1. Schließen sich seelsorgerliche und therapeutische Hilfsmaßnahmen aus
Das Thema „Seelsorge contra Psychotherapie?“ beschäftigt mich seit vielen Jahren: Haben beide gleiche Ziele, nur verschiedene Voraussetzungen? Schließen sie einander aus oder können sie einander ergänzen? Wir wollen dieses weite Gebiet am Beispiel der depressiv Erkrankten in der Gemeinde untersuchen.
2. Begriffsbestimmungen
2.1. Seelsorge
Den Begriff „Seelsorge“ gibt es so nicht in der Bibel, aber sinngemäße Aufforderungen: einander dienen, einander ermahnen, zurechthelfen. Die Definitionen von Seelsorge sind in den einschlägigen Lehrbüchern sehr unterschiedlich. Ich möchte Seelsorge gegenüber Beratung, Therapie, ärztlicher und psychologischer Hilfestellung wie folgt abgrenzen:
Ziel der Seelsorge ist das Heil der verlorenen Menschen, dies bedeutet mehr als Heilung einer Krankheit. Seelsorge will die Beziehung zu Gott herstellen oder wieder herstellen (Glauben, Vergebung, Versöhnung mit Gott).
Darüber hinaus geht es ihr um Heilung der Beziehung zu Menschen (durch Umkehr zu Gott verändert sich unser Leben, dadurch werden auch zwischenmenschliche Vergebung und Versöhnung möglich). Seelsorge befaßt sich also mit Schuld (nicht nur mit Schuldgefühlen!) und Vergebung, Umkehr und Neuorientierung nach göttlichen Maßstäben (Nachfolge). Seelsorge fragt und beantwortet die Frage nach dem Sinn des Lebens, des Leidens, des Sterbens, der Geschichte usw.
Seelsorge schließt die Befreiung von okkulten Belastungen und Bindungen ein.
Es ist ohne Frage richtig, daß bei seelsorgerlichem Handeln auch der ganze Mensch im Blickpunkt ist und auch Heilung nach Geist, Seele und Leib geschehen kann (so wie im Neuen Testament, und wie auch heute aus den verschiedenen Erweckungsgebieten und Missionsfeldern berichtet wird).
Seelsorge brauchen also alle Menschen, ob gesund oder krank.
2.2. Psychotherapie
Hier geht es um Heilung oder Linderung eines Symptoms oder einer Krankheit, z. B. einer Depression.
Es geht nicht um Sinnfindung (außer bei der Logotherapie Viktor Frankls), es geht nicht um Glauben, Umkehr, Schuld oder okkulte Belastung (diese wird von den meisten Therapeuten geleugnet).
Psychotherapie bedeutet: 1. psychische Krankheiten behandeln, 2. mit psychischen Mitteln behandeln (Einzel- und Gruppengespräche und sogenannte Co-Therapien, wie Musiktherapie, Bewegungstherapie, Gestaltungstherapie, Entspannungsverfahren, Psychodrama, Bibliodrama).
An dieser Stelle soll betont werden, daß die Psychologie eine empirisch arbeitende Wissenschaft ist (beruht auf Beobachtungen, Messungen, Experimenten). Die Ergebnisse sind wie bei allen Wissenschaften vorläufige „Wahrheiten“, die immer wieder korrigiert und weiterentwickelt werden müssen. Die Psychotherapieschulen sind von der Psychologie abgeleitete Methoden der Behandlung, die oft den Charakter einer Ideologie oder Glaubenslehre haben. Sie beinhalten nur teilweise gesicherte Erkenntnisse, meist jedoch Hypothesen, Theorien und Dogmen. Es gibt heute über 300 solcher „Schulen“, zum Teil haben sie fragwürdige Lehren und Lehrer. Die drei größten und allgemein anerkannten „Schulen“ sind die Tiefenpsychologie, die Verhaltenstherapie und die Gesprächspsychotherapie. Wir verwenden Elemente aus allen 3 Schulen, die uns geeignet erscheinen als Werkzeuge zur Behandlung seelisch Kranker, dazu auch Elemente anderer o. g. Methoden (Musiktherapie, Familientherapie u. a.). Diese Methoden sind für uns nur nützliche Instrumente, aber haben keinen Wert an sich, vor allem keinen ideologischen Anspruch und sie sind kein Ersatz für den Glauben und dienen nicht der „Selbsterlösung“.
