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Spiegel: „Wo es in der Bibel drunter und drüber geht.“

Der Spiegel lässt sich kaum eine Gelegenheit entgehen, kritisch über die Bibel oder den christlichen Glauben zu berichten. So überrascht der am 6. Mai 2009 unter der Rubrik Wissenschaft veröffentlichte Artikel mit dem Titel „Sexuelle Vergehen. Wo es in der Bibel drunter und drüber geht.“ wenig.

Wer sich dann allerdings den nachfolgenden Text zu Gemüte führt, wundert sich bald über die vorgeblich sensationellen Neuigkeiten. Ausgangspunkt der Berichterstattung ist ein jüngst erschienener Aufsatz des indischen Forensik-Professors Anil Aggrawal.

Auf seiner Suche nach den frühesten schriftlichen Belegen abnormen sexuellen Verhaltens will der indische Forscher auf die Texte des Alten Testaments gestoßen sein, in denen er eine Vielzahl von Paraphilien (sexuellen Perversionen) gefunden haben will. Positiv fällt bei dieser Herangehensweise natürlich auf, dass der Forensik-Professor die biblischen Berichte als authentische historische Texte ernst nimmt. Die konkrete Darstellung der einzelnen sexuellen Perversionen und ihrer zeitgeschichtlichen Deutung aber lässt zu wünschen übrig.

So überrascht es, dass der Forscher seine Arbeit damit begründet, dass er zu diesem Thema nur eine Veröffentlichung aus dem Jahr 1973 gefunden habe. Dabei existieren hunderte von Fachbüchern zur christlichen Sexualethik, die sich unter anderem natürlich auch mit den in der Bibel abgelehnten Sexualpraktiken beschäftigen. Möglicherweise hatte der Mediziner keinen Theologen herangezogen, der ihm bei der Literaturrecherche behilflich hätte sein können. So kommt es dann auch zu recht abenteuerlichen Interpretationen.

Aggrawal dokumentiert Fälle von Ehebruch, Inzest, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung (auch durch Gruppen), Transvestitismus, Voyeurismus, sexuelle Nötigung mittels Drogen, Sodomie, Exhibitionismus, Sadismus und Nekrophilie aus der Bibel.

Etwas spekulativ wird erklärt, Kain habe seine Kinder in einem Fall von Inzest mit einer Schwester gezeugt.

Etwas spekulativ wird erklärt, Kain habe seine Kinder in einem Fall von Inzest mit einer Schwester gezeugt. Nach dem biblischen Bericht wäre das durchaus denkbar, da damals lediglich Kinder Adams und Evas lebten. Allerdings wird auch erwähnt, dass Kain seine Frau in einem anderen Land suchte, was eher für keine enge verwandtschaftliche Beziehung spricht (1Mo 4,16f.). Da die Menschen jener Zeit allerdings mehrere hundert Jahre wurden, könnten bereits zahlreiche Nachkommen des Urmenschenpaares leben, sodass Kain lediglich eine entfernte Verwandte ehelichte. Tatsächlich war eine Ehe unter nahen Verwandten damals unbedenklich. Weder war sie zu diesem Zeitpunkt von Gott verboten (vgl. 3Mo 18,7-17), noch bestand die Gefahr genetischer Defekte, da alle Menschen kurz nach der Schöpfung noch über ein absolut fehlerloses Erbgut verfügten.

Vollkommen zurecht nennt Aggrawal dann die drängende Aufforderung der Frau des Potifar an Joseph – „Schlafe bei mir!“ – sexuelle Belästigung, zumal sie die Frau seines Chefs war (1Mo 39,7-20).

Die Verfluchung Hams und seines Sohns Kanaan, nachdem er seinen Vater Noah nackt in seinem Zelt betrachtete (1Mo 9,20-27), nutzt Aggrawal zu einem Seitenhieb auf frühere Rechtfertigungsversuche der Versklavung von Afrikanern, obwohl die natürlich im eigentlichen Bibeltext nicht zu finden sind. Allerdings fragt sich der Leser, wie der indische Forscher hier ein Beispiel für Voyeurismus begründen will. Denn von irgendeiner Art sexueller Reizung Hams ist in der Bibel nichts zu finden.

Den Wunsch der Salome, als Lohn für ihren Schleiertanz Johannes den Täufer zu enthaupten, wertet Aggrawal als Nekrophilie (sexuelle Beziehung zu Toten). Obwohl es durchaus naheliegt, dass Salomes Tanz vor ihrem Stiefvater Herodes Antipas auch einen gewissen sexuellen Aspekt hatte, geht ihr Wunsch nach dem Tod des Propheten Johannes weniger auf körperliche Anziehung sondern auf eine Intrige ihrer Mutter zurück, die den lästigen Kritiker vom Hals haben wollte (Mt 14,6-12). Von einer sexuellen Beziehung zwischen Salome und dem lebenden oder toten Johannes schweigen die Quellen.

Am Ende schlussfolgert der Forensiker gar, es sei „durchaus möglich, dass unser heutiges sexuelles Verhalten – wenngleich unterbewusst – von antiken Texten beeinflusst wird“.

Am Ende schlussfolgert der Forensiker gar, es sei „durchaus möglich, dass unser heutiges sexuelles Verhalten – wenngleich unterbewusst – von antiken Texten beeinflusst wird“. Demnach seien „antike religiöse Schriften noch immer die Hauptquellen der Verhaltensweisen, Vorstellungen, Ideale und Rationalisierungen, nach denen die meisten Individuen ihr Sexualleben gestalten“. Ob das wirklich der Realität entspricht, muss doch ziemlich bezweifelt werden. Einerseits sind die entsprechenden Texte einem Großteil der Bevölkerung weitgehend unbekannt. Außerdem prägen die allgegenwärtigen sexuellen Modelle der Massenmedien wohl weit stärker, zumal diese sexuellen Perversionen meist als bereichernd oder zumindest als faszinierend dargestellt werden. Darüberhinaus wird vergessen, dass gerade die biblischen Schriften alle genannten sexuellen Vorlieben verurteilen (z. B. 3Mo 18,1-30; 20,9-21).

