der Thomasstraße in Goslar, wo er bis zu seinem Heimgang lebte.13 Niemand hätte geahnt, dass hier das eigentliche Lebenswerk des nunmehr knapp 60 Jahre alten Philologen erst beginnen würde.
Die verändernde Kraft der Bibel
Das Vorbereiten von Andachten gehörte zum Arbeitsalltag von Hermann Menge. Er besuchte regelmäßig Gottesdienste und war, was seinen äußerlichen Lebenswandel betraf, vorbildlich. Menge konnte sogar bekennen, „daß die beiden Gymnasien, deren Leitung mir oblag, als besonders christliche Anstalten angesehen und geschätzt wurden“14. Dennoch musste er rückblickend beklagen, dass ihm „das Wesen des Christentums völlig fremd und ebenso unbekannt“15 war. Das biblische Wort, das er in Predigten und Andachten hörte, blieb ihm nur allzu oft dunkel und unverständlich.
Er schrieb, dass die Bibel ihm damals „geradezu ein mit sieben Siegeln verschlossenes Buch geblieben“16 ist, und beklagte darüber hinaus rückblickend, dass er „von der menschlichen Sündhaftigkeit und Schuld, von der Notwendigkeit der Erlösung, von dem ganzen Werke und Verdienste des Gottessohnes, von der Bedeutung seines Sterbens und seiner Auferstehung, vom wahren Glauben und wirklicher Buße (Bekehrung), kurz vom rechten Christentum durchaus keine irgendwie genügende Vorstellung und noch weniger eine“ sein „Herz bewegende Empfindung und lebendige Wirkung besaß“17. Vielmehr wurde er durch den „damals in vollster Blüte stehenden öden und herzerkaltenden Rationalismus“18 beeinflusst. Kurz vor seiner Pensionierung, bei der Vorbereitung einer Andacht im Herbst 1899 ging Menge jedoch ein Licht auf:
„… da trat mir die Erkenntnis von meiner Unbekanntschaft mit der Bibel in solcher Stärke vor die Seele, daß ich mich tief und aufrichtig zu schämen begann und den festen Entschluß faßte, mich dem Studium der Bibel, und zwar zunächst dem Neuen Testament, mit aller Kraft zu widmen. Ich erbat mir zur Ausführung meiner Absicht den göttlichen Beistand und fing an, zum erstenmal in meinem Leben im griechischen Neuen Testament zu lesen.“19
Menge erfuhr diese „Umkehr“ als „eine gewaltige, nicht plötzliche, sondern allmählich erfolgende Umwandlung“20, die sich in der Folgezeit durch das Durcharbeiten des griechischen Neuen Testaments vollzog. Dabei machte er sich Notizen und begann mit der Übersetzung, die ihn zunächst gar nicht zufriedenstellte. Doch diese Arbeit nahm ihn so in Besitz und erfüllte ihn mit so großer Freude, dass er bald nichts anderes mehr tat. Die fertige Übersetzung fand auch auf Anhieb einen Verleger und so erschien 1909 die erste Fassung des Neuen Testaments, übersetzt von Hermann Menge mit 40 Illustrationen von Franz Stassen. Der Verkauf lief schlecht, was Menge aber keineswegs bedrückte. Vielmehr kam er zu der Überzeugung, dass er bei dieser wichtigen Arbeit keine halben Sachen machen dürfe, und begann so mit der Übersetzung des Alten Testaments. Diesmal ging der nunmehr rund 70-jährige mit noch größerem Eifer ans Werk. Über 12 Jahre hinweg arbeitete er mit der ihm eigenen philologischen Erfahrung und Präzision fast Tag und Nacht unermüdlich an seiner Bibelübersetzung, die er 1922 mit großer Zufriedenheit fertigstellte. Er war durch diese Arbeit so geistlich gestärkt und erfüllt worden, dass er darin schon den ganzen Nutzen seiner Arbeit sah:
„… in meinem Herzen war das Licht aus der Höhe aufgegangen, so daß ich in Jesus Christus den Weg, die Wahrheit und das Leben erkannte und mir bewußt war, daß kein Name den Menschen gegeben ist, in dem sie selig werden sollen, als allein der Name Jesus. War mir durch diesen beglückenden Herzenszustand nicht der herrlichste Lohn zuteil geworden?“21
Und so landete die fertige Übersetzung der gesamten Bibel in seiner Schreibtischschublade! Menge bemühte sich nicht weiter um eine Veröffentlichung. Auf verborgene Weise gelangte das Manuskript aber dann doch noch zur Württembergischen Bibelgesellschaft. Die Resonanz war groß. Die Übersetzung wurde gelobt, fand weite Verbreitung und der Übersetzer erhielt von der theologischen Fakultät der Universität Münster die Ehrendoktorwürde für seine Arbeit. Hermann Menge verbesserte und überarbeitete seine Übersetzung beständig weiter, bis er am 1. Januar 1939 im Alter von fast 98 Jahren aufbrach zu dem, der seinem Leben fast 40 Jahre zuvor eine überraschende Wendung gegeben hatte – dem Verfasser des Buches, das Hermann Menge so liebte.
