Fünf minus eins ist gleich null
Dwight L. Moody, der „Billy Graham des 19. Jahrhunderts“, erzählt, wie die christliche Lehre von der Liebe sein Leben veränderte. Alles begann damit, als der 27-jährige britische Evangelist Henry Moorhouse eine Woche lang in der Moody-Gemeinde predigte. Zum Erstaunen aller predigte Moorhouse sieben Mal nacheinander über Johannes 3,16. Um zu beweisen, dass „Gott die Welt so geliebt“ hat, predigte er über Gottes Liebe, von der die Bibel von der Schöpfungsgeschichte bis zur Offenbarung erzählt. Moodys Sohn berichtet, wie sehr Moorhouses Predigt seinen Vater beeindruckte:
„Sechs Abende lang hatte er über diesen Text gepredigt. Als er am siebten Abend auf die Kanzel ging, waren alle Augen auf ihn gerichtet. Er sagte: ‚Liebe Freunde, ich habe den ganzen Tag nach einem neuen Text gesucht, aber keiner ist so gut wie der alte Text; also werden wir uns wieder dem 16. Vers des dritten Kapitels des Johannesevangeliums zuwenden.‘ Dann hielt er seine siebte Predigt über jene wunderbaren Worte: ‚Denn so hat Gott die Welt geliebt.‘ Am Ende der Predigt sagte er: ‚Meine lieben Freunde, ich habe euch eine ganze Woche lang versucht zu erklären, wie sehr euch Gott liebt, aber ich kann nur stottern. Hätte ich Jakobs Leiter, um zum Himmel hinaufzusteigen und könnte Gabriel, der in der Gegenwart des Allmächtigen steht, bitten, mir zu sagen, wie viel Liebe der Vater für die Welt hat, dann könnte er nur sagen: Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.“1
Moody konnte die Tränen nicht zurückhalten, als Moorhouse darüber predigte, dass Gott die Menschen so sehr geliebt hat, dass er seinen einzigen Sohn sandte, um für die Sünder zu sterben. Moody bekannte:
„Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich nicht gewusst, wie sehr Gott uns liebte. Mir wurde ganz warm ums Herz, und ich konnte die Tränen nicht zurückhalten. Das war wie eine Nachricht aus einem fernen Land: Ich sog alles auf. Und das tat auch die versammelte Gemeinde. Es gibt etwas auf der Welt, das alles in den Schatten stellt, und das ist die Liebe.2
Moody, der von Moorhouse so beeindruckt war, begann sich näher mit der christlichen Lehre von der Liebe zu beschäftigen. Dies veränderte sein Leben und seine Predigten. Später sagte er:
„Ich begann das Wort ‚Liebe‘ näher zu betrachten. Ich weiß nicht, wie viele Wochen es dauerte, bis ich alle Bibelverse gelesen hatte, in denen das Wort erwähnt wird. Zum Schluss konnte ich gar nicht anders, als die Menschen zu lieben! Ich hatte mich so viel mit dem Thema Liebe beschäftigt, dass ich jedem, dem ich begegnete, etwas Gutes tun wollte. Die Liebe erfüllte mich ganz, und ich konnte sie nicht zurückhalten. Wenn man sich mit dem Thema Liebe in der Bibel beschäftigt, dann ist man so davon durchdrungen, dass man danach nur noch über die Liebe Gottes sprechen kann. Christlicher Dienst ohne Liebe ist völlig wertloEin Arzt oder ein Rechtsanwalt könnte ohne Liebe gute Arbeit leisten, aber Gottes Arbeit kann nicht ohne Liebe getan werden.3
D. L. Moody hätte biblisch nicht korrekter sein können, als er sagte: „Gottes Arbeit kann nicht ohne Liebe getan werden.“ Genau das ist die Botschaft des bekanntesten Kapitels über die Liebe in der Bibel, nämlich 1. Korinther 13.
Der bessere Weg
Man stimmt allgemein darin überein, dass Paulus der größte erste Missionar, Gelehrte, Lehrer, Evangelist und Glaubensheld ist. Trotzdem wusste er, dass sein Scharfsinn, seine vielseitige Begabung und aufopfernde Hingabe nichts wert ist, wenn die Liebe ihn nicht vollkommen durchdringt. Kein anderer Schreiber des Neuen Testaments sprach mehr über die Liebe und lieferte mehr praktische Beispiele für christliche Leiterschaft als PauluMit Paulus’ Briefen und seinem lebenslangen geistlichen Dienst schenkte Gott seiner Gemeinde und allen christlichen Leitern und Lehrern ein Vorbild für liebevolle christliche Leiterschaft. In der ganzen Heiligen Schrift wird nirgends so klar und deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Liebe für die Gemeindeleitung und deren Unterweisung unverzichtbar ist, wie in 1. Korinther 13.
