Frage: Die Schwagerehe in 5Mo 25 diente offenbar dazu, dass die Witwe materiell versorgt ist. Aber ist das nicht Polygamie? Steht die Schwagerehe nicht im Widerspruch zur ursprünglich von Gott eingesetzten Einehe? Ein Jude, der zu Paulus’ Zeiten zum Glauben gekommen ist, und der die Leviratsehe praktiziert hat, entsprach damit nicht mehr den Kriterien für Aufseher in 1Tim 3 („Mann einer Frau“). Warum konnte die soziale Absicherung der söhnelosen Witwe nicht auch anders organisiert werden, ohne dass der Bruder ihres verstorbenen Mannes gleich „zu ihr eingeht“?
Antwort:
Bei der Schwagerehe geht es, anders als in der Frage angedeutet, nicht um die materielle Versorgung einer kinderlosen Witwe. Dass ein Bruder seine verwitwete Schwägerin zur Frau nehmen sollte, wenn sie keine Kinder hatte, hatte den Sinn, dem verstorbenen Bruder einen Nachkommen zu zeugen und so zu verhindern, dass der Name – also die Familienlinie – des Bruders ausstarb. Diese Ordnung bestand schon vor der Regelung im Gesetz (5Mo 25,5-10), wie aus 1Mo 38 hervorgeht.
Dort wird am Handeln Onans auch die Motivation der Schwagerehe deutlich. Als er für seinen erstgeborenen Bruder Er seiner Schwägerin Tamar einen Nachkommen zeugen soll, verhindert er das mit der Begründung, dass die mit Tamar gezeugten Kinder nicht als seine Kinder gelten werden, sondern als Kinder seines Bruders Er. Der hatte das Erstgeborenenrecht (auch im Gesetz 5Mo 21,15-17), in dessen Vorteil dann „sein” erstgeborener Sohn kommen würde. Gäbe es keine Nachkommen, so käme Onan als Zweitgeborener in den Genuss. Gott bestrafte dann übrigens nicht in erster Linie den unterbrochenen Beischlaf (coitus interruptus) oder die vermeintliche Selbstbefriedigung (Onanie) mit dem Tod, sondern seine Berechnung im Blick auf das Erstgeborenenrecht.
Tamar den dritten Sohn vorzuenthalten, war bei Juda ebenso von dem Gedanken motiviert, er könne, wenn auch dieser Sohn als Mann der Tamar stirbt, seinen letzten Nachkommen verlieren. Alle Beteiligten denken also nicht an die Versorgung der Witwe, die wieder in das Haus ihrer Eltern zurückkehren soll und dort versorgt wird (1Mo 38,11), sondern an die Familienlinie. Die wird dann durch die unter zweifelhaften Umständen mit dem Schwiegervater gezeugten Zwillingssöhne Perez und Serach fortgeführt (siehe auch 1Chr 2,3+4). Wie wichtig allen dabei das Erstgeborenenrecht war, zeigt die Geschichte mit dem roten Faden am Handgelenk des Serach. Trotzdem wird Perez, der sich gewissermaßen vordrängelt, der Erste. Dass diese Geschichte mitten in die Josefserzählung platziert ist, unterstreicht damit Gottes Fürsorge für den Erstgeborenen von Jakob und Rahel.
Obwohl normalerweise eine Ehe mit dem Schwager verboten war, weil die Ehe Blutsverwandtschaft begründet (3Mo 18,18), war sie im Fall der Schwagerehe bei Kinderlosigkeit erlaubt und geboten. Wer sich im besonderen Fall weigerte, seine Schwägerin zu heiraten und den „Namen seines Bruders in Israel zu erhalten”, der lud Schande auf sich (5Mo 25,9). Wenn der Schwager selbst schon verheiratet war, dann wird damit auch das ursprüngliche Prinzip der Einehe, das aber nicht Teil des sinaitischen Gesetzes war (etwa auch 5Mo 21,15-17), zurückgestellt. Warum die Monogamie im Alten Bund nicht auch im Gesetz verordnet ist, ist eine interessante Frage. Vielleicht liegt ein Grund auch in der Wichtigkeit der Weiterführung der Geschlechterfolge.
Es ist noch nicht so lange her, dass auch in unserer Gesellschaft die Freude über die Geburt des männlichen „Stammhalters” besonders groß war. Seit kurzem liegt vielen Menschen an Nachkommen nur soviel, wie diese zur Selbstverwirklichung oder Steigerung der eigenen Lebensqualität beitragen. Deswegen werden jährlich zehntausende Kinder im Mutterleib getötet. Es erscheint für nicht wenige (jedenfalls vordergründig) sogar kein Problem zu sein, überhaupt keine Nachkommen zu haben. Die Frage ist also: Warum war es für die Angehörigen des Volkes Gottes so wichtig, dass ihre Familienlinie nicht ausstarb?
Neben einer viel größeren Bedeutung der Familie und Sippe nicht nur auf wirtschaftlichem Gebiet, die wir stark individualistisch denkenden Menschen kaum ermessen können, sehe ich den entscheidenden Grund in der Erwartung des Messias Gottes, der ein Mensch im Volk Israel sein sollte. Gott hat immer wieder verheißen, dass ein Retter kommen sollte und dass dieser ein Mensch ist, von Menschen geboren. Das Versprechen an Abraham heißt, dass alle Menschen auf der Erde durch seine leibliche Nachkommenschaft und – wie Paulus Gal 3,6-16 feststellt – einen einzigen Menschen kommen sollte. Ein Prophet wie Mose soll mitten aus dem Volk aufstehen. Für immer wird ein Nachkomme Davids auf dem Thron Israels sitzen. Keine Linie sollte aussterben, denn eine davon konnte erwählt sein, dem Messias das Leben zu schenken.
Dafür legt auch das Buch Ruth ein Zeugnis ab. Noomis Freude über den „Löser”, der ihr als Nachkomme ihrer verwitweten Schwiegertochter und dem Sippenangehörigen Boas geboren wird, ist groß. Die Nachbarinnen sagen: Noomi ist ein Sohn geboren (4,17), obwohl Obed doch Ruths Sohn ist. Boas hatte ebenso ausdrücklich darauf hingewiesen, dass er den Namen der verstorbenen Männer der Familie erhalten wollte und bekommt den Segen: „Dein Haus werde wie das Haus des Perez, den Tamar dem Juda gebar”. Schließlich wird der Sohn Obed zum Stammvater für David. Und in die Stammtafel Jesu Christi sind beide Glieder eingegangen. Auch das spätere Judentum hat sich die Erwartung des Messias als Sohn vielleicht der eigenen Familie erhalten.
Mit dem Kommen des Messias ist das Gesetz über die Schwagerehe erfüllt und soll von Christen nicht mehr befolgt werden. Gott würdigt aber jeden glaubenden Menschen weiterhin besonders. Wir werden zwar nicht zur Stammfamilie für den Retter, aber wir sind seine Zeugen und Mitarbeiter. Durch den Mund von Menschen wird das Evangelium weitergetragen und schafft sich Frucht zum ewigen Leben. Wer ein Zeuge Jesu ist, wird zum Vater und zur Mutter für Kinder im Glauben, die in Ewigkeit bei Gott sind (1Kor 4,17; Gal 4,19; 1Tim 1,2.18; 2Tim 1,2; Tit 1,4; Phil 10).