Die Bibelübersetzung
Hermann Menges Grundsätze bei der Arbeit an seiner Bibelübersetzung fasst Berthold Lannert kurz folgendermaßen zusammen:
„A. ,philologische Gründlichkeit‘; B. möglichst enger Anschluß an den Urtext; C. ,sinngetreue‘ Übersetzung; D. Übersetzung ,in ein verständliches und klares, auch von Fremdwörtern möglichst gereinigtes Deutsch‘; E. Versuch der ,Wiedergabe der Stimmung und Färbung‘ der Texte.“22
Der Altphilologe Menge schätzte die Lutherbibel sehr, doch er war auch der Überzeugung,
„daß die Übersetzung der Lutherbibel mancherlei Mängel und Unklarheiten enthält, die verbesserungsbedürftig sind, vor allem aber, daß nach Ablauf von vollen vier Jahrhunderten ihre Sprache veraltet ist, so daß manche Teile ohne Hilfsmittel überhaupt nicht mehr verstanden werden können“.23
Der spätere Ministerialrat im preußischen Kultusministerium, Hans Richert, ergänzt diese Ausführungen Menges:
„Auch darin hat er [Menge, Anm. J. O.] recht, daß die revidierte Lutherbibel ihren Zweck nur zum kleinsten Teil erreicht hat. Wer mit reifen Schülern an Anstalten, die kein Griechisch treiben, paulinische Briefe nach Luthers Übersetzung hat lesen müssen, wird die unnützen, nicht in dem Text, sondern in der Übersetzung liegenden Schwierigkeiten als schweres Hemmnis empfunden haben.“24
In diese Lücke, die auch mit der Revision von 1984 nicht wirklich kleiner geworden ist, tritt Menge mit seiner Übersetzung und füllt sie aus. Die „Menge-Bibel“ zeichnet sich auch heute noch durch einen gut lesbaren und flüssig geschriebenen Text aus. Richert urteilte weiter:
„Geschult durch seine philologischen Arbeiten, befruchtet durch die reiche Bibelliteratur der modernen Theologie, begabt mit feinem Stilgefühl, ausgezeichnet durch ästhetische Nachempfindung und geleitet durch starkes religiöses Gefühl, hat der Verfasser die schwere Aufgabe glücklich gelöst. Er sagt es selbst, was ihm als Ideal vorgeschwebt hat: er wollte seine Übersetzung nicht nur in ein verständliches modernes Deutsch kleiden, sondern auch auf die Wiedergabe der Stimmung und Färbung jedes Buches oder Abschnittes, ja jeder Stelle bedacht sein, um ebensowohl die unvergleichliche Einfalt und Natürlichkeit der Evangelien zum Ausdruck zu bringen, als auch den außerordentlich mannigfaltigen Stilformen der Briefe Rechnung tragen, welche die ganze Skala der Stimmungen, Gefühle und Leidenschaften durchlaufen und nicht nur belehren, ermahnen und bekennen, sondern auch der Liebe wie dem Zorn und der Bitterkeit, ebenso der jubelnden Freude wie dem wehmütigen oder herben Schmerze Ausdruckverleihen. Damit ist allerdings ein Ideal aufgestellt, das natürlich auch für diese Übersetzung eben ein Ideal geblieben ist. Denn dieses Ideal erreichen hieße die biblischen Schriften nachschaffen. Und das geht über die Kraft. Aber soviel kann gesagt werden, daß diese Übersetzung mit eigentümlichen Vorzügen gleichwertig neben die anderen guten Übersetzungen tritt.“25
Zu den „eigentümlichen Vorzügen“ gehört neben der flüssigen Sprache, die sich interessanterweise nicht selten aus der Nähe zum Grundtext ergab,26 sicher die zu pädagogischen Zwecken unternommene Gliederung des Bibeltextes durch erläuternde und zusammenfassende Überschriften sowie die erklärenden Anmerkungen im Text. Wo es Menge für nötig erachtete, fügte er alternative Übersetzungsmöglichkeiten hinzu, wie etwa in Röm 3,24 deutlich wird:
„und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.“ (Luther 1984)