Paulus schrieb dieses Kapitel nach einem Streit über geistliche Gaben in der Gemeinde von Korinth. Um die falschen Ansichten der Gemeinde über Geistesgaben und ihr insgesamt selbstzerstörerisches Verhalten zu korrigieren, versprach Paulus den Korinthern, ihnen „einen besseren Weg“ zu zeigen (1Kor 12,31). Sie sollen verstehen, dass es etwas weitaus Wichtigeres gibt als übernatürliche Gaben. Etwas, das die hervorragendsten Gaben übersteigt und ohne das sie alle wertlos sind. Dieses Etwas ist die Liebe.
Die Liebe, von der Paulus spricht, ist in erster Linie die Liebe zu anderen Gläubigen. Als Jesus nämlich allen seinen Jüngern ein neues Gebot gab, erklärte er, dass sie sich gegenseitig so lieben sollen „wie er“ sie geliebt hat (Joh 13,34-35). Diese Liebe opfert sich vollkommen für den Nächsten auf. Jesus brachte diese Liebe zum Ausdruck, indem er demütig die Füße der Jünger wusch (Joh 13,4-7) und für andere Menschen sein Leben am Kreuz opferte. Johannes drückt es so aus:
„Hieran haben wir die Liebe erkannt, dass er für uns sein Leben hingegeben hat; auch wir sind schuldig, für die Brüder [und Schwestern] das Leben hinzugeben“ (1Jo 3,16).
Um jeden Zweifel auszuräumen, dass die Liebe tatsächlich der weitaus bessere Weg ist, und um die Korinther von ihren falschen Vorstellungen über Geistesgaben zu korrigieren, erklärt Paulus mit seiner ganzen Redekunst und mit ganzer Kraft, dass die Liebe der weitaus bessere Weg ist. Er schreibt:
„Und ich will euch einen noch besseren Weg zeigen. Wenn ich in Sprachen der Menschen und Engel rede, aber keine Liebe habe, so bin ich ein tönendes Erz geworden oder eine schallende Zimbel. Und wenn ich Weissagung habe und alle Geheimnisse und alle Erkenntnis weiß und wenn ich allen Glauben habe, so dass ich alle Berge versetzte, aber keine Liebe habe, so bin ich nichtUnd wenn ich all meine Habe zur Speisung austeile und wenn ich meinen Leib hingebe, damit ich verbrannt werde, aber keine Liebe habe, so nützt es mir nichts“ (1Kor 12,31–13,3).
Für ein besseres Verständnis dieser Verse wollen wir sie näher betrachten.
Ohne Liebe macht sogar die himmlische Sprache nur Lärm
Die geistlichen Gaben sollten zur Erbauung und Einheit des Leibes, der Gemeinde, dienen. Doch die Begeisterung der Korinther über die übernatürliche Gabe des Zungenredens verursachte in der Gemeinde nur Stolz und Streit. Die Korinther gebrauchten ihre Gaben zur eigenen Befriedigung. Das spaltete die Gemeinde. 
Um diesen Irrtum zu korrigieren, nimmt Paulus mal an, er sei der „begabteste Zungenredner der Welt,4 der fließend in „Zungen der Menschen und Engel“ reden kann. Solch eine Gabe hätte die Korinther sehr beeindruckt. Paulus jedoch erklärt, dass er, auch wenn er solch eine wunderbare himmlische Gabe besäße, nur ein „tönendes Erz oder eine schallende Zimbel“ wäre – d.h., ein störendes, lautes, leeres Geräusch – wenn er, gemäß Vers 4 bis 7, keine Liebe hätte. Ohne jene barmherzige Liebe wäre seine wunderbare Gabe des Zungenredens nur ein Krampf.
Paulus sagt, dass nicht nur seine Sprache nur Lärm macht, sondern dass er selbst ein hohles, schallendes Geräusch ist. Ohne Liebe wäre er nicht das, was er sein sollte. Als Christ würde ihm deutlich etwas fehlen; und er würde nicht gemäß dem „besseren Weg“ leben, weil er ein liebloser Zungenredner wäre. Er würde die Gabe des Zungenredens benutzen, um sich selbst zu groß zu machen und nicht um der Gemeinde und zu ihrer Erbauung zu dienen, was die eigentliche Absicht der Liebe ist (1Kor 8,1).