Gefahren von psychologischen und psychotherapeutischen Heilungsmethoden ergeben sich dann, wenn daraus eine Ideologie gemacht wird, wenn Dogmen geglaubt werden müssen. wenn Therapeuten ungläubig sind und den
Glauben des Patienten nicht achten, wenn Selbsterlösung und Selbstverwirklichung propagiert werden, wenn der Patient vom Therapeuten abhängig gemacht wird, wenn vom Therapeuten eine gleichzeitige seelsorgerliche Begleitung abgelehnt wird.
Chancen von psychologischen und psychotherapeutischen Behandlungen:
- Selbsterkenntnis und Selbsterfahrung, verbunden mit Gotteserkenntnis!
- Nachreifung der Persönlichkeit, Erwachsenwerden, damit verbunden Gewinnen von Selbständigkeit, Unabhängigkeit.
- Stärkung des Willens und der Entscheidungsfähigkeit, damit Zunahme der Ich-Stärke.
- Selbstannahme, sein Schicksal annehmen, sich selbst vergeben.
- Von Illusionen Abschied nehmen, überhöhte Ansprüche überwinden (z. B. Ehrgeizhaltung)
- Arbeitsfähig und liebesfähig werden.
- Neue Verhaltensweisen einüben.
Bei den letzten Punkten merken wir eine Überschneidung von Psychotherapie und Seelsorge. Zusammenfassend kann die Abbildung auf folgender Seite die Zusammenhänge zwischen Seelsorge und Psychotherapie verdeutlichen:
Beide Gebiete haben ihre eigenen Anliegen (s. o.), überschneiden sich jedoch in der Mitte teilweise. Diese Überschneidung kann und sollte vergrößert werden: wenn der Seelsorger psychologische Kenntnisse hat und anwendet und wenn der Psychotherapeut gläubig ist und seinem Patienten auch Seelsorger sein kann oder aber die Seelsorge gleichzeitig und begleitend durch eine andere Person hinzukommt.
Wir meinen – sowohl aus grundsätzlichen Überlegungen heraus als auch nach unseren langjährigen Erfahrungen mit seelisch Kranken – daß Psychotherapie und Seelsorge nicht einander ausschließen, sondern sich sinnvoll ergänzen. Dies soll am Beispiel von depressiven Menschen erläutert werden.
2.3 Depressionen
2.3.1 Formen
2.3.1.1 Die endogenen Depressionen
Hier spielen Veranlagungen und Vererbungen eine Rolle. Es besteht eine Störung des Gehirnstoffwechsels und es sind im allgemeinen keine erkennbaren äußeren Ursachen oder innere Konflikte zu finden. Diese Krankheit verläuft oft in Phasen. Die Patienten haben oft Tagesschwankungen (früh geht es ihnen schlecht, abends besser). Die Krankheit ist durch Medikamente (Antidepressiva) gut zu beeinflussen, ebenso eine Vorbeugung vor Rückfällen (Lithium).
Symptome:
- Gedrücktheit: Unfähigkeit, Gefühle wahrzunehmen, Patienten können sich nicht freuen, nicht weinen, sind gleichgültig, wie „ausgedörrt“.
- Denkhemmung: Keine Konzentration, Gedächtnisstörung, Grübeln, verworrene Gedanken, „wie blockiert“, können keine Zusammenhänge erfassen, haben Angst, zu verkalken.
- Psychomotorische Hemmung: Kein Antrieb, können keine Entscheidungen treffen, fühlen sich erschöpft, liegen oft apathisch im Bett.
- Vitalstörungen: Kein Appetit, dadurch Gewichtsabnahme, Schlafstörungen, Potenzstörungen, Angstzustände, Selbstmordgedanken.
- Schuldgefühle: Hier handelt es sich um „falsche“ Schuldgefühle, z. B. meinen die Patienten, die Sünde gegen den Heiligen Geist begangen zu haben. Sie klagen darüber „keine Beziehung zu Gott“ zu haben, können nicht beten, fühlen sich schuldig, sündig und sehen keinen Ausweg. Die Schuldgefühle können wahnhaft überhöht sein. Hinzu kommen Verzweiflung, Angst und Selbstmordgedanken.