„so werden sie umsonst (oder: geschenkweise = ohne eigenes Verdienst) durch seine Gnade gerechtfertigt vermöge (oder: aufgrund) der Erlösung, die in Christus Jesus (erfolgt) ist.“ (Menge)
Joh 3,16 liest sich bei Luther und Menge so:
„Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ (Luther 1984)27
„Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen (= einzigen) Sohn hingegeben hat, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren gehen, sondern ewiges Leben haben.“ (Menge)
Ein weiteres Beispiel aus Mk 11,1928 soll zeigen, dass Menge den Inhalt des biblischen Wortes manchmal genauer wiedergibt als Luther:
„Und abends gingen sie hinaus vor die Stadt.“ (Luther 1984)
„Und sooft es Abend geworden war, gingen sie (d.h. Jesus und seine Jünger) aus der Stadt hinaus.“ (Menge)
Dass Jesus mit seinen Jüngern Jerusalem abends immer verlies und am Morgen wieder in die Stadt zurückkehrte, wird uns bei Luther unterschlagen. Ein weiteres eindrückliches Beispiel für die Genauigkeit der Übersetzung Hermann Menges ist die Wiedergabe von ἐπιβαλὼν in dem Bericht der Verleugnung Jesu durch Petrus in Mk 14,72.29 Während Luther, wie die meisten deutschen Bibelübersetzer, dieses Wort einfach ignoriert, bietet Menge, auch wenn Schlachter sich an dieser Stelle bemüht, die wohl sinnvollste deutsche Übersetzung:
„Und er fing an zu weinen.“ (Luther 1984)
„Und er verhüllte sich und weinte.“ (Schlachter 1951)
„Als er daran dachte, brach er in Tränen aus.“ (Menge)
Wie Philipp Keller in seiner Untersuchung zeigt,30 gelingt es Menge aber offenbar auch nicht immer, den Inhalt besser wiederzugeben. Lannert bemängelt insbesondere im Blick auf das Alte Testament, dass Menge mitunter „den hebräischen Stil der Erzählung in seiner Eigentümlichkeit nicht“31 erfasst, und an einigen Stellen scheinbar eher dem Text der Septuaginta als dem hebräischen Grundtext folgt. So übersetzt Menge in Genesis 22,7 der Septuaginta folgend „Was willst Du, mein Sohn?“ statt „Hier bin ich, mein Sohn.“. Wo hier der Sinn des Textes verfälscht wird, leuchtet aber nicht so recht ein, auch wenn bei dieser Übersetzung gewisse Strukturelemente des hebräischen Textes verlorengehen.
Ungenauigkeiten macht Lannert auch in der Übersetzung der Psalmen aus. Er führt Ps 2,12 an, wo Menge wie Luther übersetzt: „Küsset den Sohn …“. Lannert hält sich demgegenüber an die Übersetzung der „Parallelbibel“ von 1887/1888: „Füget euch aufrichtig …“. Buber übersetzt hier: „Rüstet euch mit Läuterung …“. Delitzsch legt hingegen dar, dass die Übersetzung „Küsst den Sohn …“ im Sinne von „huldigen, ehren“ durchaus zutreffend ist.32
Weiterhin zeigt Lannert anhand der Übersetzung von Röm 7, dass die Menge-Übersetzung von der pietistischen Frömmigkeit des Übersetzers zur Zeit der Jahrhundertwende geprägt ist und in der Tradition der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts steht.33 So heißt es bei Menge in Röm 7,25:
„Dank sei Gott; (es ist geschehen) durch Jesus Christus, unsern Herrn! Also ist es so: Auf mich selbst gestellt diene ich mit der Vernunft dem Gesetz Gottes, mit dem Fleisch dagegen dem Gesetz der Sünde.“
Hermann Menge ist wie jeder andere Bibelübersetzer auch Kind seiner Zeit. So ist seine Übersetzung nicht frei von zeitlichen Einflüssen, die sich unter anderem in einer bestimmten Begrifflichkeit, wie etwa der Übersetzung von ἀκαθαρσία mit „Unsittlichkeit“, der Betonung der Sittlichkeit und Moral überhaupt sowie in einem gewissen „Standesdenken“ ausdrücken.
