ThemenBibelverständnis

Verbalinspiration und variierende Lesarten in der Bibel

Wie gehen wir mit Textvarianten und späteren Hinzufügungen im Bibeltext um? Wird an manchen Stellen in den von Gott inspirierten Text eingegriffen, oder wird er gar verfälscht? Diese und weitere Fragen wird in dem vorliegenden Beitrag nachgegangen.

Wohl jeder aufmerksame Leser ist schon einmal beim Lesen seiner Lutherbibel (Ausgabe von 1984)1 auf einen Hinweis gestoßen, der ihn verunsichert hat. Da steht etwa beim Schluss des Vaterunsers („Denn dein ist das Reich …“) in Mt 6,13 eine Fußnote:

„Dieser Abschluss des Gebetes findet sich schon in einer Gemeindeordnung vom Anfang des 2. Jahrhunderts, wird aber in den neutestamentlichen Handschriften erst später bezeugt.“

Oder in Joh 5 werden die Verse 3b und 4 in die Fußnote verbannt mit der Bemerkung:

„Diese Verse finden sich erst in der späteren Überlieferung.“

Was ist von solchen Textveränderungen und ihren Begründungen zu halten? Wird hier unerlaubt in den von Gott inspirierten (eingegebenen) Text der Bibel eingegriffen? Manche ziehen daraus den Schluss, dass solche „verfälschten Bibeln“ besser nicht benutzt werden sollten. Man greift deshalb neuerdings wieder gern auf Bibelausgaben zurück, die den sogenannten „Textus receptus“2 enthalten, den Luther und auch die Schweizer Reformatoren verwendet haben.3 In ihm sind die angezweifelten Passagen oder Verse enthalten.

Die angesprochenen Fragen hängen offenbar mit abweichenden Lesarten in den neutestamentlichen Handschriften zusammen (sog. Varianten). Das Problem ist ernst zu nehmen.4 Widersprechen solche Textabweichungen nicht der Lehre von der wörtlichen Inspiration der Heiligen Schrift (Verbalinspiration), welche bibeltreue Christen immer festgehalten haben? Diesen Fragen geht das folgende Referat von Prof. Siegbert Becker nach, das 1974 in der theologischen Zeitschrift der Ev.-luth. Wisconsinsynode (USA) erschienen ist.5

… Konservative Lutheraner (und bibeltreue Christen) haben von variierenden Lesarten in der Bibel nichts zu befürchten. Die Varianten des griechischen und hebräischen Textes nehmen uns nicht unsere Bibel weg. Sie können uns nicht nötigen, unsere Lehre aufzugeben.

Es gibt auch junge Theologen, die durch eine bibelkritische Ausbildung das Vertrauen in die Bibel verloren haben

Aber unsere Gemeindeglieder verdienen eine Antwort auf ihre Fragen und wir sollten vorbereitet sein, ihnen eine Antwort zu geben, die ihren Glauben an die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit der Worte und Versprechen Gottes in der Bibel nicht erschüttert oder untergräbt. Und es sind nicht nur unsere Gemeindeglieder, die eine solche Antwort benötigen. Es gibt auch junge Theologen, die durch eine bibelkritische Ausbildung das Vertrauen in die Bibel verloren haben. Vielleicht kann eine ehrliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen ihnen helfen, Zweifel zu überwinden.

1. Was meinen wir mit Verbalinspiration?

1.1 Urtext und Abschriften

Man kann die Frage der variierenden Lesarten nicht von der Lehre der Verbalinspiration trennen. Es mag zur Klärung beitragen, wenn wir uns einige Punkte dieser Lehre wieder ins Gedächtnis holen. Als Erstes ist zu beachten, in welchem Verhältnis die Verbalinspiration zu der Form des Wortes Gottes steht, in der es auf uns gekommen ist. Wir besitzen heute leider nicht mehr die Originale der biblischen Handschriften, sondern nur Kopien der Kopien der ursprünglichen Texte.

Außerdem kennen unsere Gemeindeglieder das Wort Gottes normalerweise nur in einer Übersetzung. Selbst wir als Pastoren benutzen zu unserer eigenen Andacht eine Übersetzung in unserer Sprache. Die meisten von uns würden beim Lesen des Textes in den Ursprachen durch Grammatik und Vokabelfragen so abgelenkt, dass ein wirklich erbauliches Lesen kaum denkbar wäre. Wir beschäftigen uns mit dem ursprachlichen Text meist nur dazu, um uns davon zu überzeugen, ob eine Übersetzung die Bedeutung der Stelle korrekt wiedergibt oder um sprachliche „Obertöne“ zu entdecken, welche die Übersetzung nicht wiedergeben kann.

Wir sagen also, dass nur die originalen Handschriften verbal inspiriert sind. Bedeutet das, dass wir in den Übersetzungen, die wir täglich benutzen, nicht wirklich Gottes Wort vor uns haben? Das ist eine Frage, die oft gestellt wird, wenn es um die Inspiration der Bibel geht. Diese Frage ist zwar hier nicht unser Thema, aber sie hängt zweifellos mit ihm zusammen. Die Beschäftigung mit den variierenden Lesarten führt nämlich zu ähnlichen Überlegungen: „Wenn es so viele Textvarianten in der Bibel gibt, können wir da immer noch sagen, dass wir Gottes Wort in seiner Wahrheit und Klarheit haben?“ Manche Menschen werden durch solche Fragen sehr beunruhigt. Anderen bereitet es geradezu Freude, solche Fragen aufzuwerfen, weil es ihnen Befriedigung bereitet, lang geschätzte Wahrheiten anzuzweifeln.

