ThemenMission und Evangelisation

Evangelisation zwischen ewiger Wahrheit und kultureller Anpassung

Wie kann man auf die unterschiedlichen Zuhörer und deren Kultur eingehen, ohne dabei die Wahrheit des Evangeliums zu verkürzen?

I. Mission und Evangelisation ist das Wesen des Christentums

Gott ist der erste, der den Menschen das Evangelium bringt. Direkt nach dem Sündenfall schien die Geschichte der Menschheit, die gerade erst begonnen hatte, schon wieder zum Ende gekommen zu sein. Aber Gott kam in seiner Gnade selbst in den Garten Eden (1Mose 3,8-9), um Adam und Eva zu suchen und zu fragen: „Wo bist du?“ (1Mose 3,9). Er verkündigte ihnen das Gericht und die kommende Erlösung (1Mose 3,14-21).

Jesus ist der Evangelist und Missionar schlechthin. Jesus wurde von Gott, dem Vater, als Mensch auf die Erde gesandt, um die Strafe am Kreuz auf sich zu nehmen und das Heil zu erwirken und zu verkündigen. Gott hatte bereits vor Erschaffung der Welt beschlossen (Eph 1,4), die Menschen nicht ihrem selbstgewählten Schicksal der Sünde zu überlassen, sondern sich selbst in Jesus als Missionar in die Welt zu senden (Joh 3,16).

Die Sendung der Jünger/Apostel durch Jesus ist die direkte Fortsetzung der Sendung1 Jesu durch seinen Vater. In Joh 17,18 sagt Jesus zu seinem Vater:

„Wie du mich in die Welt gesandt hast, habe auch ich sie in die Welt gesandt“.

In Joh 20,21 wandelt er dies in eine persönliche Anrede an die Jünger um:

„Wie der Vater mich ausgesandt hat, sende ich auch euch“.

Das ist der Grund für die Existenz der neutestamentlichen Gemeinde.

Jesus erwählte die zwölf Apostel, um sie für ihre Aufgabe der Evangelisation und der Weltmission vorzubereiten. Jesus erwählte die Apostel, „damit sie bei ihm seien und damit er sie aussende“ (Mk 3,13-16). Die intensive Schulung im Zusammenleben und -arbeiten mit Jesus zielte also von Anfang an auf den Missionsbefehl ab und erfolgte offensichtlich nach einem bewussten Plan Jesu. Deutlich wird das vor allem daran, dass (1) Jesus zuerst alleine verkündigt, (2) dann verkündigt, während seine Jünger zuschauen, (3) schließlich seine Jünger verkündigen lässt, während er beobachtet, (4) sodann seine Jünger auf kurze Zeit befristet allein aussendet und anschließend darüber spricht und sie erst (5) dann ganz alleine aussendet (wobei er als erhöhter Herr natürlich bei ihnen bleibt, Mt 28,20).

Die Jünger begannen daraufhin, dasselbe mit anderen Christen zu tun. Die erste, befristete Aussendung wird in Mt 10,1-11,1; Mk 6,7-13; Lk 9,1-6 berichtet. Jesus „sandte aus“ (Mt 10,5) und „fing an, sie zwei zu zwei auszusenden“ (Mk 6,7). Damit ist die Erziehung zur Selbständigkeit ein zentrales Element von Evangelisation und Mission.

Das wichtigste Anliegen Jesu zwischen seiner Auferstehung und seiner Himmelfahrt waren Evangelisation und Weltmission. Alle Evangelisten überliefern für die Zeit zwischen Jesu Auferstehung und seiner Himmelfahrt praktisch nur verschiedenartige Missionsbefehle2 Jesus verkündigte in dieser Zeit in immer neuen Formen die durch sein stellvertretendes Opfer am Kreuz ermöglichte Evangelisation und Mission als wichtigstes Ergebnis seines Leidens, Sterbens und Auferstehens.

Alle Missionsstrategien stehen unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit, weil Gott allein darüber entscheidet, ob er sie zum Erfolg führen will

Pfingsten macht deutlich, dass Weltmission in der Kraft des Geistes das wichtigste Kennzeichen der Gemeinde Jesu ist . Der Heilige Geist sollte kommen, um an Jesu Stelle die Welt vom Evangelium zu überzeugen (Joh 16,7-11). Als das geschah, begannen gleichzeitig die neutestamentliche Gemeinde und Evangelisation und Mission. Am Pfingsttag machten das Zungenreden und das Hörwunder durch Zuhörer aus allen Teilen des Römischen Reiches deutlich, dass das Evangelium in der Kraft des Heiligen Geistes alle Sprach- und Kulturbarrieren überschreitet.

Ohne den Heiligen Geist wäre jede Weltmission und jede Missionsstrategie sinnlos und zum Scheitern verurteilt. Nur der Heilige Geist kann Menschen von ihrer Schuld überführen (Joh 16,7-10), sie zur Erkenntnis Gottes und des Heilswerkes Jesu führen und sie zu neuen Menschen in Christus machen (Joh 3,5). Auch wenn Gott Christen an der Weltmission beteiligt und möchte, dass sie ihren Verstand gebrauchen, um andere zu erreichen (siehe zum Beispiel die vielen detaillierten Reisepläne und die generelle Strategie des Paulus, etwa in Röm 1+15 und 1Kor 9), stehen alle solche Missionsstrategien unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit, weil Gott allein darüber entscheidet, ob er sie zum Erfolg führen will oder nicht (1Kor 12,4-6; Röm 1,13).