Dennoch liest sich die Menge-Bibel insgesamt flüssiger als etwa die Lutherübersetzung in der Revision von 1984. Ich schließe mich weitgehend dem Urteil von Philipp Keller an,34 der die Menge-Bibel schätzt, „um Zusammenhänge zwischen Abschnitten schnell zu erfassen – ohne lange Kommentare lesen zu müssen“ und zusammenfassend schreibt:
„Die Übersetzungsmethode Menges richtete sich nach der Art des Textes: Erzählungen übersetzte er flüssig und kommunikativ, bei Lehrtexten blieb er minutiös genau am Urtext und hat Übersetzungsvarianten aufgeführt, Psalmen hat er genau aber doch dramaturgisch geschickt gestaltet.
Die Menge-Bibel besticht durch ihre Liebe für das Detail. Man merkt: Menge hat sehr viel Zeit in seine Bibel investiert. Luther und Schlachter hatten nach Fertigstellung ihrer Übersetzung sich wieder der öffentlichen Verkündigung des Worts zugewandt. Menge hingegen blieb an seinem Schreibtisch und korrigierte bis zu seinem Tod“.
Martin Schweikert charakterisiert die Menge-Bibel folgendermaßen:
„In sprachwissenschaftlicher Hinsicht die wohl interessanteste Übersetzung. Menge war bemüht, so nahe wie möglich am Grundtext zu bleiben; trotzdem ist es ihm gelungen, ein flüssiges, leicht verständliches Deutsch zu schreiben. Zum Verständnis tragen hilfreiche Zusätze in Klammern bei, die das fortlaufende Lesen allerdings erschweren. Jedes Buch wird durch eine Gliederung eingeleitet, die im Buch selber wieder auftaucht, ergänzt durch noch ausführlichere Abschnittsüberschriften. Wenige sachliche Anmerkungen, auch Hinweise auf wörtliche oder andere Übersetzung. Im Anhang interessant: ‚Heilsgeschichtlicher Wegweiser‘ (umfangreiche Schlagwortkonkordanz zu theologisch oder anderweitig wichtigen Begriffen) und eine Zeittafel vom Auszug aus Ägypten bis ins 1. Jahrhundert n. Chr. Die relativ geringe Verbreitung hat wahrscheinlich in der bis heute beibehaltenen Frakturschrift ihren Grund. Man sollte sich aber dadurch nicht abhalten lassen, mit dieser wirklich guten Übersetzung zu arbeiten, insbesondere in der stillen Zeit und zu Studienzwecken.“35
Die Menge-Bibel ist keine vollkommene oder perfekte Bibelübersetzung und, wie ich oben versucht habe zu zeigen, gibt es durchaus umstrittene Passagen. Insgesamt bietet die Menge-Bibel aber eine Kombination aus flüssiger Sprache, Verständlichkeit und Nähe zum Urtext, die ich so bisher bei keiner anderen deutschen Bibelübersetzung gefunden habe. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass die Menge-Bibel in ihrer letzten Fassung nun auch schon fast 80 Jahre alt ist, was wiederum für die Qualität der Übersetzung und die Fähigkeiten des Übersetzers spricht.