Aber noch einmal: Wir sollten wissen, was wir antworten, wenn solche Fragen gestellt werden. Wir werden wahrscheinlich nicht in der Lage sein, jeden zufrieden zu stellen, aber wir können wenigstens versuchen, denen eine Antwort zu geben, die ernsthaft nach der Wahrheit suchen.

1.2 Inhalt und Form

Wir dürfen hier voraussetzen, dass unsere Leser die Grundlagen der biblischen Lehre der Verbalinspiration kennen. Wir wissen, dass die Worte der Bibel von den heiligen Menschen Gottes aufgeschrieben wurden. Sie sind wirklich Worte Gottes, welche nicht durch menschliche Weisheit, sondern durch den Heiligen Geist hervorgebracht wurden. Die offenbarten Wahrheiten wurden den Menschen in Worten mitgeteilt, die der Geist Gottes sie lehrte (2Petr 1,21; 2Tim 3,16; 1Kor 2,13).

Doch auch wenn die Worte der Bibel wichtig sind, sollten wir nicht vergessen, dass sie Worte sind und nicht nur Vokabeln. Worte sind Klänge mit Bedeutung. Entscheidend ist die von Gott gewollte Bedeutung, die durch die von Gott gelehrten Worte mitgeteilt wird.

Die Dogmatiker haben immer einen Unterschied zwischen der Materie (Inhalt) und der Form (äußerer Gestalt) des Wortes Gottes gemacht. Es ist wahr, dass Gottes Wort aus Worten besteht, die in grammatischen Satzstrukturen niedergeschrieben wurden. Aber der Inhalt, das Wesen des Wortes Gottes, kann nicht in den Worten selbst gefunden werden, sondern vielmehr in den Gedanken, die durch die Worte ausgedrückt werden. Es ist sogar möglich, dass bestimmte Worte an einer Stelle eine göttliche Wahrheit ausdrücken, während genau die gleichen Worte in einem anderen Zusammenhang eine teuflische Lüge darstellen. Wenn wir uns als Christen im gemeinsamen Glauben an den Herrn Jesus Christus versammeln, dann können wir sagen, dass wir alle Kinder Gottes sind. Wenn aber eben die gleichen Worte („Wir sind alle Kinder Gottes“) im Rahmen einer Christus-verleugnenden Freimaurer-Loge gesprochen werden, dann sind sie nicht Gottes Wort. Sie sind nicht einmal wahr. Sie sind dann vielmehr eine teuflische, falsche Lehre, die Seelen in die Hölle bringt.

Entscheidend ist die von Gott gewollte Bedeutung, die durch die von Gott gelehrten Worte mitgeteilt wird

Das bedeutet nicht, dass der Wortlaut der Heiligen Schrift unwichtig ist. Die Bibel ist wahrhaftig Gottes Wort. Aber wir müssen vorsichtig sein, dass wir den Worten nicht ein Gewicht beilegen, welches sie nicht tragen können. Obwohl es stimmt, dass gewöhnlich unterschiedliche Worte völlig verschiedene Gedanken mitteilen, ist es auch wahr, dass es eine ziemliche Veränderung in den Worten geben kann, ohne dass eine erhebliche Änderung der Gedanken eintritt. Nehmen wir z. B. den Satz: „Wir hatten heute eine große Menge Niederschlag.“ Das ist eine etwas vage Aussage.

Aber sie drückt in etwa den gleichen Gedanken aus wie der Satz: „Wir hatten heute eine große Menge Regen.“ Diese beiden Sätze können also genau das Gleiche bedeuten, wenn sie im Zusammenhang eines heißen Augusttages gesagt werden. Aber selbst dann wäre es denkbar, dass mit „Niederschlag“ Hagel gemeint war und nicht nur Regen. Es gibt sicher Situationen, in denen es keinen großen praktischen Unterschied macht, ob der Niederschlag in Form von Hagel, Regen oder Schnee fällt. Aber es kann auch Fälle geben, wo der Unterschied von größter Bedeutung ist. Schneefall an einem heißen Augusttag wäre ein Wunder.

Die Bibel selbst lehrt uns, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, dasselbe zu sagen. Wir können zum Beispiel an die vielen Stellen denken, auf die wir die Lehre der Erbsünde gründen (z. B. 1Mose 8,21; Ps 51,7; Joh 3,6; Eph 2,3). Auf Grund dieser Stellen haben wir vielleicht alle schon einmal gesagt: „Die Bibel zeigt uns, dass alle Menschen Sünder sind.“ Wohl keiner von uns würde diesem Satz widersprechen, obwohl wir alle wissen, dass es keine einzige Bibelstelle gibt, die exakt diesen Wortlaut hat. Es sollte daher klar sein, dass eine Veränderung im Wortlaut nicht unbedingt eine erhebliche Änderung der biblischen Botschaft hervorrufen muss.

Es ist natürlich auch wahr, dass es Fälle gibt, wo die kleinste Veränderung, sei es nur in der Form eines einzigen Wortes, eine bedeutende Auswirkung auf die Botschaft hat, die es zu vermitteln gilt. Aber das ist nicht immer der Fall.