Wenn ich in Predigten oder Vorträgen über dieses Kapitel spreche, gebrauche ich oft Anschauungsmaterial. Ich hole hinter der Kanzel einen Blechtopf und einen Hammer heraus und fange an, auf den Topf zu schlagen, während ich über Geistesgaben und die Notwendigkeit der Liebe spreche. Am Anfang lachen die Leute. Sie denken, dass es eine wunderbare Illustration ist. Aber ich mache weiter. Während ich auf den Topf schlage, spreche ich über geistliche Gaben. Es dauert nicht lange, bis die Leute nicht mehr lachen. Sie sind genervt, verärgert und regen sich immer mehr auf, aber ich schlage weiter auf den Topf. Wenn ich merke, dass sie es nicht länger aushalten, höre ich auf und frage: „Sind Sie verärgert? Genießen Sie es? Gefällt es Ihnen? Finden Sie es erbaulich? Möchten Sie, dass ich für den Rest der Rede weiter auf den Topf schlage?“ Jeder möchte, dass ich aufhöre und dann erkläre ich ihnen, dass sie auf andere und Gott genauso wirken, wenn sie ihre Gaben ohne Liebe einsetzen. Sie sind nichts anderes als „ein tönendes Erz und eine schallende Zimbel“.
Ohne Liebe ist alle Erkenntnis nutzlos
Paulus spricht als Nächstes darüber, was wäre, wenn er die Gabe der Prophetie besäße, und zwar so vollkommen, dass er „alle“ Geheimnisse und „alle“ Erkenntnis wüsste. Er wüsste auf alle Fragen eine Antwort. Er wäre ein wandelndes, sprechendes Lexikon.
Manche Menschen stellen gerne ihren Intellekt und ihre theologische Überlegenheit zur Schau. Sie sind stolz auf ihr Wissen und ihre Redegewandtheit. Dieser Stolz war in Korinth zu einem ernsten Problem geworden. Manche Gläubige waren aufgrund ihres Wissens arrogant und prahlten vor lauter Selbstgefälligkeit. Sie wollten wegen ihrer prophetischen Erkenntnis und großen Weisheit bewundert werden. Auf andere mit weniger Wissen und Begabung schauten sie herab. Mit ihrem Hochmut über ihre Erkenntnis verletzten sie den Leib, die Gemeinde (1Kor 8).
Erkenntnis ohne Liebe bläht den Menschen auf und verwirrt seinen Verstand. Dies kann dazu führen, dass man intellektuell überheblich wird, andere spöttisch behandelt, sich über andere Ansichten lustig macht, andere mit weniger Wissen und anderer Meinung verachtet und beleidigt. Ich kenne einen Pastor, der ein unglaubliches Bibelwissen hat, aber viele Menschen mit seiner arroganten Rechthaberei verletzte und seine eigene Gemeinde immer wieder spaltete, bis er allein war. Er hatte zwar viel im Kopf, aber ein kleines Herz. Seine Theologie war so klar wie Eis, aber doppelt so kalt. So entwickelt sich ein Mensch, der viel weiß, aber keine Liebe hat.
Paulus erklärt daher, dass er ohne die Liebe gar nichts wäre – eine geistliche Niete –, auch wenn er vollkommene Erkenntnis besäße. Er betont, dass ein liebloser Prophet, ein liebloser Gelehrter oder Lehrer für die Gemeinde Gottes wertlos ist. Nach John Short hat die Geschichte das bewiesen:
„Durch die Jahrhunderte hindurch waren liebloser Glaube und liebloses Predigen verantwortlich für so manche Tragödie in der Kirchengeschichte. Es wurden sogenannte Ketzer verbrannt, und die ernsthafte Suche nach der Wahrheit wurde unterdrückt. Durch Lieblosigkeit entbrannten heftige Kontroversen, die alles schlimmer machten, und am Ende behandelten sich sogar die Christen untereinander schlecht.“5
Eine ähnliche Beobachtung machte auch George Sweeting, der ehemalige Präsident des Moody Bible Instituts:
„Ich bin tief enttäuscht, dass es Menschen gibt, die sich mehr um die verborgenen Geheimnisse der Bibel kümmern als um Menschen in Not … Christen machen sich oft zu viele Gedanken um verborgene Wahrheiten der Bibel und haben für schwierige Menschen zu wenig Liebe übrig.“6
Nur in Verbindung mit der Liebe kann die Erkenntnis gemäß dem „besseren Weg“ für eine Gemeinde erbaulich sein und sie schützen (Eph 4,11-16).