Schluss: Ein stiller Verkündiger
Hermann Menge wollte hinter seinem Werk zurücktreten. Das ist ihm gelungen. Wirft man jedoch einen Blick auf den Mann hinter der bemerkenswerten philologischen Arbeit und hinter der wertvollen Bibelübersetzung, so trifft man wieder auf die Spuren Gottes, der einen erschöpften Rentner zu einer enormen Arbeitsleitung befähigte und den stillen und zurückhaltenden Menschen zu einem Verkündiger seines Wortes machte, der heute immer noch predigt. Im Vorwort zu der Erstausgabe seiner Bibelübersetzung 1926 schrieb Prof. Dr. Dr. Hermann Menge:
„Gott aber wolle in seiner Gnade denen, die mein Buch zur Hand nehmen, um seinen Inhalt auf sich wirken zu lassen, ein empfängliches Herz verleihen und in ihren Seelen den Ernst der Mahnung aufleuchten lassen: ‚Suche Jesum und sein Licht, alles andre hilft dir nicht!‘“
Paul Olbricht. Der Bibelübersetzer Hermann Menge: Sein Leben und sein Schaffen. Berlin: Furche-Verlag, 1939. S. 119. ↩
Ebd. S. 97. ↩
Ebd. ↩
Ebd. ↩
Zu nennen sind hier vor allem: Hermann Menge. Repetitorium der lateinischen Syntax und Stilistik. Erstmals erschienen 1873; jetzt erhältlich als: Thorsten Burkard, Markus Schauer. Lehrbuch der lateinischen Syntax und Semantik. 5. Aufl. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2012. Und: Hermann Menge. Repetitorium der griechischen Syntax. Erstmals erschienen 1878; jetzt erhältlich in der 12. Auflage (2011), herausgegeben von Andreas Thierfelder und Jürgen Wiesner. ↩
Die von Hermann Menges Schwiegersohn, Paul Olbricht, verfasste Biographie ist wohl die ausführlichste Quelle, die einen Einblick in Menges Leben gewährt. Es existiert zwar noch eine kurze Biographie von Fritz Schmidt-König (Fritz Schmidt-König. Hermann Menge: Vom Gymnasialdirektor zum Bibelübersetzer. St. Johannis-Druckerei, 1983.), die aber nur das Material von Paul Olbricht zusammenfasst und keine neuen Informationen bietet. Darüber hinaus schrieb Hermann Menge auf Bitten und Drängen einen kurzen Bericht darüber, was ihn zu seiner Bibelübersetzung bewegt hat (Hermann Menge. Wie ich zur Übersetzung der Heiligen Schrift gekommen bin. Stuttgart: Württembergische Bibelanstalt, o. J.). Anlässlich des 50. Todestages von Hermann Menge verfasste Berthold Lannert einen Artikel für die Zeitschrift für Theologie und Kirche, der vor allem auf den Charakter von Mengels Bibelübersetzung eingeht (Berthold Lannert. „Die Bibelübersetzung Hermann Menges zwischen Philologie und Theologie“. In: Eberhard Jüngel (Hrsg.). Zeitschrift für Theologie und Kirche. 86. Jg. Heft 3. 1989. S. 371–388.). Weiterhin sind zu nenen: Andreas Thierfelder. „Hermann Menge“. In: Bursians Jahrbericht 275. 1941. S. 59–64; Hermann Menge 1841–1939. Festschrift mit Beiträgen von Gerhard Müller, Georg Strecker, Sabine Glasenapp, Christian Tegtmeier, Gerhard Hillbrecht, Hans Deppe. Ev.-luth. Pfarramt zum Frankenberge, Goslar, 1989; Herbert W. Göhmann. Prof. D. Dr. Hermann Menge Philologe, Pädagoge, Bibelübersetzer. Herausgegeben vom Kirchenvorstand der Lutherkirchengemeinde Holzminden. Holzminden, 1993 sowie die folgenden Publikationen von Prof. Dr. Andreas Fritsch: „Hermann Menge als Pädagoge“. In: Der Altsprachliche Unterricht 30, Heft 3, 1987. S. 25–40; „Latein und Griechisch in der Defensive – Das Beispiel Hermann Menges“. In: Reinhard Dithmar und Hans-Dietrich Schultz (Hg.). Schule und Unterricht im Kaiserreich. Ludwigsfelde: Ludwigsfelder Verlagshaus, 2006. S. 83–108; „Hermann Menge“. In: Peter Kuhlmann und Helmuth Schneider (Hg.). Der Neue Pauly. Supplemente 1. Bd. 6: Geschichte der Altertumswissenschaften. Biographisches Lexikon. Metzler, 2012. Sp. 810–811. ↩