Verbalinspiration bedeutet nicht, dass die Wahrheit Gottes nur in einem einzigen Wortlaut und in einer grammatischen Form ausgedrückt werden kann

Wir haben also bisher erkannt: Verbalinspiration bedeutet nicht, dass die Wahrheit Gottes nur in einem einzigen Wortlaut und in einer grammatischen Form ausgedrückt werden kann. Diese Erkenntnis ist wichtig im Blick auf variierende Lesarten. Mancher, der dadurch irritiert ist, sollte sich einmal fragen: „Wie groß ist eigentlich der Unterschied in der Bedeutung, den diese Variante mit sich bringt?“

1.3 So genau wie nötig

Damit hängt das Folgende zusammen: Verbalinspiration bedeutet nicht, dass jedes Wort der Bibel genauso präzise und klar ist wie andere. Aber ganz gleich, ob die Worte exakt und präzise oder allgemein und etwas vage sind, sind sie doch Worte Gottes. Diese Tatsache wird oft mit der Klarheit der Schrift verwechselt und man redet dann in solchen Fällen von „unklaren Stellen“. Das stimmt aber eigentlich nicht. Es wäre besser, wenn wir sagen würden: Der Wortlaut von einigen Stellen ist nicht so präzise wie an anderen. Aber die Stelle ist immer ausreichend klar, um das zu vermitteln, was Gott in diesem Zusammenhang mitteilen wollte.

Nehmen wir ein Beispiel. Jesus sagt in Mt 20,28:

„Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“

Diese Worte sind z. B. von Jean Calvin (1509–1565) im Sinne einer „begrenzten Versöhnung“ verstanden worden. Er glaubte, dass Gott einige Menschen zur Seligkeit und die anderen zur Verdammnis bestimmt habe. Daher war er der Meinung, Jesus sei nur für diejenigen gestorben, die zur Rettung ausgewählt wurden. Calvin berief sich dafür auf das „viele“ in dem Satz von Jesus. In der Tat ist dieses Wort an dieser Stelle nicht präzise genug, um als Beweis für die – sonst in der Bibel klar gelehrte (vgl. z. B. 1Joh 2,2) – Versöhnung aller Menschen zu dienen.

Wenn dieser Wortlaut an allen Stellen vorliegen würde, die von der Wirkung des rettenden Werkes von Christus reden, dann könnte das Wort „viele“ im calvinistischen Sinn verstanden werden. Aber auch dann wäre es kein zwingender Schluss. Wir würden dann einfach nicht wissen, wie viele Menschen durch den Tod des Heilands erlöst worden sind. Es könnten zehn sein oder so viele wie die Sandkörner am Meer. Mit „viele“ könnten auch alle Menschen gemeint sein, die jemals gelebt haben und noch leben werden. Diese Stelle zeigt, dass ein Wort von Gott inspiriert sein kann und doch ist es nicht 100% präzise und exakt. Trotzdem drückt es als Wort Gottes das aus, was Gott an dieser Stelle mitteilen wollte. Und in diesem Sinn ist es ein klares Wort.

Ich will diese Erkenntnis noch an einem anderen Phänomen erläutern. Es gibt in der Bibel (wie in der Umgangssprache) sog. Hyperbeln, d.h. übertreibende Angaben. In Mk 1,5 wird zum Beispiel gesagt: „…und das ganze jüdische Land und alle Leute von Jerusalem“ gingen hinaus zum Täufer Johannes und ließen sich taufen. Es wäre falsch, daraus zu folgern, dass wirklich jeder Mensch aus dieser Region zu Johannes an den Jordan gekommen ist. – Lukas sagte (4,22), als Jesus in der Synagoge in Kapernaum sprach, gaben „alle Zeugnis von ihm … und wunderten sich, dass solche Worte der Gnade aus seinem Munde kamen“. Das bedeutet nicht, dass wirklich „jeder“ in Kapernaum überrascht war. An dieser Stelle liegt der Schwerpunkt der Aussage nicht auf dem Wort „alle“. Es wäre hier übertrieben zu meinen, dass etwa auch die Babys auf dem Arm ihrer Mütter ihre Überraschung zum Ausdruck gebracht hätten. – Trotzdem kann es sein, dass wir an anderer Stelle darauf bestehen müssen, dass das Wort „alle“ wirklich „alle“ meint, wenn der Zusammenhang diese Bedeutung fordert.

Dasselbe gilt für gerundete Zahlen, die in der Bibel vorkommen. Zum Beispiel steht in 2Mose 12,37, dass beim Auszug aus Ägypten „600.000 Mann zu Fuß ohne Frauen und Kinder“ das Land verließen. Ein Jahr später, zur Zeit der Volkszählung, hören wir, dass es im Lager Israel am Berg Sinai 603.550 Männer gab, die über 20 Jahre alt waren (4Mose 2,32). Nun könnte man argumentieren, dass sich die Zahl der Männer im wehrfähigen Alter zwischen Auszug und Volkszählung um 3.550 vergrößert hat. Aber ist es nicht auch möglich, dass die beim Auszug genannte Zahl gerundet war oder sogar auf der Zahl der Volkszählung von 4Mose 2 beruht?

Auch gerundete Zahlen sind präzise genug, um die Botschaft zu vermitteln, die Gott mitteilen will

Auch bei der Angabe zur Volkszählung könnte es sich um eine gerundete Zahl handeln. Denn die vorher aufgeführten Angaben zu den einzelnen Stämmen sind offensichtlich – mit einer Ausnahme – auf volle 100 gerundet. Die Ausnahme ist der Stamm Gad, für den 45.650 Mann angegeben sind. Alle anderen Zahlen enthalten keine Einer oder Zehner. Diese Tatsache rechtfertigt aber keinesfalls die Behauptung, dass die Zahl 600.000 „maßlos übertrieben“ wäre. Wir müssen jedoch nicht darauf bestehen, dass wir hier ganz exakte Zahlen vor uns haben. Sie sind präzise genug, um die Botschaft zu vermitteln, die Gott mitteilen will. Es sei aber nochmals betont, dass uns dies nicht das Recht gibt, diese Zahlen als reine Phantasieprodukte anzusehen.