Der Erfolg der Weltmission als Ergebnis der unsichtbaren Herrschaft Jesu Christi ist von Jesus garantiert worden. Im Missionsbefehl nach Matthäus begründet Jesus die Weltmission damit, dass er nun „alle Macht im Himmel und auf der Erde“ (Mt 28,18) hat und dass er für immer bei seiner Gemeinde ist“ (Mt 28,20). Der Missionsbefehl ist deswegen nicht nur Befehl, sondern auch Verheißung. Jesus selbst wird dafür sorgen, dass alle Völker zu Jüngern werden, denn – so sagt der Herr – „… ich werde meine Gemeinde bauen und die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen“ (Mt 16,18).

Die Offenbarung des Johannes kündigt deswegen immer wieder an, dass Menschen aller Sprachen und Kulturen zur unzählbaren Schar der Erlösten gehören werden.3

Einerseits kommen heute täglich mehr Menschen zum Glauben, als sich irgend jemand noch vor 30 Jahren hätte träumen lassen, andererseits feiern Unmoral, Verbrechen und Christenverfolgung unglaubliche Triumphe

Gerade in einem der Gleichnisse über das Wachsen des Reiches Gottes, dem Gleichnis vom Unkraut und Weizen (Mt 13,24-30;36-43), macht Jesus deutlich, dass nicht nur das Reich Gottes, sondern auch das Böse ausreift. Dennoch bleibt das Unkraut nur deswegen bestehen, weil der Weizen am Wachsen ist. Das Böse darf nur ausreifen, weil Gott auch seine Gemeinde wachsen und reifen lässt. Wäre die Gemeinde Jesu nicht in der Welt, käme das endgültige Gericht über diese Erde (vgl. 1Mose 18,22-23).

Wir leben heute in einer Zeit, wo das Evangelium einerseits in einem Maße auf der Erde verbreitet wird wie nie zuvor und täglich mehr Menschen zum Glauben kommen, als sich irgend jemand noch vor 30 Jahren hätte träumen lassen, andererseits Unmoral, Verbrechen und Christenverfolgung unglaubliche Triumphe feiern. Für eine solche Situation des zunehmenden Bösen4 schreibt Paulus nicht zufällig an Timotheus nicht , sich zurückzuziehen, sondern gerade umgekehrt vermehrt zu evangelisieren, sagt er doch vorher „Verkündige das Wort, stehe bereit zu gelegener und ungelegener Zeit; überführe, strafe und ermahne mit aller Langmut und Lehre“ (2Tim 2,2), und hinterher:

„Du aber sei nüchtern in allem, ertrage Leid, tue die Arbeit eines Evangelisten und vollbringe deinen Dienst!“ (2Tim 4,5).

Die Evangelisation in der Nähe und der Ferne wird vor allem mit dem Alten Testament begründet. Wenn man sich die neutestamentlichen Diskussionen über die Berechtigung der Mission anschaut, stellt man erstaunt fest, dass dort, wo wir den Missionsbefehl Jesu zitiert hätten, fast immer das Alte Testament zitiert wird. Der Missionsbefehl ist die Erfüllung des Alten Testamentes. Er war gewissermaßen der Startschuss, dass das, was längst angekündigt und vorbereitet worden war, nun endgültig in Gang gesetzt werden sollte. Der Römerbrief und besonders Röm 15 sind dafür ein offensichtliches Beispiel, da Paulus in diesem seinem Brief zur Begründung der Mission pausenlos alttestamentliche Belege zitiert.

In Apg 13,46-49 wird berichtet, dass Paulus und Barnabas von den Juden abgelehnt werden und deswegen begründen, warum sie sich in Antiochien jetzt an die Heiden wenden. Dazu zitieren sie Jes 49,6 (= Apg 13,47):

„Denn so hat uns der Herr geboten: ‚Ich habe dich zum Licht der Nationen gesetzt, dass du zum Heil seiest bis an das Ende der Erde’“. Der Textzusammenhang in Jesaja macht deutlich, dass die Apostel hier einen alttestamentlichen Missionsbefehl aufgreifen: „Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, um die Stämme Jakobs aufzurichten und die Bewahrten Israels zurück zu bringen, sondern ich habe dich zum Licht der Nationen gemacht, damit mein Heil bis an die Enden der Erde reicht“ (Jes 49,6).

In allen Teilen des Alten Testaments ist auch von Weltmission die Rede

Die alttestamentliche Begründung der neutestamentlichen Evangelisation und Mission zeigt, dass die Weltmission eine direkte heilsgeschichtliche Fortsetzung des Handelns Gottes seit dem Sündenfall und der Erwählung Abrahams ist. Jesus hat die alttestamentliche Begründung der neutestamentlichen Mission ausdrücklich im Missionsbefehl nach Lukas bestätigt:

„Dies sind meine Worte, die ich zu euch redete, als ich noch bei euch war, dass alles erfüllt werden muss, was über mich in dem Gesetz Moses und den Propheten und den Psalmen geschrieben steht. Dann öffnete er ihnen das Verständnis, damit sie die Schriften verstanden, und sagte zu ihnen: So steht es geschrieben, und so musste der Christus leiden und am dritten Tag aus den Toten auferstehen und in seinem Namen Buße und Vergebung der Sünden gepredigt werden allen Nationen, anfangend von Jerusalem. Und ihr seid Zeugen hiervon“ (Lk 24,43-48).

Nach diesen Worten Jesu ist in allen Teilen des Alten Testamentes nicht nur von seinem Kommen und von Kreuz und Auferstehung die Rede, sondern ausdrücklich auch von der Weltmission: Die Vergebung muss allen Nationen verkündigt werden.

Auch die Erwählung des alttestamentlichen Bundesvolkes geschah mit Hinblick auf alle Völker, so dass Mission bereits ein Thema des Alten Testamentes ist. Abraham, Isaak und Jakob wurden berufen, damit durch sie alle Völker der Erde gesegnet werden sollten (1Mose 12,3; 18,18; 22,17; 26,4; 28,14).