Ohne Liebe ist ein risikobereiter Glaube wertlos
Die dritte geistliche Gabe, die Paulus erwähnt, ist der Glaube (1Kor 12,9). Er stellt sich vor, die größte aller denkbaren Gaben zu besitzen, mit der er sogar „Berge versetzen“ könnte. Wie Abraham würde er Gott das Unmögliche zutrauen, Wunder zu vollbringen. Er wäre ein machtvoller Beter, ein geistlicher Draufgänger, so eine Art Georg Müller,7 der von allen bewundert und geschätzt wird. Er wäre ein mutiger David, der in den Kampf zieht, um den Philister und Riesen Goliath zu töten (1Sam 17,32). Diese mächtige geistliche Gabe wäre ohne Liebe jedoch nur ein Mittel, um sich selbst groß zu machen. Für andere Menschen wären sie wertlos.
Einige „Wundertäter“ im Fernsehen behaupten, dass ihr Glaube Unmögliches vollbringt, aber sie sprechen mehr über Geld, Erfolg und sich selbst als über die Menschen, denen sie eigentlich helfen sollten. Wie die Pharisäer, die sich selbst zur Schau stellten, wollen sie „von den Menschen gesehen“ werden (Mt 6,5). Es gefällt ihnen, von anderen gelobt und für geistliche Helden gehalten zu werden, die für Gott große Taten vollbringen. Sie benutzen ihre wunderbaren Gaben, um nur sich selbst und nicht den Leib Christi zu fördern.
Ich erinnere mich an einen Radioprediger, der oft über die großartigen Dinge sprach, die Gott durch seine Sendung tat, und wie Gott ihm wie durch ein Wunder Geld gab, ohne dass er darum bitten musste (was er hiermit auf eine subtile Art aber tat). Jeder, der diesen Mann persönlich kannte und für ihn arbeitete, hatte ein anderes Bild von ihm. Sie kannten ihn als einen Mann, der von Geld und Ansehen in der Öffentlichkeit besessen war. Sie sahen, wie er seine Gabe des Glaubens dazu benutzte, um seine eigene finanzielle Sicherheit zu garantieren. Er war für sie ein Mann, der sich überhaupt nichts aus anderen Menschen machte, sondern nur um sich selbst besorgt war. Es ist kein Wunder, dass Paulus so nachdrücklich betont, dass solch eine mächtige Gabe ohne Liebe „nichts“ wert ist. Paulus wusste, dass er ohne Liebe mehr tot als eine lebendige geistliche Kraftquelle wäre.
Ohne Liebe ist ein christlicher Leiter in seinem Glaubensleben auf dem falschen Weg. Aber Glaube, verbunden mit Liebe, baut den Leib Christi auf und bringt ihn auf den königlichen, den „besseren“ Weg.
Ohne Liebe ist alles Geldspenden an Arme wertlos
Als Nächstes überlegt Paulus, wie es wohl wäre, seinen ganzen weltlichen Besitz – sein Zuhause, sein Vermögen, seine Möbel und alle wertvollen Dinge – an die Armen zu verschenken. Er gibt alles weg, um vollkommen arm zu sein. Natürlich wäre das eine außerordentlich selbstlose Tat. Würde nicht allein schon das Liebe bedeuten? Nicht unbedingt. Paulus macht deutlich, dass sogar die selbstloseste Tat ohne Liebe getan werden kann.
Selbstaufopferung kann aus Eigeninteresse geschehen, wie die Geschichte von Hananias und Saphira in der Apostelgeschichte zeigt. Dieses Paar verkaufte sein Eigentum und gab das Geld den Aposteln für die Armen (Apg 5,1-11). Die beiden taten dies jedoch ohne Liebe. Ihre Sorge galt nicht wirklich den Armen, sondern nur sich selbst. Sie liebten weder Gott noch ihren Nächsten. Wie jene Pharisäer, die Jesus in der Bergpredigt verurteilte, weil sie ihre Taten herumposaunten, opferten auch Hananias und Saphira nur, um in der Gemeinde angesehener zu sein. Sie spendeten, damit die Menschen sie bewunderten, denn ihre Liebe war heuchlerisch (Röm 12,9). Sie gaben den Armen, jedoch ohne die echte, innere motivierende Kraft der Liebe. Somit nutze ihre Opfergabe ihnen nichtObwohl sie den Armen Geld gaben, waren sie geistlich bankrott, und Gott lehnte ihr Geschenk ab.
Daher sagt Paulus, auch wenn er seinen ganzen Besitz den Armen gäbe, aber keine Liebe hätte, wäre alles sinn- und nutzlos und für die Ewigkeit völlig ohne Wert. Trotz dieser Opfergabe wäre er ein geistlich bankrotter Mann. Er würde nicht anderen Menschen demütig dienen, sondern nur sich selbst.