Dieses Beispiel ist benutzt worden, um die Irrtumslosigkeit der Heiligen Schrift in Frage zu stellen. Nach dem bereits Gesagten, wissen wir, was davon zu halten ist, wenn die Bibel sagt, dass 600.000 Männer Ägypten verlassen haben. Es können möglicherweise auch 601.472 oder 599.233 gewesen sein. Wer aber behauptet, die Verwendung von gerundeten Zahlen gäbe uns das Recht, alle biblischen Zahlen für „erheblich aufgebläht“ zu halten, der beschuldigt die Bibel falscher Angaben.

1.4 Nicht alles ist gleich wichtig

Verbalinspiration bedeutet nicht, dass jedes einzelne Wort von gleicher Wichtigkeit ist wie jedes andere

Noch eines ist festzuhalten, bevor wir uns näher mit dem Verhältnis der variierenden Lesarten zur Botschaft der Bibel befassen. Verbalinspiration bedeutet nicht, dass die Worte der Heiligen Schrift „eingeebnet“ werden, wie oft behauptet worden ist. Es ist natürlich wahr, dass unsere Lehre von der Verbalinspiration darauf hinaus läuft, dass jedes Wort der originalen Handschriften ein Wort Gottes ist. Und als solches verdient es unsere Achtung. Martin Luther soll einmal gesagt haben: Wenn Gott zu uns nur „La, la, la“ gesprochen hätte, müssten wir doch darauf hören wie auf das Wundervollste, was je gesagt wurde.

Trotzdem bedeutet die Verbalinspiration nicht, dass jedes einzelne Wort von gleicher Wichtigkeit ist wie jedes andere. Bei einer Übersetzung können wir an manchen Stellen zum Beispiel das „men“ oder „de“ des griechischen Textes ignorieren. Diese kleinen Wörter (Partikel) können einen Unterschied zum Vorhergehenden ausdrücken, müssen aber nicht immer übersetzt werden. Auch von ganzen Sätzen gilt übrigens, dass nicht jeder so wichtig wie der andere ist. Ja, man kann sogar sagen, dass manche Bücher der Bibel nicht so wichtig sind wie andere. Auf der einen Seite hat Luther vollkommen Recht, wenn er den Jakobusbrief „eine stroherne Epistel“ nannte. Das bedeutet nicht, dass dieser Brief völlig wertlos ist. Luther meinte das auch nicht. Er hat auch manches Positive über den Jakobusbrief geschrieben. Dieser Brief ist auf jeden Fall viel wichtiger als der „Hirt des Hermas“ oder der 1. Clemensbrief oder der Barnabasbrief. Diese Schriften entstanden gegen Ende des 1. Jahrhunderts bzw. am Anfang des 2. Jahrhunderts. Sie wurden von der frühen Kirche als beachtenswert eingeschätzt, standen aber nicht auf einer Stufe mit den Schriften der Apostel. Es sind „Spreu-Episteln“ im Vergleich zum Jakobusbrief, genau wie der Jakobusbrief im Vergleich zu den zentralen theologischen Aussagen des Römerbriefs eine „stroherne“ Epistel darstellt.

1.5 Nicht immer wird alles gesagt

Schließlich ist auch zu beachten, dass da, wo die Heilige Schrift von einem Ereignis redet, nicht immer alle Details erwähnt werden. Wer die Verbalinspiration ernst nimmt, muss wissen, dass nicht alles, was Jesus, die Apostel und Propheten getan haben, in die inspirierten Berichte der Bibel Aufnahme gefunden hat. Die Bibel sagt das selbst. Am Ende des Johannesevangeliums (Joh 21,25) heißt es:

„Es sind noch viel andere Dinge, die Jesus getan hat. Wenn aber eins nach dem andern aufgeschrieben werden sollte, so würde, meine ich, die Welt die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären.“

Verbalinspiration bedeutet also nicht, dass wir überall einen vollständigen und detaillierten Bericht des Geschehenen vor uns haben. Alles, was wir sagen können, ist nur, dass wir einen korrekten und angemessenen Bericht haben, in dem der Heilige Geist uns seine Sicht von dem liefert, was gesagt und getan wurde.

Ein Vergleich der Parallelberichte in den Evangelien macht das schnell deutlich. Die Evangelisten schildern den gleichen Vorgang nicht selten unterschiedlich (z. B. Mt 9,1-8; Mk 2,12; Lk 5,17-26). Das bedeutet nicht – wie einige daraus gefolgert haben –, dass Jesus nicht das sagte, was ihm in den Evangelien zugesprochen wird. Es kann sein, dass er nicht exakt die Worte benutzte, die uns überliefert sind. Aber der Heilige Geist hat diese Worte gewählt, um Gedanken von Jesus auf diese Weise zu bewahren.

Es mag sein, dass Predigten, die Jesus gehalten hat, zusammenfassend aufgeschrieben wurden. Aber was uns vorliegt, ist eine korrekte Zusammenfassung. Es können andere Worte – ja selbst eine andere Sprache – benutzt werden, als die, die Jesus sprach. Trotzdem geben die Worte die Bedeutung seiner ursprünglichen Aussagen korrekt wieder.