Dementsprechend können Evangelisation und Mission nicht unabhängig vom Alten Testament, von der alttestamentlichen Heilsgeschichte und vom Schicksal des jüdischen Volkes dargelegt und praktiziert werden. Dies belegt Paulus vor allem in Röm 9-11. Dabei müssen für das Verhältnis der christlichen Mission zum jüdischen Volk zwei Seiten berücksichtigt werden: die Erwählung der Juden auf der einen Seite und der vorherrschende Ungehorsam auf der anderen Seite:

„Hinsichtlich des Evangeliums sind sie zwar Feinde um euretwillen, hinsichtlich der Auswahl aber Geliebte um der Väter willen“ (Röm 11,28).

Paulus macht auch deutlich, dass die zukünftige Hinwendung des Volkes Israel zu seinem Messias Jesus Christus ungeahnte positive Auswirkungen auf die Missionierung aller Völker haben wird (Röm 11,15+24-26).

II. Mission angesichts der kulturellen Vielfalt

1. Eine Offenbarung und viele Kulturen

Das Alte wie das Neue Testament sind nicht nur für eine bestimmte Zeit und Kultur geschrieben, sondern umfassen Gottes Offenbarung für alle Zeiten und Kulturen.

Das Evangelium wird nicht in Frage gestellt, wenn man es auf unter-schiedliche Weise darstellt und unterschiedliche Schwerpunkte setzt

Dementsprechend sind Evangelisation und Mission im Neuen Testament nicht nur von der ewiggültigen Wahrheit des Evangeliums und der biblischen Lehre bestimmt, sondern auch von der Frage, wie das Evangelium immer neuen Menschen nahegebracht werden kann. Die Existenz von vier Evangelien an unterschiedliche Zielgruppen ist das offensichtlichste Beispiel dafür. Das Evangelium wird nicht in Frage gestellt, wenn man es auf unterschiedliche Weise darstellt und unterschiedliche Schwerpunkte setzt, solange man den gesamten Ratschluss Gottes dadurch nicht in Frage stellt.

Die Vielfalt der Völker und Kulturen ist prinzipiell keine Folge der Sünde, sondern gottgewollt. In einer Kultur ist aus biblischer Sicht nur das zu verwerfen, was ausdrücklich Gottes heiligem Willen widerspricht. Die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Kulturen ist nicht negativ als Folge der Sünde zu verstehen und ist keine Folge des Gerichtes Gottes durch die Sprachverwirrung beim Turmbau zu Babel (1Mose 11,1-9). Durch die Sprachverwirrung wollte Gott doch gerade das erreichen, was er den Menschen zuvor als Befehl gegeben hatte, nämlich die Ausbreitung der Menschheit auf der ganzen Erde („füllet die Erde“, 1Mose 1,28; 9,1) und damit die Aufspaltung der Menschheit in eine Vielfalt von Familien, Völkern, aber auch von Berufen, Fähigkeiten und Kulturen. Mit dem Turmbau zu Babel sollte gerade eine Welteinheitskultur geschaffen werden, die immer das Ziel des Satans war, wie das Buch der Offenbarung und die Person des Antichristen im Alten und Neuen Testament zeigen. Gott dagegen wollte keine Welteinheitsstadt, keine Welteinheitsregierung, keinen Welteinheitshumanismus. Gott „zerstreute“ die Menschen „über die ganze Erde“ (1Mose 11,9).

Von den Söhnen Noahs ausgehend „wurde die ganze Erde bevölkert“ (1Mose 9,19) und „verzweigten“ sich so die „Nationen“ (1Mose 10,5), weshalb die Entstehung der einzelnen Völker durch Stammbäume erklärt werden kann (1Mose 10,1-32) an deren Ende es heißt: „von diesen aus haben sich nach der Flut die Völker auf der Erde verzweigt“ (1Mose 10,32). Gott ist deswegen der Schöpfer aller Völker, denn „er hat aus Einem [Menschen] alle Völker der Menschen geschaffen, damit sie auf der ganzen Erde wohnen, indem er ihnen festgesetzte Zeiten und die Grenzen ihres Wohngebietes bestimmt hat …“ (Apg 17,26; ähnlich 5Mose 32,8; Ps 74,17).

Christen sind Menschen, die von jeglichem kulturellen Zwang befreit sind. Sie müssen keine menschlichen Traditionen und Gebote mehr neben Gottes Geboten anerkennen.5 Dies wird besonders in Mk 7,1-13 deutlich, wo Jesus die Pharisäer heftig kritisiert, weil sie ihre menschliche Kultur in den Rang verpflichtender Gebote Gottes erhoben hatten. Darauf werden wir noch näher eingehen.

Christen können andere Kulturen im Lichte der Bibel beurteilen

Christen können andere Kulturen im Lichte der Bibel beurteilen, weil und wenn sie gelernt haben, zwischen ihrer eigenen Kultur, auch ihrer jeweiligen frommen Kultur, und den überkulturell gültigen Geboten Gottes zu unterscheiden. Nur wer sich selbst und seine Kultur im Lichte der Bibel hinterfragen lässt, hat auch das Recht, andere Menschen und Kulturen im Licht der Bibel kritisch zu hinterfragen.

Auch dafür ist Mk 7,1-13 der beste Ausgangspunkt. Es waren sehr ehrenwerte, fromme Motive, die die Pharisäer veranlassten, neben dem Wort Gottes und sogar gegen das Wort Gottes weitere Richtlinien zu erlassen, die für alle verbindlich waren. Jesus kritisierte sie heftig, weil sie sich damit zum Gesetzgeber neben Gott gemacht hatten:

„Vergeblich aber verehren sie mich, weil sie als Lehren Menschengebote lehren“ (Mk 7,7; Mt 15,9).