Wird jemand hingegen von der Liebe getrieben, um die Not der Armen zu lindern, dann profitiert jeder von dem Geschenk. Genau diese Liebe war es, die den Herrn Jesus Christus motivierte, seinen ganzen himmlischen Reichtum aufzugeben und sich für uns arm zu machen. Aus diesem Grund hat „Gott ihn auch hoch erhoben und ihm den Namen verliehen, der über jeden Namen ist“ (Phil 2,9). Jesu Opfergabe entsprach dem „besseren Weg“.
Das eigene Leben ohne Liebe zu opfern ist sinnlos
Schließlich denkt Paulus darüber nach, wie es wäre, als Märtyrer zu sterben. Er opfert sich für Christus und übergibt seinen Körper den schmerzenden Flammen des Feuers. Andere Gläubige würden durch so ein Opfer natürlich ermutigt werden, treu im Glauben zu bleiben, und es würde sie zu größerer Hingabe inspirieren. Für Nichtgläubige wäre es ein machtvolles Zeugnis für das Evangelium. Aber Paulus weist darauf hin, dass sogar Leiden und Martyrium für Christus aus falschen Motiven heraus geschehen können.
Einige Menschen sind sehr stolz darauf, für ihren Glauben zu leiden. Andere wollen mit ihrem Tod als Glaubenshelden in die Geschichte eingehen. Am Anfang des Christentums war das Martyrium manchmal ein Mittel, um berühmt zu werden. Ein Historiker bemerkt dazu: „Schon bald wurde allen Christen klar, dass das Martyrium mit außergewöhnlichem Ruhm und Ehre verbunden war.8
Einige Märtyrer, wie Ignatius, standen schon vor ihrem Martyrium in hohem Ansehen. Auch wenn Ignatius mit seinem Martyrium nicht auf persönliche Anerkennung aus war, könnten manche sehr wohl in der Gefahr gestanden haben, als Märtyrer für Christus ehrenvoll in die Kirchengeschichte einzugehen. Polycarp wurde lebendig verbrannt. Man sagt über ihn, dass seine Knochen „wertvoller als die wertvollsten Steine waren und feiner als das feinste Gold“ und sein Grab wurde ein heiliger Ort, an dem man sich versammelte.9 Weil Paulus die Gefahr dieser Verherrlichung erkannte, musste er betonen, dass das Opfer des eigenen Lebens ohne Liebe ein wertloses Opfer ist, lediglich eine leere, religiöse Show, eine inhaltslose Vorstellung.
Wenn das Wohl anderer und die Herrlichkeit Christi die Motivation für die Selbstaufopferung sind, dann ist das Martyrium das größte Liebesopfer. Jonathan Edwards fasst in seinem Buch Charity and Its Fruits zusammen, was Gott über Liebe und Selbstopferung sagt:
„Gott freut sich über die kleinen Dinge, wenn sie aus echter Liebe zu ihm geschehen. Aus Liebe einem Jünger ein Glas kalten Wassers geben, ist in Gottes Augen mehr wert als alle Güter, ja, sogar als alle Reichtümer eines Königreiches, die ohne Liebe den Armen gegeben werden, oder ein Leib, der den Flammen übergeben wird.“10
Nur wenn das Martyrium aus Liebe zu Gott und den Mitmenschen geschieht, dann ist es der „bessere Weg“.
Göttliche Mathematik
Stellen Sie sich einen Moment vor, was die Korinther gedacht haben müssen, als sie zum ersten Mal Paulus’ Worte hörten, als die beim Gemeindetreffen öffentlich vorgelesen wurden. Sie konnten es wahrscheinlich nicht glauben! Die Botschaft von Paulus stand im totalen Gegensatz zu ihrem Denken und Verhalten. Ihnen fehlte die Liebe, und sie merkten es nicht einmal! Ihre Erkenntnis und ihre wundersamen Gaben hatten sie verführt und stolz gemacht.