Diese Erkenntnis hilft uns, mit manchen törichten Argumenten umzugehen. Dies ist etwa bei den Einsetzungsworten des Abendmahls der Fall (z. B. Mt 26,26f.): „Das ist mein Leib… das ist mein Blut.“ Die lutherische Kirche legt großen Wert auf das „ist“, weil damit die wirkliche Gegenwart vom Leib und Blut des Christus im Sakrament bezeugt wird.6 Nun ist von manchen behauptet worden, diese Betonung des „ist“ sei unzulässig. Jesus habe Aramäisch gesprochen und in dieser Sprache stehe an einer solchen Stelle gar kein Verb (keine Copula).7 Tatsache ist aber, dass der uns überlieferte Bericht von der Abendmahlseinsetzung in Griechisch verfasst wurde. Und in dieser Sprache wird das Gemeinte mit „ist“ (estin) ausgedrückt. Wir dürfen davon ausgehen, dass das kein Zufall ist, sondern vom Heiligen Geist so beabsichtigt.

1.6 Zusammenfassung

Wenn wir also beachten:

  • dass das Wesen des Wortes Gottes in der Bedeutung der Worte der Bibel zu suchen ist;
  • dass Verbalinspiration nicht heißt, die Wahrheit könne nur auf eine Weise ausgedrückt werden;
  • dass Verbalinspiration nicht bedeutet, jedes Wort sei so präzise, wie wir es uns vielleicht wünschen würden;
  • dass Verbalinspiration nicht behauptet, alle Worte hätten die gleiche Wichtigkeit für die Übermittlung der Botschaft;
  • dass Verbalinspiration nicht bedeutet, die Berichte, die wir haben, würden niemals zusammenfassen, verkürzend darstellen oder bereits Bekanntes wiederholen, dann wird das Problem der variierenden Lesarten in biblischen Handschriften uns viel weniger zu schaffen machen.

2. Wie wirken sich die Lesarten auf die biblische Botschaft aus?

2.1 Viele Abweichungen sind belanglos

Ein Großteil der Lesarten verändert die Aussage des Textes nicht im Geringsten

Wir alle wissen, dass die biblischen Bücher über Tausende von Jahren von Hand kopiert worden sind. Der Buchdruck wurde erst weniger als ein Jahrhundert vor der Reformation erfunden. Bis dahin konnten Fehler, die sich beim Abschreiben unvermeidlicherweise in den Text einschleichen, nicht von den Korrektoren vor dem endgültigen Druck berichtigt werden. Die erste Abschrift war dann auch der Text, der in Umlauf kam. Korrektur gelesen wurde damals zwar auch, allerdings erst nachträglich. Das kann man in vielen Handschriften beobachten, die Berichtigungen enthalten – oft von verschiedener Hand. Forscher sind heute in der Lage, an manchen Stellen die verschiedenen Korrektoren durch Vergleich der Handschriften, Schreibstoffe usw. zu identifizieren. Von den Korrektoren wurden auch Abschriften mit Originalen verglichen, sofern diese noch vorlagen. Um 300 n.Chr. schrieb einer der Bischöfe von Alexandrien, als er sich mit einem Textproblem im Johannesevangelium beschäftigte:

„Die (originale) Handschrift aus der Hand des Evangelisten, welche durch göttliche Gnade in der Kirche zu Ephesus erhalten blieb, ist noch dort und wird von den Frommen verehrt.“8

Dass es in der Bibel variierende Lesarten gibt, sollte eigentlich niemanden überraschen. Jeder, der einmal versucht hat, einige Seiten Text entweder von Hand oder mit der Schreibmaschine abzuschreiben, weiß, wie schwierig es ist, Fehler zu vermeiden. Solche Fehler haben sich auch in die biblischen Handschriften eingeschlichen. Aber wenn wir hören, dass es ungefähr 400.000 solche Abschreibefehler allein im Neuen Testament gibt, dann erscheint uns diese Zahl enorm hoch. Und man kann den Eindruck bekommen, dass dann fast nichts als sicher angenommen werden kann.

Wenn man diese 400.000 Varianten aber auf die Tausenden von vorliegenden Handschriften aufteilt, sieht die Sache schon ganz anders aus. Jeder, der schon einmal Korrektur lesen musste, weiß, dass es nicht ungewöhnlich ist, auf einer Seite mehrere Druckfehler zu finden. Die meisten von ihnen sind so offensichtlich, dass man sie ändern kann, ohne das Manuskript zu Rate zu ziehen.

Wir müssen uns einmal vor Augen halten, wie viele Druckfehler uns täglich in Zeitungen9 oder Büchern begegnen. Die meisten von ihnen stellen überhaupt kein Problem dar, weil es sich um Fehler der Orthografie oder der Grammatik handelt, die den Sinn trotzdem klar erkennen lassen.

Dasselbe gilt für viele Varianten im Text der Ursprachen. Ein Großteil der Lesarten verändert die Aussage des Textes nicht im Geringsten. Nur in sehr wenigen Fällen ist die Abweichung inhaltlich bemerkenswert. Und selbst wenn eine Variante eine erhebliche Veränderung im Sinn des Textes bedeutet, ist der Handschriftenbefund meistens so eindeutig, dass der richtige Wortlaut unzweifelhaft zu ermitteln ist.

2.2 Hinzufügungen und Weglassungen

Einige Beispiele können uns helfen, das Problem verständlich zu machen. Selbst wenn Wortgruppen oder auch ganze Sätze in einer bekannten Geschichte fehlen, findet sich die Wortgruppe oder der Satz oft an einer anderen Stelle der Bibel. In der alten (unrevidierten) Lutherbibel10 heißt es z. B. in Mt 18,11:

„Des Menschen Sohn ist gekommen, selig zu machen, was verloren ist.“

Die revidierte Lutherbibel von 1984 bringt dazu folgenden Hinweis: „Vers 11 findet sich erst in der späteren Überlieferung …“ Auch die neueren deutschen Übersetzungen (GNB, Hfa, NL) arbeiten mit einer solchen Fußnote. An dieser Stelle werden wir wahrscheinlich nie mit letzter Gewissheit sagen können, ob Matthäus diesen Satz in seinem Original stehen hatte, als er sein Evangelium schrieb, oder nicht.