2. Dem Juden wie ein Jude … oder: Von der Freiheit eines Christenmenschen

Weil Christen allein Christus gehören und allein seinem Wort unterstehen, können sie jedoch nicht nur ihre eigene Kultur und die Kultur anderer kritisch sehen, sondern sind verpflichtet, sich aus Liebe auf die Kultur anderer einzustellen. Martin Luther hat das in die klassischen Worte zu Beginn seiner Schrift ‚Von der Freiheit eines Christenmenschen‘ (1520) gefasst:

„Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“6

Luther hat damit jedoch lediglich die Evangelisationsstrategie des Paulus nur etwas anders formuliert, denn Paulus begründet in 1Kor 9,19-23 die Notwendigkeit sich auf andere in der Evangelisation einzustellen gerade damit, dass er allen gegenüber frei ist.

Christen haben eine unveränderliche Botschaft, aber sie stellen sich in der Art der Verkündigung auf die Menschen ein

Christen haben eine unveränderliche Botschaft, aber sie stellen sich in der Art der Verkündigung auf die Menschen ein, sofern sie dabei keine biblischen Ordnungen übertreten. Man wird also, um den Unterschied an einem Beispiel zu erläutern, dem Trinker nicht ein Trinker, indem man sich entgegen Gottes klarem Gebot betrinkt, aber man wird dem Trinker „wie“ ein ‚Trinker‘, indem man auf sein akademisches Deutsch und den Nadelstreifenanzug verzichtet, sich zu ihm setzt und nach seinen Sorgen fragt. Paulus wird kein Grieche, sondern dem Griechen „wie ein Grieche“, er wird nicht gesetzlos, sondern „wie ein Gesetzloser“7 Ja er wird selbst dem Juden nicht ein Jude, sondern „wie ein Jude“, passt sich also sogar bewusst an, wenn es um die Angehörigen seiner eigenen Gruppe geht, da er dieser als Christ nicht mehr bedingungslos verpflichtet ist.

Offensichtlich kann auch ein Christ so in seiner eigenen Kultur leben, dass er nicht merkt, dass er bestenfalls von anderen nicht verstanden wird und schlimmstenfalls mit seiner Kultur dem anderen ein „Hindernis“ (1Kor 9,12) ist, das Evangelium zu verstehen.

Als Konsequenz daraus ergibt sich nicht nur die Notwendigkeit einer zielgruppenorientierten Mission und Evangelisation, um Menschen anderer Kulturen im Ausland, aber auch Menschen anderer Kulturen und Lebensbereiche im Inland zu erreichen, sondern auch die Notwendigkeit einer Bestandsaufnahme, welche gesellschaftlichen Gruppen derzeit von evangelikalen Gemeinden erreicht werden und welche nicht.

Die Bibel darf – im Gegensatz zum Koran! – in jede nur denkbare Sprache übersetzt werden

Christen sind also nach 1Kor 9,19-23 nicht nur dafür verantwortlich, ob und dass sie die Botschaft von der Erlösung in Jesus Christus gesagt haben, sondern auch dafür, ob und dass sie verstanden werden konnte. Das ist auch der Grund, warum die Bibel – im Gegensatz etwa zum Koran! – in jede nur denkbare Sprache übersetzt werden darf und das Evangelium in jedem Dialekt und jeder kulturellen Form ausgedrückt werden kann und sollte.

Evangelisation geht nicht an den vorgegebenen soziologischen Tatsachen vorbei, sondern richtet ihre Strategie daran aus. Paulus gründete Gemeinden meist in zentral gelegenen Städten, setzte sehr früh von ihm geschulte Älteste ein und zog bald weiter. Die vollständige evangelistische Durchdringung der Gegend mit dem Evangelium überließ er dann der Großstadtgemeinde. Von der Gemeinde in Thessalonich heißt es zum Beispiel:

„so dass ihr allen Gläubigen in [den Provinzen] Mazedonien und Achaja zu Vorbildern geworden seid. Denn von euch aus ist das Wort des Herrn nicht allein in Mazedonien und Achaja erschollen, sondern euer Glaube an Gott ist an jeden Ort hinausgedrungen, so dass wir nicht mehr nötig haben, etwas zu sagen“ (1Thess 1,7-8).

Die Gemeinde Jesu muss unterscheiden zwischen der Evangelisation, die bewusst gruppenspezifisch ist und auf Gruppeninteressen setzt8 und der daraus entstehenden Gemeinde, die bewusst die Gruppeninteressen und Kulturgrenzen relativiert und dem Wort Gottes unterordnet.

Jedes Ansehen der Person in der Gemeinde aufgrund von kulturellen, wirtschaftlichen und anderen Gesichtspunkten widerspricht dem Wesen Gottes und des christlichen Glaubens. Gott kennt kein Ansehen der Person (Jak 2,1-12).

3. Die Gefahr menschlicher Gebote

Kurt Hennig hat zu Recht darauf hingewiesen, dass 1Kor 9 nicht im Sinne einer allumfassenden Toleranz zu verstehen ist, die allen und jedem entgegenkommt, sondern als missionarische Aufforderung, die biblische Gebote und Ordnungen aber unangetastet lässt9 Dazu ist es aber wichtig, deutlich zu machen, dass in der Evangelisation nur das untersagt werden darf, was göttlichem Gebot widerspricht.

„Dies, Geschwister, habe ich aber auf mich und auf Apollos bezogen um euretwillen, damit ihr an uns[erem Beispiel] lernt, nicht über das hinauszugehen, was geschrieben ist, damit ihr euch nicht für den einen gegen den anderen aufbläht. Denn wer gibt dir einen Vorrang? Was hast du denn, was du nicht empfangen hast? Wenn du es aber ebenso empfangen hast, was rühmst du dich so, als hättest du es nicht empfangen?“ (1Kor 4,6-7).