Paul Olbricht. A.a.O. S. 9. Menge litt als Kind u. a. an einem schweren Keuchhusten, in dessen Folge sein Gesicht durch eine starke Schwellung zeitweise entstellt wurde. ↩
Ebd. ↩
Ebd. S. 14. ↩
Ebd. S. 11. ↩
Gegenstand seiner Promotionschrift „De praepositionum usu apud Aeschylum“ (1863) war die Untersuchung der Verwendung von Präpositionen bei dem griechischen Dichter Aischylos. ↩
Hermann Menge. A.a.O. S. 9. ↩
Menge schrieb später über seine neue Wirkungsstätte: „Die Arbeit an meinem Schreibtisch bildet den Mittelpunkt all meines Denkens und Sorgens. Meine stille Klause in der Goslarer Thomasstraße ist mein Paradies auf Erden und soll es auch bleiben, bis sich mir die Pforten des himmlischen Paradieses auftun: Gottes Gnade wolle mir dort Eintritt gewähren.“ Paul Olbricht. A.a.O. S. 95. Dort lebte Menge richtig auf. Als Pfarrer Hans Dannenbaum (1895–1956) den 97-jährigen Hermann Menge besuchte, war er mehr als erstaunt, „als in seiner Studierstube nicht ein gebücktes und verhutzeltes Männchen saß, sondern ein ansehnlicher, immer noch stattlicher Mann, eines Hauptes länger als der Durchschnittseuropäer“. Ebd. S. 117. ↩
Hermann Menge. A.a.O. S. 5. ↩
Ebd. ↩
Ebd. S. 6. ↩
Ebd. ↩
Ebd. S. 4. ↩
Ebd. S. 7. ↩
Ebd. S. 4. ↩
Ebd. S. 11. ↩
Berthold Lannert. A.a.O. S. 376. ↩
Hermann Menge im Vorwort zur Erstausgabe seiner Bibelübersetzung 1926. ↩
Hans Richert. Rezension zu „H. Menge. Das Neue Testament“. In: R. Köpke und A. Matthias (Hg.). Monatschrift für höhere Schulen. 9. Jg. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung, 1910. S. 200. ↩
Ebd. ↩
Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen und Beispielen Berthold Lannert. A.a.O. S. 377ff. ↩
Luther 1912: „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“ ↩
Vgl. dazu Philipp Keller. „Menge-Bibel: Der Elchtest“. URL: https://deutsch.logos.com/2014/08/30/menge-bibel-der-elchtest/ [Stand: 13.03.2015]. ↩
Vgl. zur Übersetzung von ἐπιβαλὼν ausführlich: Erich Seitz. „Das rätselhafte ἐπιβαλὼν“. In: Albert Fuchs (Hrsg.). Studien zum Neuen Testament und seiner Umwelt. Serie A. Band 27. 1999. URL: http://kidoks.bsz-bw.de/frontdoor/deliver/index/docId/276/file/2002_199_211.pdf [Stand: 01.03.2016]. ↩
Philipp Keller. A.a.O. ↩
Ebd. S. 377f. Ob hier aber tatsächlich der Sinn des zu übersetzenden Textes verfälscht wird, wie Lannert behauptet, scheint mir mehr als fraglich. Auch wäre hier zu klären, ob Menge tatsächlich unfähig war, den hebräischen Erzählstil zu erkennen, oder ob er sich aufgrund einer flüssigeren Übersetzung für eine andere Übersetzungsvariante entschieden hat. Luther übersetzt an dieser Stelle übrigens genauso wie Menge. ↩
Vgl. Carl Friedrich Keil und Franz Delitzsch (Hg.). Biblischer Commentar über Das Alte Testament. Vierter Theil: Poetische Bücher. Erster Band: Die Psalmen. Leipzig: Dörflinge und Franke, 1883. S. 79f. ↩
Vgl. Berthold Lannert. A.a.O. S. 381ff. ↩
Siehe dazu und zu den folgenden Zitaten Philipp Keller. „Warum die Menge-Bibel in keiner Bibliothek fehlen sollte“ URL: https://deutsch.logos.com/2014/09/03/warum-die-menge-bibel-in-keiner-bibliothek-fehlen-sollte/ [Stand: 13.03.2015]. ↩
Martin Schweikert. „Bibelübersetzungen“. In: Biblisch Glauben Denken Leben. 4/1988. S. 5f. ↩