Aber selbst wenn Matthäus diese Worte nicht geschrieben hat, ist es überhaupt keine Frage, dass durch Hinzufügung dieser Worte nichts Neues zur biblischen Wahrheit hinzugefügt würde. Und auch wenn wir diesen Vers weglassen, verlieren wir nichts von dem, was uns Gott in der Heiligen Schrift offenbart hat. Denn wer seine Bibel gut kennt, weiß, dass dieselben Worte mit nur einer kleinen Veränderung in Lk 19,10 zu finden sind. Dort heißt es:

„Der Menschensohn ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“

In Lk 19 gibt es kein textkritisches Problem, weil alle Handschriften diesen Wortlaut überliefern. – Interessanterweise haben zwar die meisten Handschriften bei Matthäus die Worte: „Der Menschensohn ist gekommen, selig zu machen, was verloren ist“, aber einige der jüngeren Minuskeln11 und Lektionare bieten auch bei Matthäus den Wortlaut von Lukas: „Der Sohn des Menschen ist gekommen, zu suchen und selig zu machen, was verloren ist.“ – Ein ähnliches Beispiel findet sich in Mt 23,14 (vgl. Mk 12,40; Lk 20,47).12

Derselbe Gedanke kann mit verschiedenen Worten
wiedergegeben werden

Eine Vielfalt in der Wortwahl findet sich in den Evangelien auch ohne variierende Lesarten. Alle drei synoptischen Evangelien (Mt, Mk, Lk)13 geben uns eine mehr oder weniger ausführliche Beschreibung eines Tages des Wirken von Jesus in Kapernaum am Beginn seiner Zeit in Galiläa. Am Ende der Geschichte wird berichtet, dass viele Menschen zu Jesus gebracht wurden, um geheilt zu werden. Matthäus sagt, dass das „am Abend“ geschah (Mt 8,16). Lukas schreibt, dass es geschah, „als die Sonne untergegangen war“ (Lk 4,40). Markus hält in seinem Evangelium fest:

„Am Abend aber, als die Sonne untergegangen war“ (Mk 1,32).

Daran zeigt sich wie derselbe Gedanke mit verschiedenen Worten ausgedrückt werden kann. Keine der Aussagen ist deshalb etwa mehr oder weniger falsch als die andere. Das Gleiche ist bei vielen der variierenden Lesarten der Fall.

Einige Varianten kommen dadurch zustande, dass Begriffe mit (fast) gleicher Bedeutung verwendet werden (Synonyme). Markus berichtet zum Beispiel, dass die Pharisäer nicht essen, wenn sie vom Markt kommen, bevor sie sich nicht gewaschen haben (Mk 7,4). Das griechische Wort für „waschen“, was hier im Textus Receptus verwendet wird, ist baptisoontai. In den beiden Kodizes Sinaiticus14 und Vaticanus15 findet sich dazu eine interessante Variante. Sie lesen an dieser Stelle hrantisoontai, was „besprengen“ bedeutet. Diese Lesart erinnert an die Tatsache, dass viele alttestamentliche Taufen durch Besprengen vollzogen wurden, wie wir aus 4Mose 19 wissen.

In Verbindung mit der Lehre der Taufe sollte man auch auf Apg 8,37 hinweisen. Dieser Vers wird von Baptisten gern als stärkstes biblisches Argument für ihre sog. „Gläubigentaufe“ angeführt.16 In Vers 36 fragt der äthiopische Kämmerer Philippus, ob er getauft werden kann. V. 37 lautet im Textus receptus (alter Luthertext):

„Philippus aber sprach: Glaubst du von ganzem Herzen, so mag’s wohl sein. Er antwortete und sprach: Ich glaube, dass Jesus Christus Gottes Sohn ist.“17

Die baptistisch beeinflusste Übersetzung „Hoffnung für alle“ druckte diesen Vers aus dem Textus receptus in ihrer 1. Auflage unkommentiert im Text mit ab.18 Alle übrigen neueren Übersetzungen weisen in Fußnoten darauf hin, dass sich dieser Vers „erst in der späteren Überlieferung“ findet (z. B. rev. Luthertext, GNB, Elberfelder, Neues Leben).

Schaut man sich die griechischen Handschriften an dieser Stelle an, ist dies zumindest verwunderlich. Denn keine der alten Handschriften enthält diesen Vers. Praktisch die gesamte byzantinische Textfamilie19 kennt diesen Vers nicht. Lediglich eine Majuskel,20 der Kodex Laudianus (E), enthält den V. 37. Dieser Kodex E stammt aus dem 6. Jahrhundert. Nur wenige und sehr späte Handschriften folgen dieser Tradition und enthalten den V. 37.