Dies ist also keine moderne Sichtweise, die versucht, das Evangelium einer sich ständig verändernden Welt anzubiedern, sondern biblische Lehre und Praxis der Kirchengeschichte. Der Kirchenvater Aurelius Augustinus hat dies treffend zusammengefasst, wenn er über den ‚Gottesstaat‘ (also das Reich Gottes einschließlich der Kirche) schreibt:

„Darum kümmert sich jedoch dieser Staat nicht, in welcher Tracht oder Lebensweise jeder den Glaubensweg gehen mag, der zu Gott führt. Man darf nur nicht gegen Gottes Gebote verstoßen.“10

Damit ist das Thema der „zweifelhaften Fragen“ (Röm 14,1) angesprochen, also der Fragen, die Gott nicht durch eine Festlegung und ein eindeutiges Gebot geregelt hat.

Wer immer nur von der Freiheit redet, die Gott gibt, aber nie von den Grenzen, die Gott festgelegt hat, der wird alles und nichts im Namen Gottes tun können.

Nachdem Gott den Menschen erschaffen hatte, gab er ihm nicht ungezählte Vorschriften und Verbote, sondern sagte dem Menschen, dass er frei wählen kann, was er essen möchte; dass er sich frei bewegen kann; dass er die Tiere frei benennen darf und dass er sich frei und nur von Gott abhängig die Erde untertan machen soll. Demgegenüber fällt das Verbot, das wir im Schöpfungsbericht finden, verhältnismäßig gering aus. Es geht um einen einzelnen Baum, von dem nicht gegessen werden soll, dem ungezählte Bäume zur freien Verfügung gegenüberstehen.

… man darf nur nicht gegen Gottes Gebote verstoßen

Sicher, Gott ist der Schöpfer. Er weiß, was das Beste für das Geschöpf ist und hat deswegen auch die Berechtigung, Grenzen zu setzen. Doch diese Verbote nehmen sich doch sehr bescheiden aus gegenüber der ungeheuren Freiheit, die Gott zugleich gegeben hat und die er als Schöpfer dem Geschöpf überhaupt ermöglicht hat, indem er den Menschen laut Schöpfungsbericht nach seinem Bild gestaltete. Hätten wir keinen Verstand, kein Gewissen, keine Verantwortung und keine Sprache, wir wären überhaupt nicht in der Lage, frei und selbständig zu leben. Und so finden wir es in der ganzen Bibel. Gott setzt eindeutige Grenzen, Grenzen, die er als Schöpfer gewahrt wissen will. Doch Gott lässt zugleich dem Menschen eine große Freiheit und Entfaltungsmöglichkeit. Der Mensch ist ein verantwortliches Wesen, sowohl dort, wo Gott gesagt hat, was sein Wille ist, als auch dort, wo Gott ihm Freiräume gelassen hat. Grenze und Freiheit gehören bei Gott untrennbar zusammen.

Wer immer nur von der Freiheit redet, die Gott gibt, aber nie von den Grenzen, die Gott festgelegt hat, der wird alles und nichts im Namen Gottes tun können. Wer dagegen immer nur von der Grenze spricht und nie von der Freiheit, der vergisst, worum es eigentlich geht.

In Mt 15,1-9 und Mk 7,1-13 wird die Tradition dem Gebot Gottes und dem Wort Gottes scharf entgegengesetzt. Indem die Tradition zum Maßstab wird, wird das Wort Gottes zunichte gemacht (Mk 7,13). Wenn jeder Autofahrer zur Straßenverkehrsordnung beliebige Verordnungen und Ausnahmen hinzufügen könnte, wäre sie keine Straßenverkehrsordnung, denn jeder würde sich vor Gericht mit seinen hinzugefügten Paragraphen herausreden. Jedes Gesetz lebt von der Autorität seines Gesetzgebers. Wer für alle Menschen verbindliche Gebote erlässt, macht sich selbst zu Gott und stellt Gottes gesetzgeberische Souveränität in Frage.

„Wer seinen Bruder verleumdet oder verurteilt, der verleumdet und verurteilt das Gesetz. Verurteilst du aber das Gesetz, so bist du nicht ein Täter des Gesetzes, sondern ein Richter. [Nur] einer ist der Gesetzgeber und Richter, der erretten und verdammen kann [nämlich Gott]. Wer bist du aber, dass du den Nächsten richtest?“ (Jak 4,11-12).

Spielen Menschen sich nicht als Gott auf, wenn sie den Menschen mehr eingrenzen wollen als Gott es aus Liebe getan hat? „Einer [allein] ist Gesetzgeber und Richter …“ (Jak 4,12), nämlich Gott, der allein das Recht hat, Dinge zu verbieten und zu ermöglichen und Autoritäten einzusetzen, die ihn in bestimmten Bereichen vertreten. Können wir im Namen Gottes anderen Menschen Dinge verbieten, die Gott gar nicht als falsch, als Sünde bezeichnet hat? Immer wieder wird im Alten Testament von falschen Propheten gesprochen. Und es ist interessant festzustellen, dass diese falschen Propheten entweder das Gebot Gottes ganz aufhoben, das heißt die Grenzen völlig beseitigen wollten, oder aber ebenso häufig die Freiheit nicht ernst nahmen, sondern die Freiheit der Menschen, die mit Gott leben wollten, noch weiter eingrenzten.

Diese Texte machen deutlich, dass das Christentum sehr konservativ ist, wenn es um die Bewahrung der Ordnungen Gottes geht, aber sehr progressiv und revolutionär, wenn es um die Überwindung von falschen Traditionen und ungerechten Ordnungen geht, die gegen das Wort Gottes stehen und fälschlich den Rang von Geboten Gottes beanspruchen. Ein reiner Konservatismus zur Beruhigung der älteren Generation ist der Bibel ebenso fremd wie die reine Veränderung zur Befriedigung der jüngeren Generation. Gerechtigkeit im Sinne Gottes in der Gesellschaft muss um jeden Preis erhalten werden, Ungerechtigkeit um jeden Preis bekämpft und beseitigt werden! So sehr das Neue Testament das Evangelium selbst als Tradition11 darstellen kann, so sehr bekämpft es andere Traditionen, die zu Unrecht göttliche Autorität beanspruchen. Nach 1Petr 1,18 ist sogar eine „Erlösung von dem von euren Vätern überlieferten, eitlen Wandel“ notwendig!