Dass diese Perversionen im Alten Testament genannt werden, lässt doch lediglich darauf schließen, dass Menschen aller Zeiten dazu tendierten, mit der Sexualität zu experimentieren und dass die biblischen Autoren weltoffen genug waren, die sexuelle Realität ihrer Zeit wahrzunehmen, ohne sie eigenen Idealen entsprechend zu schönen. Wie weit verbreitet die entsprechenden sexuellen Praktiken tatsächlich waren, lässt sich höchstens erahnen. Unzweifelhaft fördern die biblischen Berichte aber keine sexuellen Perversionen, sondern lehnen sie ab, weil sie den Menschen auf Dauer schädigen und die von Gott gewollte Geschlechtlichkeit bedrohen. Sexuelle Perversionen können körperliche Schäden hervorrufen, sie machen den Ausübenden zumeist süchtig nach radikaleren Ausprägungen (vgl. François, Marquis de Sade) und belasten die Gesellschaft, weil sie deren Hauptträger, die Familie, unterminiert. Pervertierte Sexualität wird in der Bibel geradezu als kultische Handlung, als Götzendienst betrachtet (z. B. Röm 1,18-32). In der Bibel werden Menschen lediglich beschrieben, wie sie heute sind und wahrscheinlich wie sie schon immer waren.

Für den Spiegel Autor Markus Becker ging Aggrawal nicht weit genug. Er hätte demnach die „frommen Sittenwächter“ unserer Tage kritisieren sollen, die den Menschen vorenthielten, wie positiv die Bibel über Homosexualität und andere sexuelle Vorlieben berichten würde. Konkrete Belege bleiben auch hier natürlich auf der Strecke. Zugegeben, so ganz überzeugt liest sich auch der Artikel des Spiegel Redakteurs nicht. Überraschend bleibt, dass ein durchaus renommierter Wissenschaftsverlag („Journal of Forensic and Legal Medicine“, Elsevier-Verlags) ein wissenschaftlich so dürftiges Papier herausbringt.

Jedenfalls traf dieser Artikel trotz seines bescheidenen sachlichen Inhalts durchaus auf ein nicht unerhebliches Leserinteresse. Innerhalb von nur fünf Tagen wurden 132 Beiträge auf dem Spiegel Forum deponiert.

Sicher, sexuelle Themen reizen den potentiellen Leser, insbesondere, wenn diese mit Religion verbunden sind. Das verspricht für manchen schon einen Nervenkitzel von Heuchelei und Skandal. Positiv gewertete sexuelle Perversionen hingegen finden sich weit eher in hinduistischen, griechischen oder germanischen Mythen. Wenn beispielsweise Zeus regelmäßig fremde Frauen oder den jungen Ganymed verführt, wenn Aphrodite durch die sadistische Entmannung des Uranos gezeugt wird, wenn der griechische Seher Teiresias sich nacheinander in eine Frau und dann in einen Mann verwandelt, wenn indianische Schamanen sich als Transvestiten kleiden und nach Frauenrollen leben oder wenn der indische Gott Krishna Radha und andere verheiratete Frauen umwirbt. Im Kama Sutra wird Homosexualität als besondere Kunst beschrieben, wenn man sie richtig genießt.

Unter den Zuschriften der Leser sind sich nicht nur konstruktive Beiträge. Angriffe auf das katholische Zölibat finden sich da neben Kritik am Kreationismus und Zweifeln an der literarischen Qualität der biblischen Texte. Mysteriöse Hinweise auf Lilith, die „tausende geschwängert haben soll“, werden gleichwertig neben biblische Texte gestellt, obwohl sie im Zusammenhang mit der Schöpfung erst weit später im Midrasch (ab 70 n. Chr.) Erwähnung findet. Später wird auf vorgeblich pädophile Priester geschimpft. Hans Werner Degen schreibt:

„… nur Idioten nehmen die Geschichte [der Schöpfung] wortwörtlich!“

Die Erbsündenlehre sei erst von Augustinus erfunden weil dieser Probleme mit der Sexualität gehabt hätte. „Augustinus war bekanntlich eine Sexsau.“ „Moral predigen ist die beliebteste Methode, die eigene Unmoral zu vertuschen“, wirft reuanmuc christlichen Theologen vor. Treeman schreibt:

„Betrachten wir das Alte Testament doch einfach als das, was es ist: ein Gesetzbuch für ein seminomadisches Hirtenvolk. Von Ziegenhirten für Ziegenhirten.“

Bei dieser Sammlung antireligiöser Äußerungen stellt sich ganz natürlich die Frage, ob nicht gerade solche Spiegel-Veröffentlichungen maßgeblich zu einer Verbreitung von Halbwissen und von Vorurteilen gegenüber der biblischen Überlieferung beitragen. Und wieder einmal bleibt nichts anderes übrig, als die intellektuellen Scherben aufzusammeln und interessierten Zeitgenossen zu helfen, Behauptungen und Vorwürfe gegen die Bibel von sachlichen Fakten zu trennen.

Quelle des Spiegel-Artikels (Stand: 19. Mai 2015): Sexuelle Vergehen: Wo es in der Bibel drunter und drüber geht