Es liegt also auf der Hand, dass dieser Vers eine spätere Einfügung darstellt, die versehentlich oder absichtlich in den Text gelangt ist. Korrekterweise sollte man ihn in heutigen Bibelausgaben weglassen. Wenn man ihn schon in der Fußnote anführt, wäre folgender Hinweis angebracht:

„Dieser Vers findet sich im Textus receptus und steht deshalb in der alten Lutherbibel. Er taugt nicht dazu, mit ihm die Kindertaufe zu bestreiten.“

2.3 Keine falschen Argumente

Wir laufen Gefahr, der Bibelkritik in die Hände zu arbeiten, wenn wir die variierenden Lesarten nicht ernstnehmen oder uns ihnen nicht ehrlich stellen

Wir müssen darauf achten, dass wir unsere Gemeinden nicht mit den falschen Argumenten vor neueren Bibelübersetzungen warnen. Wir erweisen ihnen einen schlechten Dienst, wenn wir diese Bibelausgaben etwa wegen der Auslassung mancher Verse kritisieren. Diese beruhen nicht selten auf variierenden Lesarten. An einigen Stellen ist es kaum möglich, endgültig zu entscheiden, wie der Text ursprünglich gelautet hat. Auch wenn uns manche Auslassungen nicht gefallen, können wir nicht bestreiten, dass sie auf Handschriftenproblemen beruhen. Auch wenn wir die heute verbreitete Hochschätzung (oder Überschätzung) der großen Kodizes Sinaiticus und Vaticanus oder der Chester-Beatty-Papyri21 nicht gutheißen,22 müssen wir doch einräumen, dass sie sehr alte und wertvolle Handschriften darstellen.

Wir laufen Gefahr, der Bibelkritik in die Hände zu arbeiten, wenn wir die variierenden Lesarten nicht ernstnehmen oder uns ihnen nicht ehrlich stellen. Noch größer ist das Risiko, das wir eingehen, wenn wir uns in eine Position bringen, die wir nicht halten können; etwa indem wir behaupten, dass die Auslassung von bestimmten Worten oder Wendungen in neueren Übersetzungen gegenüber dem Textus Receptus eine Veränderung der biblischen Lehre mit sich bringen würde. Das trifft nicht zu.

So wurde z. B. kritisiert,23 dass in neueren Übersetzungen bei Mt 1,25 das Adjektiv „erstgeborener“ bzw. „erster“ vor „Sohn“ fehlt.24 Man hielt das für einen Angriff auf die Jungfrauengeburt, die durch diese Schriftstelle bestätigt werde. Aber es gibt gute, textkritische Gründe für die Auslassung dieses Wortes. Nur eine bestimmte Handschriftengruppe (byzantinischer Text) benutzt hier das „erstgeboren“ (prototokon). In den großen Kodizes des 4. Jahrhunderts steht nur „einen“ Sohn. Es fällt auf, dass sich der Begriff „erstgeborener“ in der bekannten Weihnachtsgeschichte bei Lukas (2,7) findet. Dort steht er unumstritten in allen Handschriften. Und auch keine der neueren Übersetzungen hat ihn dort getilgt, um die Jungfrauengeburt zu leugnen! Es ist zu vermuten, dass bei Mt 1,25 manche Abschreiber den bekannten Klang des Lukastextes im Ohr hatten und deshalb auch hier das „erstgeboren“ verwendet haben, obwohl es nicht in ihrer Textvorlage stand. So mögen die variierenden Lesarten zustande gekommen sein. – Und selbst wenn das Wort bei Matthäus weggelassen wird, ist das kein Beweis gegen die Schriftlehre von der jungfräulichen Geburt unseres Herrn. Wer so etwas behauptet, arbeitet der Bibelkritik in die Hände. Die Lehre von der Jungfrauengeburt beruht auf weit besseren Gründen (z.B. Jes 7,14; Lk 2,7).25

Ein ähnliches Beispiel ist Mt 28,6. Hier geht es um den Begriff „Herr“. Im Textus receptus heißt es:

„Kommt her und seht die Stätte, da der Herr gelegen hat“ (so auch unrev. Luther und unrev. Elberfelder).

In neueren Übersetzungen steht nur noch: „…wo er gelegen hat“ (so rev. Luthertext 1984, GNB, Hfa). Man hat gemeint, in dieser Weglassung eine Leugnung der Gottheit von Jesus zu finden. Es ist keine Frage, dass in der bibelkritischen Theologie die Gottheit von Jesus Christus bestritten wird. Aber dafür findet man keinerlei Bestätigung im Bibeltext, auch nicht in den neueren Übersetzungen.26 Auch sie können nicht bestreiten, dass die Bibel Jesus Gottes Sohn nennt. In Mt 28,6 geht die Auslassung auf Handschriftenprobleme zurück. Das „Herr“ taucht erst relativ spät in den Handschriften auf und kann deshalb hier mit Recht nicht als ursprünglich angenommen werden … Hinzu kommt, dass es beim Evangelisten Markus in allen Handschriften klar heißt:

„Siehe da die Stätte, wo sie ihn hinlegten“ (Mk 16,6).

Wollen wir deshalb etwa Markus unterstellen, dass er damit die Gottheit von Jesus in Frage stellen will?27

2.4 Varianten, die den Sinn verändern

Nun ist es allerdings wahr, dass es manchmal so scheint, als ob bestimmte Varianten falsche Lehrmeinungen unterstützten. Hierher gehört z.B. die Kritik an der Übersetzung von Lk 2,14. In neueren Bibelausgaben heißt es:

„Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens“.28

Im Textus Receptus (ebenso unrev. Luthertext) hieß es: „… und den Menschen ein Wohlgefallen“. Man hat den neueren Übersetzungen vorgeworfen, dass sie das Missverständnis des Synergismus29 in diesen Text hineintragen. – Nun könnte man dieses Wort wohl synergistisch missverstehen, wenn man es aus dem Zusammenhang der Bibel löst. Aber selbst wenn wir übersetzen „bei den Menschen seines [= Gottes] Wohlgefallens“, muss das nicht unbedingt synergistisch verstanden werden. Denn nach dem Zusammenhang kann das auch bedeuten, dass die Menschen durch „Gottes Wohlgefallen“ charakterisiert werden, d. h. Menschen, auf denen Gottes Wohlgefallen liegt. Nehmen wir eine andere Stelle als Vergleich: In Eph 2,3 ist von „Kindern des Zorns“ die Rede. Damit sind nicht „zornige Kinder“ gemeint, sondern sind diese Kinder „Objekte des Zorns Gottes“.30