Dies vernichtende Urteil trifft jede menschliche Überlieferung, weil menschliche Überlieferung nicht auf göttliche Offenbarung zurückgeht und deswegen keine Autorität beanspruchen kann:

„Seht zu, dass euch niemand einfange durch Philosophie und leeren Trug, gegründet auf die Überlieferung von Menschen …“ (Kol 2,8).

III. Paulus zwischen den Fronten

Der Teufel baut auf unserm tiefen Widerwillen gegen den einen Irrtum, um uns Schritt für Schritt in den anderen hineinzuziehen

C. S. Lewis schreibt einmal:

„… der Teufel … schickt der Welt die Irrtümer immer paarweise auf den Hals – in Paaren von Gegensätzen. Und er stiftet uns ständig dazu an, viel Zeit dadurch zu vertrödeln, dass wir nachgrübeln, welches der schlimmere Irrtum ist. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Er baut auf unserm tiefen Widerwillen gegen den einen Irrtum, um uns Schritt für Schritt in den anderen hineinzuziehen. Lassen wir uns nicht zum Narren halten. Wir müssen unser Auge auf das Ziel richten und geradewegs zwischen den beiden Irrtümern hindurchschreiten.“12

Die biblische Formulierung dafür lautet:

„Weichet nicht zur Rechten noch zur Linken“13

Das beste Beispiel dafür ist sicher der 1. Brief des Paulus an die Korinther.14 Die Gemeinde in Korinth war nämlich in fast allen Fragen geteilter Meinung15 Paulus gab jedoch praktisch nie einer von beiden Parteien recht. Er musste immer beide Parteien gleichermaßen ermahnen, da beide Meinungen nicht dem göttlichen Denken entsprachen. Schauen wir uns einige der Streitpunkte an:

(1Kor 1-4) Die einen verehrten Paulus in einem Maße, dass Paulus fragen musste: „Ist etwa Paulus für euch gekreuzigt … worden?“ (1Kor 1,13). Andere sprachen Paulus jedoch jegliche Autorität ab. Ihnen gegenüber musste Paulus auf seiner Berufung zum Apostel bestehen. Die Wahrheit, dass nämlich Paulus als Apostel von Gott große Wahrheiten anvertraut bekommen hatte, aber nur einer der Diener Gottes war, wurde von den einen zerstört, indem sie Paulus selbst zum Mittelpunkt machten, von den anderen, indem sie Paulus und damit die von ihm verkündigte Offenbarung verachteten. Paulus muss den Korinthern entgegenhalten, dass es nicht um ihn, sondern um den göttlichen Auftrag und die göttliche Offenbarung in der Schrift geht. Wer nicht bei dem bleibt, was die Bibel lehrt, wird hochmütig.

Während die einen den Besuch in einem Bordell für völlig harmlos hielten, war für die anderen die Sexualität selbst in der Ehe ungeistlich

(1Kor 6-7) Auch zur Frage der Sexualität muss Paulus die biblischen Normen nach zwei Seiten hin verteidigen. Während die einen den Besuch in einem Bordell für völlig harmlos hielten, war für die anderen die Sexualität selbst in der Ehe ungeistlich. Paulus muss die einen energisch fragen, ob ihnen nicht bewusst ist, dass der Körper des Christen ein „Tempel des Heiligen Geistes“ ist (1Kor 6,19). Wenige Verse weiter schon erinnert er die anderen an ihre eheliche Verpflichtung zur Sexualität und hält eine ‚platonische Ehe‘16 für sehr gefährlich (1Kor 7,5). Paulus ist nicht bereit, sich mit der einen Seite gegen die andere zu verbünden. Solche unbiblischen Extreme bestimmen bis heute die Kirchengeschichte. Zeiten falscher Freizügigkeit werden von Zeiten falscher Prüderie abgelöst, wobei jede Partei immer die Stellen des Korintherbriefes zitiert, die den Gegner betreffen. Die biblische Lehre gibt jedoch beiden Seiten Unrecht, denn Gott hat die Sexualität zur Freude in der Ehe geschaffen, jede andere Art der Sexualität jedoch streng verboten.

(1Kor 5-6) Ein wesentlicher Anlass des 1. Korintherbriefes war die fehlende Gemeindezucht der Gemeinde in Korinth (1Kor 5-6). Die Gemeinde duldete Menschen in ihrer Mitte, die durch ihr Handeln Gott längst den Rücken gekehrt hatten. Aus Liebe sollten die Betroffenen vor die Konsequenz des Ausschlusses aus der Gemeinde gestellt werden, weil dies vielleicht für sie die letzte Möglichkeit zur Umkehr oder Einsicht war, wie es sich dann ja auch im 2. Korintherbrief beweist. Es war übrigens derselbe Paulus, der hier klare Konsequenzen forderte, der später nach Gemeindezucht und Buße der Ausgeschlossenen entschieden für deren Wiederaufnahme in die Gemeinde plädierte (2Kor 2,5-11), die manche Übereifrige verweigern wollten, die vorher nicht zur Gemeindezucht zu bewegen gewesen waren.