Neben Medikamenten und stationärer Einweisung bei Selbstmordgefährdung ist eine psychotherapeutische und seelsorgerliche Begleitung des Patienten nötig und sinnvoll: Keine Appelle („Nimm dich zusammen!“ oder „Sei aktiv!“, oder „Glaube nur!“), sondern eher gewähren lassen („Du darfst ausruhen. Wir glauben für dich.“) und trösten („Du bist wie in einem Tunnel, der Tunnel hat aber ein Ende. Dann wird es wieder hell. Du brauchst nicht zu kämpfen, nur auszuhalten. Es wird wieder gut, wenn die Depression vorbei ist, kannst du wieder glauben und beten und dich freuen wie vorher.“).
2.3.1.2. Erlebnisbedingte (neurotische) Depression
Hier ist ein deutlicher Zusammenhang zu bestimmten Ereignissen, Verletzungen oder einem erlittenen Verlust zu erkennen. Oft liegen langandauernde bewußte oder unbewußte Konflikte vor (z. B. Ehekonflikte). Die Patienten leiden unter Minderwertigkeitsgefühlen, haben einen zu hohen Leistungsanspruch, überfordern sich selbst oder sind überangepaßt, um den anderen zu gefallen und geliebt zu werden. Ursachen liegen oft in der Kindheit:
Demütigungen, sexueller Mißbrauch, körperliche Mißhandlung, lieblose Erziehung oder auch Verwöhnung. Die dadurch entstehenden Verletzungen wurden nicht verarbeitet, sondern verdrängt. Besonders die entstehenden Aggressionen werden verdrängt und richten sich dann gegen die eigene Person bis hin zur Entstehung von Suizidgedanken und -handlungen.
Es ist offensichtlich, daß diese Form der Depression eine ganz andere Behandlung benötigt als die der o. g. endogenen Depression. Hier sind Medikamente ungeeignet, im Gegenteil, sie würden nur betäuben und zur Abhängigkeit führen. Hier ist eine intensive Psychotherapie, verbunden mit Seelsorge, erforderlich mit den Zielen:
Bewältigung der Vergangenheit, Zulassen von Schmerz und Trauer, Abschied von Illusionen sowie Lernen, mit den eigenen Aggressionen besser (anders) umzugehen. Hier ist es wichtig, den Eltern zu vergeben, sich selbst anzunehmen, die eigenen Anteile an der negativen Lebensentwicklung zu erkennen, eine Neuorientierung und Sinnerfüllung zu erfahren, neue Verhaltensweisen auszuprobieren und einzuüben.
2.3.1.3. Mischformen
Reine endogene oder reine neurotische Depressionen sind seltener. Am häufigsten finden wir Mischformen, d. h. ein Mensch hat eine innere Veranlagung oder Bereitschaft zur depressiven Reaktion und diese wird dann meist durch einen äußeren Anlaß ausgelöst. Besonders häufig sind solche Mischformen in Umstellungsphasen, z.B. in der Pubertät oder wenn die Kinder aus dem Haus gehen, bei der hormonellen Umstellung („klimakterische Depression“) oder bei Einsamkeit/Rentnerdasein („Altersdepression“). Eine Sonderform ist die „larvierte“ oder „maskierte“ Depression: hier hat der Patient vorwiegend körperliche Symptome (Herz-, Magen-/Darmbeschwerden o. ä.). Die wahren Ursachen der funktionellen Beschwerden der Patienten werden oft vom praktischen Arzt nicht erkannt.
Bei den Mischformen ist eine zweigleisige Behandlung nötig: Gabe von Medikamenten (Anti- depressiva) einerseits und auf der anderen Seite psychotherapeutische und seelsorgerliche Gespräche.
3. Umgang mit Depressiven in der Gemeinde
Aus dem oben Dargestellten ist deutlich geworden, daß eine Diagnosestellung am Anfang sehr wichtig ist, denn der Umgang mit den verschiedenen Formen der Depression ist grundverschieden!
3.1. Bei der endogenen Depression
ist unbedingt eine ärztliche Therapie mit Antidepressiva erforderlich. Eine begleitende Psychotherapie und Seelsorge (es können 2 Personen sein) ist sehr hilfreich.
Die Schuldgefühle des Patienten sollen vermindert werden („Wir glauben für dich. – Gott kennt dich.“). Oft ist eine Einweisung in ein Krankenhaus nötig. Natürlich sollte der Patient auch dort besucht und seelsorgerlich begleitet werden.