D. A. Carson, Bibelausleger und Professor des Neuen Testaments an der Trinity Evangelical Divinity School, nennt Paulus’ Gedanken in diesem Abschnitt „göttliche Mathematik“. Gemäß der göttlichen Mathematik ist „fünf minus eins gleich null.11 Oder wie George Sweeting sagt:
„Alle Gaben minus Liebe gleich null.“12
Der Schriftsteller Jerry Bridges veranschaulicht die göttliche Mathematik, indem er seine Leser bittet, Folgendes zu tun:
„Schreiben Sie auf ein Blatt oder in Gedanken eine Reihe Nullen. Schreiben Sie eine ganze Zeile auf. Was ist die Summe? Natürlich Null! Auch wenn Sie eintausend Nullen aufschreiben würden, ergäbe es die Summe Null. Aber wenn nur eine positive Zahl davor steht, ergibt es sofort einen Wert. Genauso ist es auch mit unseren Gaben, dem Glauben und der Hingabe. Sie stellen die Nullen auf unserem Blatt dar. Ohne Liebe haben sie gar keinen Wert. Wenn jedoch Liebe davor gesetzt wird, haben sie sofort einen Wert. Und genauso wie die Zahl zwei vor der Reihe von Nullen einen höheren Wert ergibt als die Zahl Eins, so steigt auch der Wert unserer Gaben exponentiell, je größer die Liebe dabei ist.“13
Ohne Liebe bleiben unsere besten Gaben und höchsten Leistungen für die Gemeinde und vor Gott letztlich fruchtlos. Nach Paulus’ Gedankengang gibt es nichts, was einen dauernden geistlichen Wert hat, wenn es nicht aus Liebe geschieht.
Eine moderne Umschreibung
Hätte Paulus, als einer der größten Lehrer und Leiter, den Text von 1. Korinther 13 in unseren Tagen geschrieben, könnten wir vielleicht Folgendes lesen:
Wäre ich der begnadeteste Prediger aller Zeiten, so dass Millionen von Menschen von meiner Rede bewegt wären, hätte aber keine Liebe, wäre ich für Gott und die Menschen nur ein lästiger, hohler Schwätzer.
Hätte ich so viel Charisma und Persönlichkeit, dass ich wie ein mächtiger Magnet alle Menschen zu mir ziehen würde, hätte aber keine christusähnliche Liebe, wäre ich nur ein Schwindler und Versager.
Wäre ich der größte Visionär und Leiter, den die Gemeinde jemals gehört hätte, hätte aber keine Liebe, dann wäre ich in die Irre gegangen und verloren.
Wäre ich der meistverkaufte Schriftsteller zum Thema Theologie und Gemeindewachstum, hätte aber keine Liebe, dann wäre ich ein hohlköpfiger Versager.
Wenn ich meine ganze Zeit aufopfern würde, um zukünftige Leiter zu schulen, hätte aber keine Liebe, dann wäre ich ein schlechter Leiter und ein schlechtes Vorbild.
Lieben oder Sterben
Meine erste Erfahrung, die ich mit der christlichen Liebe machte und die mein Leben verändern sollte, war der Moment, als ein Freund mir das Buch Brother Indeed gab, eine Biografie über Robert C. Chapman aus Barnstable, England.14 Abgesehen von der Bibel hat niemand meine Einstellung zur Liebe und christlichen Leiterschaft mehr beeinflusst als Robert Chapman.
Zu seiner Zeit nannte man ihn den „Apostel der Liebe“, und Charles Hadddon Spurgeon bezeichnete ihn als den „heiligsten Mann“, den er jemals kannte.
Robert Chapman gab seinen Beruf als Anwalt in London auf, um in einer kleinen Baptistengemeinde in Barnstable Pastor zu werden. Vor Chapman hatte diese kleine zerstrittene Gemeinde innerhalb von achtzehn Monaten drei verschiedene Pastoren gehabt. Wie Chapman diese streitende Gemeinde mit seiner Liebe, Geduld und seinem Bibelunterricht veränderte, ist eine Mut machende Lektion über christliche, liebevolle Leiterschaft. Aus der Gemeinde wurde schließlich eine große harmonische Gemeinde. Sie war in ganz England für ihre Liebe, ihren missionarischen Einsatz und leidenschaftlichen Dienst an den Armen bekannt.
Am Ende seines Lebens, im Alter von neunundneunzig Jahren, war Chapman für seine Liebe und Weisheit weltweit so bekannt, dass ein Brief aus dem Ausland mit der einfachen Adresse „R. C. Chapman, Universität der Liebe, England“ korrekt bei ihm zu Hause ankam.
Vor Chapmans Wirken war die Gemeinde in Barnstable auf ihre Erkenntnisse in Lehrfragen und ihre Gemeindepraxis stolz, aber ihre Lieblosigkeit ließ sie sterben. Als Robert Chapman kam, hauchte er der Gemeinde die Leben spendende Liebe ein. Schon bald glühte sie vor Liebe für Christus, Liebe füreinander, Liebe für die Wahrheit des Evangeliums und Liebe für die Verlorenen. Sie wurde zu einer Universität der Liebe.