Aus Liebe sollten die Betroffenen vor die Konsequenz des Ausschlusses aus der Gemeinde gestellt werden, weil dies vielleicht für sie die letzte Möglichkeit zur Umkehr oder Einsicht war

Es wird nun aber leicht übersehen, dass es auch eine andere Strömung in Korinth gab, die die Gemeindezucht ernst nahm, den verbotenen Kontakt mit Götzendienern und Unzüchtigen aber auch auf Ungläubige ausdehnte. Paulus konnte darin jedoch keinen besonderen Glaubenseifer erkennen, sondern wies diese Übereifrigen genauso scharf zurecht, wie jene, die Gemeindezucht für überflüssig hielten (1Kor 5,9-13). Einige Mitglieder der Gemeinde in Korinth hatten Paulus zu buchstäblich verstanden und seine selbstverständliche, unausgesprochene Einschränkung nicht berücksichtigt – zugleich ein Musterbeispiel, wie notwendig eine sorgfältige Auslegung des Bibeltextes ist.

(1Kor 8-10) Die Kapitel 1Kor 8 und 10 wurden meines Erachtens schon oft missverstanden, weil man übersah, dass Paulus hier zwei einander konträr gegenüberstehende Meinungen nacheinander angeht. Auf der einen Seite gab es Christen in der korinthischen Gemeinde, die ohne Bedenken an Götzenopferfeiern im Tempel teilnahmen und das auf ihre großartige „Erkenntnis“ zurückführten (1Kor 8,1-3). Erst in Kap. 10 wendet sich Paulus der anderen Seite zu. Was Paulus in 1Kor 10,24-33 sagt, gilt nicht mehr denen, die an der Götzenopferfeier selbst teilnahmen, sondern den anderen, die jede Berührung mit Götzenopferfleisch an sich vermeiden wollten. Paulus ist weit davon entfernt, die Warnung vor der Götzenopferfeier als Verehrung der Dämonen auf das Götzenopferfleisch zu übertragen. Er hatte doch gerade erklärt, dass die Götzenbilder nichts sind, aber durch die Götzen die Dämonen verehrt werden. Wenn schon das Götzenbild eigentlich nur Materie ist, wie viel mehr muss das für das Fleisch gelten, das anschließend ganz normal auf dem Markt verkauft wurde. Weil alles in dieser Welt dem Herrn gehört (1Kor 10,26), darf auch alles ohne Nachforschen gegessen werden. Selbst wenn ein Nichtchrist bei einer Einladung Fleisch anbietet, darf alles gegessen werden (1Kor 10,27). Nur eine Ausnahme macht Paulus. Wenn der Nichtchrist seinen christlichen Besucher eigens darauf aufmerksam macht, dass er ihm Götzenopferfleisch anbietet, soll der Christ ablehnen. Nur so kann er seinem Gastgeber bezeugen, dass er den Götzen keine Verehrung erweist (1Kor 10,28). Doch Paulus betont sofort, dass der Grund dafür nicht darin liegt, dass das Essen dieses Fleisches Sünde wäre („nicht um des eigenen Gewissens willen“), sondern in der Verwirrung, die beim anderen ausgelöst wird („um des Gewissens des anderen willen“, 1Kor 10,28-29).

IV. Evangelisten und Lehrer

Eine doppelte Spannung

Wir haben bisher eine doppelte Spannung in der Evangelisation kennen gelernt.

  1.  Der dreieine Gott selbst ist der eigentliche Missionar und der Heilige Geist allein kann Menschen von der Existenz Gottes überzeugen und sie zur Buße führen. Gleichzeitig will Gott aber, dass Menschen das Evangelium verkündigen und sich Gedanken darüber machen, wie sie andere Menschen erreichen können.
  2.  Die Wahrheit des Evangeliums steht ein für allemal fest und ist in unabänderlichen, historischen Heilstatsachen gegründet. Trotzdem wird diese Wahrheit nicht verkündigt, indem der biblische Urtext verlesen wird, sondern in dem in der Evangelisation jeder Zielgruppe das Evangelium neu erläutert wird (und in jeder Predigt und jedem Hauskreis neu ausgelegt wird).

Dass Gott alles tut und dass er uns beauftragt hat zu gehen und zu planen gehört also ebenso zusammen, wie die Notwendigkeit die reine biblische Lehre zu verkündigen mit der notwendigen Anpassung der Verkündigung an immer neue Zuhörer.

Evangelisation und biblische Lehre: Das Beispiel des Römerbriefes

Der Römerbrief ist aus der praktischen Missionsarbeit heraus geschrieben

Der Römerbrief zeigt, dass Evangelisation und Mission in gesunder biblischer Lehre fußen müssen und eine gesunde systematische immer zu Evangelisation und Mission führt.17 Der Römerbrief ist aus der praktischen Missionsarbeit heraus geschrieben und will die Berechtigung und Notwendigkeit der weltweiten Verkündigung des Evangeliums begründen. Der Römerbrief ist zugleich die systematischste biblische Darstellung des Evangeliums und des christlichen Glaubens.

Paulus will im Römerbrief allen Menschen ausnahmslos das Evangelium verkündigen, unabhängig von Sprache, Kultur und Rasse („Griechen und Nichtgriechen“, Röm 1,14) und von Bildung und sozialer Schicht („Gebildeten und Ungebildeten“, Röm 1,14) und deswegen nach Rom kommen (Röm 1,15).

Evangelisten und Lehrer

Gott hat jeden Gläubigen mit seinen Gaben zu bestimmten Aufgaben berufen. In Eph 4,11-12 erwähnt Paulus unter den Gabenträgern, die die Gemeinde zurüsten, auch die Evangelisten und die Hirten und Lehrer. Ihr Verhältnis zueinander ist leicht von Spannungen belastet.

Evangelisten brauchen die Korrektur durch Lehrer, Hirten und die Gemeinde, aber diese wiederum brauchen die ständige Erinnerung durch die Evangelisten, dass Gemeinde und Lehre nicht um ihrer selbst willen existieren, sondern um die Welt mit dem Evangelium zu erreichen.