3.2. Bei erlebnisbedingten Depressionen
sollten nur in Ausnahmefällen vorübergehend Medikamente verordnet werden, dagegen eine intensive Gesprächstherapie in Verbindung mit Seelsorge erfolgen. Günstig ist sicher, wenn der Psychotherapeut/Arzt gläubig ist, ansonsten sollte die Psychotherapie (ungläubiger Therapeut) durch einen Seelsorger reflektiert und begleitet werden.
Ein Seelsorger würde eine Grenzüberschreitung vornehmen, wenn er Krankheiten (Depressionen) „behandeln“ wollte, dies ist Aufgabe des Arztes! Ebenso wäre sein Dienst verfehlt, wenn er das Evangelium durch „psychologische Beratung“ ersetzen wollte.
Psychotherapie und Seelsorge überschneiden sich aber wiederum, nämlich dann, wenn es um die „Wurzelsünden“ (auslösende Ursachen) bei Depressiven geht: Ehrgeiz, Anspruchshaltung, Selbstüberforderung, Hochmut: überlegen, besser sein wollen, Geltungssucht: gefallen und geliebt werden wollen, unterdrückte Aggressivität ohne Vergebungsbereitschaft, Selbstmitleid.
Wir haben hier nur ein Beispiel für seelische Krankheit abgehandelt, nämlich die Depression. Ähnliches gilt für andere psychische Störungen, wie Psychosen, BorderlineStörungen, Suchtkrankheiten, Eßstörungen, Angst-Krankheiten, Zwangskrankheiten, soziale Anpassungsstörungen, Dissozialität, sexuelle Störungen und psychosomatische Krankheiten. Es leuchtet schnell ein, daß bei diesen genannten Störungen und Krankheiten, ebenso wie bei den Depressionen, beides, eine ärztlich-psychotherapeutische und seelsorgerliche Betreuung, nötig ist.
4. Einheit von Geist, Seele und Leib
Es ist sicher klar geworden, daß eine einseitige und eingeengte Betrachtungs- und Behandlungsweise psychisch Kranker schaden kann. Deshalb vertreten wir ein biopsychosoziales Konzept, nämlich die Einheit von Geist, Seele und Leib und sozialem Umfeld. Jesus war Seelsorger, Psychotherapeut und Arzt in einem und bleibt unser großes Vorbild. Er handelte, lehrte, heilte ganzheitlich. Er sah den seelischen Hintergrund bei körperlichem Leiden und umgekehrt. Er „durchschaute“ die Menschen, sie erschraken und hatten gleichzeitig Vertrauen zu ihm. Er selbst war die Therapie.
Heute kommen wir zu der Erkenntnis, daß auch „der Arzt als Droge“ mehr wirkt als die Medikamente, die er verschreibt. Ähnliches dürfte für den Seelsorger gelten: nicht die Methode ist wichtig, sondern das Instrument Arzt bzw. Seelsorger in Gottes Hand. Wir „Mitarbeiter Gottes“ müssen „geschliffen werden wie Edelsteine“. Das heißt, wir brauchen ständige fachliche Weiterbildung, aber auch Seelsorge an uns selbst.
Es bleibt zum Schluß die Frage, ob wir ähnlich wie Jesus Menschen nach Leib, Seele und Geist helfen und heilen können. Dies geschieht sicher nur manchmal und in Ansätzen. Es sollte aber immer unser Ziel bleiben, den „ganzen Menschen“ im Auge zu haben und zu versuchen, ihm Hilfe und Heilung zukommen zu lassen. Oft können wir dabei „nur“ einen bescheidenen Beitrag zur Heilung leisten, vielleicht „nur körperlich“ oder „nur seelsorgerlich“ oder „nur sozial“ helfen – das Miteinander-Kooperieren ist hier so wichtig! So finden wir es selbstverständlich, daß bei einer körperlichen Krankheit (Operation) eine seelsorgerliche Begleitung stattfindet. Ebenso selbstverständlich sollte dies bei einer seelischen Krankheit sein. Wenn wir als „Werkzeug in Gottes Hand“ mithelfen, das vielfältige Leiden der Menschen zu lindern oder zu heilen, erfüllen wir einen wichtigen Auftrag Gottes.