Im 2. Kapitel der Offenbarung lesen wir über eine andere Gemeinde, die auf ihre Gerechtigkeit und Treue stolz war, aber wegen ihrer fehlenden Liebe im Begriff war zu sterben. Unser Herr selbst sagt der Gemeinde und ihren Leitern, sie sollen Buße tun und offen sein für die Liebe, die sie wieder lebendig machen würde. Lesen Sie aufmerksam die heiligen Worte und Warnung Jesu Christi an die Gemeinde in Ephesus:
„Ich kenne deine Werke und deine Mühe und dein Ausharren, und dass du Böse nicht ertragen kannst; und du hast die geprüft, die sich Apostel nennen und es nicht sind … Aber ich habe gegen dich, dass du deine erste Liebe verlassen hast. Denke nun daran, wovon du gefallen bist, und tue Buße und tue die ersten Werke! Wenn aber nicht, so komme ich dir und werde deinen Leuchter von seiner Stelle wegrücken, wenn du nicht Buße tust“ (Offb 2,1-2.4-5).
Das Verlassen der ersten Liebe
Einst blühte die Gemeinde vor echter Liebe. Aber das hatte sich geändert. Es gab immer noch ein gewisses Maß an Liebe, weil man für die Wahrheit des Evangeliums kämpfte und gute Werke vollbrachte (Offb 2,2-3.6). Aber ihre Liebe hatte sich verändert. Anstatt immer stärker und tiefer zu werden, verschwand ihre Liebe. Sie taten Werke, aber die Freude, Kreativität, Aufgeschlossenheit und Kraft, die die Liebe hervorbringt, waren verschwunden. Die Eigenschaft ihrer Liebe hatte sich verändert, und das wurde sogar in ihren Werken sichtbar. Deswegen tadelt Jesus sie und sagt ihnen, sie sollen „die ersten Werke“ tun. Er ermahnt sie, daran zu denken, wovon sie „gefallen“ sind (Offb 2,5).
Der Gegenstand dieser Liebe wird in dem Text nicht besonders genannt. Es heißt nicht „Liebe zu Christus“ oder „Liebe zu den Gläubigen“. Jesus meinte wohl am ehesten damit die Liebe im Allgemeinen (Liebe zu Christus, zum Nächsten und den Verlorenen).
Gott fordert von seinen Gläubigen, dass sie ihn vollkommen und ungeteilt lieben (5Mo 6,4-6). Wir sollen Gott mit ganzem Herzen und ganzer Seele und ganzem Verstand lieben (Mt 22,37). Außerdem ist die Beziehung zwischen Jesus Christus und seiner Gemeinde, nach dem Buch der Offenbarung, wie eine Ehe; Christus ist der Bräutigam und die Gemeinde ist die Braut.15 Die Braut, die Gemeinde, soll Christus, dem Bräutigam freudig ungeteilte Hingabe zeigen. In Ephesus hatte die Braut die wichtigen Eigenschaften ihrer Liebe verloren: die Freude, Gott zu lobpreisen; den Hunger, ihn durch sein Wort besser kennen zu lernen; den Wunsch, seine Liebe vollkommen zu verstehen; den Durst, geistlich zu wachsen, und die Liebe, die ihn immer lobt und anbetet.
Wir sollen uns gegenseitig so lieben, wie Jesus uns geliebt hat. Es ist eine ungeheuchelte Liebe (1Petr 1,22), die uns bereit macht, füreinander zu leben (1Joh 3,16). Von den Gläubigen in Ephesus wollte der Herr, dass sie sich selbstlos um die gegenseitigen Bedürfnisse kümmern, ihre Häuser füreinander öffnen, wie eine große Familie zusammenleben, sich gegenseitig freudig dienen, aus tiefstem Herzen füreinander beten, Vorurteile gegenüber Fremden überwinden und sich gemeinsam am Leben in der Gemeinde und zu Hause erfreuen. Aber ihre Liebe war verdorrt.