Allen Menschen das Evangelium – unabhängig von Sprache, Kultur, Rasse, von Bildung und sozialer Schicht

Auch in Deutschland kennen wir das Problem. Überspitzt gesagt: Der Evangelist sieht nur die Welt, der Lehrer nur die Gemeinde. Lehrer bringen manchmal wenig Verständnis für die Kreativität der Evangelisten auf, Menschen zu erreichen, Evangelisten dagegen fehlt manchmal das Verständnis für die Notwendigkeit biblischer begründeter Schranken und Seelsorge und dafür, dass nicht alles, was in der Evangelisation möglich ist, die Gemeinde prägen soll.

Man vergisst zu leicht die Konsequenzen für die andere Gruppe. Als Lehrer weiß ich, dass man allzu leicht durch eine gewisse Enge den Evangelisten den Freiraum nehmen kann, „auf etliche Weise etliche zu gewinnen“. Andererseits vergessen viele Evangelisten, dass sie Vorbilder für viele Gemeinden sind.


  1. Das lateinische Fremdwort dafür ist ‚Mission‘. 

  2. Vor allem Mt 28,16-20; Mk 16,15-20; Joh 20,11-21,24, bes. 20,21-23; Lk 24,13-53, bes. 24,44-49; Apg 1,4-11. 

  3. Offb 5,9-10; ähnlich Offb 5, 9-10; 7,9; 10,11; 11,9; 13,7; 14,6; 17,15. 

  4. „Denn es wird eine Zeit sein, in der sie die gesunde Lehre nicht ertragen werden, sondern sie werden sich nach ihren eigenen Lüsten Lehrer ansammeln, weil es ihnen in den Ohren kitzelt“ (2Tim 4,3). 

  5. Vgl. zu den folgenden Thesen das Seminar 601 „Anleitung zur Analyse unerreichter Gruppen“ vom 10.10.1990 auf dem Deutschen Evangelisationskongress in Stuttgart. Zunächst abgedruckt im Seminarhandbuch zum Kongress, sodann in Querschnitte (Bonn) 3 (1990) 3 (Okt): 15-16. Das Seminar wurde zusammen mit Dieter Boy durchgeführt. 

  6. Zitiert nach Kurt Aland (Hg.). Lutherlexikon. a. a. O. S. 104. 

  7. Dies betont besonders Kurt Hennig. „Kein Feigenblatt für Toleranz: Eine gefährliche Redewendung: Den Juden ein Jude und den Griechen ein Grieche“. Idea vom 1.11.1984, wieder abgedruckt in Kurt Hennig. Höhepunkte aus der „Exegetischen Märchenecke“. Dokumentation 11/92. Informationsdienst der Evangelischen Allianz: Wetzlar, 1992. 

  8. „Ich bin allen alles geworden, damit ich auf jede Weise einige gewinne“, 1Kor 9,23. 

  9. Ebd. S. 7-8. 

  10. Aurelius Augustinus. Vom Gottesstaat. dtv-klassik. dtv: München, 19883. Bd. 2. S. 564 (Kapitel 19 „Die äußere Lebensführung im Gottesstaat“ in Buch 19) (Hervorhebung hinzugefügt). Ähnlich äußert sich Augustinus in Aurelius Augustinus. Bekenntnisse. dtv-klassik. dtv: München, 19885. S. 79 (Mitte des 3. Buches). 

  11. Vgl. meinen Artikel „Tradition“. S. 1589-1590 in: Helmut Burkhardt u. a. (Hg.). Das Große Bibellexikon. Bd. 3. R. Brockhaus: Wuppertal, 1989. 

  12. C. S. Lewis. Christentum schlechthin. J. Hoegner: Köln, 1956. S. 228-229 (neuer Titel: Pardon – ich bin Christ!; engl. Titel: Mere Christianity). 

  13. 5Mose 17,11+20; ähnlich 28,14; Jos 1,7; 23,6; 2Kön 22,2; 2Chr 34,2; Spr 4,27; Jes 30,21. 

  14. Ich habe mich in verschiedenen meiner Veröffentlichungen ausführlich mit dem ‚Zweifrontenkrieg‘ im Korintherbrief auseinandergesetzt: Paulus im Kampf gegen den Schleier: Eine alternative Auslegung von 1. Korinther 11,2-16. Biblia et symbiotica 4. VKW: Bonn, 1993. S. 118-121; „Korinth: Paulus zwischen Irrtum und Irrtum“. Bibel und Gemeinde 90 (1990) 3: 249-253; „Paulus und seine Mitarbeiter: Vom Umgang ‚neutestamentlicher Missionare‘ miteinander“. S. 64-81 in: Klaus Brinkmann (Hg.). Missionare und ihr Dienst im Gastland. edition afem – mission reports 5. VKW = „Paulus und seine Mitarbeiter: Vom Umgang ‚neutestamentlicher Missionare‘ miteinander“. Evangelikale Missiologie 15 (1999) 1: 13-22; Der Römerbrief. a. a. O. Bd. 2. S. 279-284; Ethik. a. a. O. Bd. 1. S. 575-596 und Bd. 2. S. 189-209. 

  15. Zu den korinthischen Parteien vgl. Karl Wieseler. Zur Geschichte der neutestamentlichen Schriften und des Christentums. J. C. Hinrich’sche Buchhandlung: Leipzig, 1880. S. 1-53. 

  16. So nennt man eine ‚Ehe‘, die sich ganz auf das Geistige beschränkt. Der Ausdruck beruft sich dabei fälschlich auf Plato. 

  17. Vgl. dazu ausführlicher meine Beiträge „Der Römerbrief als Charta der Weltmission“. Evangelikale Missiologie 14 (1998) 1: 2-8 = Bibel und Gemeinde 96 (1996) 1: 56-64; „Gemeinde und Mission im Römerbrief“. transparent (SMD) 2/1999: 6 und die Einleitung in Der Römerbrief 1. Theologie für die Gemeinde. Hänssler: Neuhausen, 1994.