Amy Carmichael, die sich um misshandelte Kinder kümmerte und ihnen in der Dohnavur-Fellowship in Indien ein Heim bieten konnte, erkannte, wie tödlich es sein konnte, wenn unter ihren Mitarbeitern die Liebe nachließ. Sie legte für das Zusammenleben der Frauen, die mit ihr in dem Waisenhaus arbeiteten, folgende Grundsätze fest:
„Lieblosigkeit ist so tödlich wie KrebAuch wenn die Krankheit langsam tötet, führt sie letztlich zum Tod. Wir sollten uns vor Lieblosigkeit genauso fürchten wie vor einer Kobra. Sie ist sogar gefährlicher als eine Kobra. So wie ein winziger Tropfen des Kobragiftes sich schnell im ganzen Körper ausbreitet, so genügt ein Tropfen galliger Lieblosigkeit in meinem oder deinem Herzen, der sich unsichtbar und mit schrecklicher Macht in der ganzen Familie ausbreitet, denn wir sind ein Leib – wir sind untereinander Glieder am Leib. Wir müssen die jungen Menschen die Wahrheit lehren, dass ohne echte Liebe gemeinsames Beten nicht möglich ist. Wenn du irgendwo Lieblosigkeit entdeckst, lass alles liegen und bringe es in Ordnung – wenn möglich sofort.“16
Christus fordert uns auf, alle Menschen zu lieben (1Thes 3,12). Diese Liebe versucht, die körperliche und geistliche Not der Menschen zu lindern. Diese Liebe gab der barmherzige Samariter einem fremden, zusammengeschlagenen Mann (Lk 10, 30-37). Diese Liebe zeigt sich im Evangelium, wo sie sich auf die Verlorenen einlässt. Paulus hatte diese Liebe für Israel:
„Ich habe große Traurigkeit und unaufhörlichen Schmerz in meinem Herzen; denn ich selbst, ich habe gewünscht, verflucht zu sein von Christus weg für meine Brüder, meine Verwandten nach dem Fleisch“ (Röm 9,2-3).
Diese Liebe für die Verlorenen und die Bedürftigen war in Ephesus völlig verschwunden.
Die Gemeinde in Ephesus hatte sich auf tragische Weise verändert. Sie hatte ihre erste Liebe verlassen, und es musste etwas geschehen, sonst würde der Herr diese Gemeinde richten. „Es ist kein Wunder“, schreibt der puritanische Prediger Nathaniel Vincent, „dass der Satan, der daran arbeitet die Gemeinde zu vernichten, danach trachtet, die Liebe zu töten“.17
William R. Moody, The Life of Dwight L. Moody (Chicago: Revell, 1900), 140. Siehe auch Dwight Lyman Moody, New Sermons, Addresses and Prayers (Chicago: Goodspeed, 1877), 178. ↩
Moody, The Life of Dwight L. Moody, 139. ↩
Richard Ellsworth Day, Bush Aglow: The Life Story of  Dwight Lyman Moody, Commoner of Northfield (Philadelphia: The Judson Press, 1936), 146; siehe auch D. L. Moody, Pleasure and Profit in Bible Study (Chicago: The Bible Institute Colportage Association, 1895), 87. ↩
Gregory J. Lockwood, 1 Corinthians, Concordia Commentary (St. Louis: Concordia, 2000), 458. ↩
John Short, „The First Epistle to the Corinthians“, in The Interpreter’s Bible, ed. Arthur C. Buttrick (New York: Abingdon-Cokesbury, 1953), 10:170. ↩
George Sweeting, Love Is the Greatest (Chicago: Moody Press, 1974), 40. ↩
Georg Müller war der Gründer und Direktor des Waisenheims Ashley Down in Bristol, England 122 683 Waisen lebten im Laufe der Jahre in diesem WaisenhauÜber Müllers Glaubens- und Gebetsleben gibt es einige Biografien. ↩
Rodney Stark, The Rise of Christianity (San Francisco: HarperCollins, 1996), 182. ↩
Martyrdom of S. Polycarp, 18. ↩
Jonathan Edwards, Charity and Its Fruits (1852; reprint ed., Edinburgh: Banner of Truth, 1978), 61-62. ↩
D. A. Carson, Showing the Spirit: A Theological Exposition of 1 Corinthians 12-14 (Grand Rapids, Mich.: Baker, 1987), 60. ↩
Sweeting, Love Is the Greatest, 117. ↩
Jerry Bridges, Growing Your Faith (Colorado Springs: NavPress, 2004), 164-65. ↩
Frank Holmes, Brother Indeed – The Life of Robert Cleaver Chapman (London: Victory Press, 1956). Holmes‘ Biografie wird nicht mehr verlegt. Es gibt eine neue Biografie von Robert L. Peterson, Robert Chapman (Littleton, Colo.: Lewis & Roth, 1995). Über Chapmans Leben und seine bemerkenswerte Art, mit Menschen umzugehen, siehe Robert L. Peterson and Alexander Strauch, Agape Leadership: Lessons in Spiritual Leadership from the Life of R. C. Chapman (Littleton, Colo.: Lewis & Roth, 1991). ↩
Offb 19,7.9; 21,9; 22,17. ↩
Houghton, Amy Carmichael of Dohnavur: The Story of a Lover and Her Beloved (1979 reprint ed., Fort Washington, Pa., Christian Literature Crusade, 1992), 219. ↩
Nathaniel Vincent, A Discourse Concerning Love (1684; reprint ed., Morgan, Pa: Soli Deo Gloria, 1998), 94. ↩