Trotz aller gegensätzlicher Behauptungen stellen die variierenden Lesarten die Lehre der Verbalinspiration nicht in Frage

In Lk 2,14 geht es darum, dass in einigen älteren Handschriften tatsächlich der Genetiv „seines Wohlgefallens“ (eudokias) verwendet wird, und nicht der Nominativ (eudokia) wie im Textus receptus (ebenso unrevidierter Luthertext). Franz Delitzsch (1813–1890) hat im 19. Jahrhundert das Neue Testament ins Hebräische übersetzt.31 Er gibt unsere Stelle als hebräischen Genitiv wieder: „binanschee retsono“ (bei den Menschen seines Wohlgefallens). Interessanterweise ist diese Wiedergabe durch die Schriftrollen vom Toten Meer (1947) bestätigt worden … .32

Nichtsdestotrotz gibt es auch textliche Varianten, die zu falscher Lehre führen. Es ist nicht leicht, ein Beispiel zu finden, weil das nur sehr selten vorkommt. Gleich im 1. Kapitel des Neuen Testaments gibt es eine solche Stelle. In Mt 1,16 heißt es:

„Jakob zeugte Josef, den Mann der Maria, von der geboren ist Jesus, der da heißt Christus.“

Demgegenüber lautet eine andere Lesart:

„Jakob zeugte Josef, Josef zeugte Jesus, der da heißt Christus.“

Auf diese Weise wird Jesus zum leiblichen Sohn Josefs gemacht und die Jungfrauengeburt durch Maria geleugnet. Aber diese Lesart wird lediglich von einer einzigen späteren Handschrift vertreten.33 Sie ist so schlecht bezeugt, dass sie von den meisten Kommentatoren gar nicht zur Kenntnis genommen wird.

2.5 Schlussfolgerungen

Das Problem der Bibelkritik sind nicht die variierenden Lesarten, sondern dass sie das bestreitet, was die Heilige Schrift klar und ohne jede Unsicherheit lehrt

Mir drängt sich der Eindruck auf, dass das Problem der variierenden Lesarten umso weniger schwierig erscheint, je mehr man sich damit beschäftigt.

Zusammenfassend können wir sagen: Trotz aller gegensätzlicher Behauptungen stellen die variierenden Lesarten die Lehre der Verbalinspiration nicht in Frage. Diese bezieht sich auf die Originale der biblischen Schriften … . Die ursprünglichen Texte wurden von Gott wörtlich eingegeben (inspiriert). Sie bilden das feste Fundament unseres Glaubens an den Herrn Jesus Christus. Denn der Glaube an Jesus Christus schließt auch das Vertrauen in seine Worte und Verheißungen ein. Die gelehrte Textkritik bemüht sich, an allen fraglichen Stellen den ursprünglichen Text zu ermitteln. Sie kann uns helfen zu erkennen, wie viele Übereinstimmungen es unter den Lesarten der Handschriften gibt.

Wo es Zweifel an dem genauen Wortlaut gibt, sind die Varianten meist so beschaffen, dass sie den Inhalt der inspirierten Botschaft nicht verändern. Es bedeutet z. B. keinen inhaltlichen Unterschied, ob wir als Christen bekennen:

  • der Herr starb für uns, oder:
  • der Herr Jesus starb für uns, oder:
  • der Herr Jesus Christus starb für uns, oder:
  • Christus starb für uns, oder:
  • Jesus Christus starb für uns; oder:
  • Christus Jesus starb für uns, oder:
  • er starb für uns.

Die meisten Textvarianten in der Bibel sind ähnlicher Natur.

Davon zu unterscheiden ist natürlich, wenn jemand sagt, Jesus Christus sei nicht auferstanden, sondern tot im Grab geblieben. Eine solche Behauptung widerspricht klar den Aussagen des Neuen Testaments. Einen solchen Kritiker wird es aber auch nicht von seiner Meinung abbringen, wenn alle Handschriften der Bibel im gleichen Wortlaut das Gegenteil bekennen. Das Problem der Bibelkritik sind nicht die variierenden Lesarten, sondern dass sie das bestreitet, was die Heilige Schrift klar und ohne jede Unsicherheit lehrt. Es gibt z. B. im Neuen Testament 42 Stellen, die Mose als den Verfasser des Pentateuchs (5 Bücher Mose) bezeichnen. Nur in einer von diesen Stellen (Joh 8,5) wird der Name in einigen Handschriften weggelassen und könnte deshalb in Frage gestellt werden. Aber das hebt das klare Zeugnis der übrigen 41 Stellen nicht auf. Trotzdem behauptet die Bibelkritik das Gegenteil.

Wo Worte in einigen Handschriften fehlen oder in anderen hinzugefügt sind, können wir manchmal nicht mit letzter Sicherheit sagen, was im Original gestanden hat. Aber eine Sache bleibt trotz allem sicher: Selbst wenn wir zugeben, dass die fehlenden Worte nicht wörtlich inspiriert waren, weil sie nicht im Original standen, müssen wir nicht annehmen, dass die hinzugefügten Worte unwahr sind oder dem Wort Gottes etwas hinzufügen, wenn sie in einer ausreichenden Zahl von sonst verlässlichen Handschriften bezeugt sind.

Ein Beispiel dafür ist das sog. Comma Johanneum. In 1Joh 5,7f. heißt es (unrev. Luthertext):

„Denn drei sind, die das bezeugen [im Himmel, der Vater, das Wort und der Geist; und diese drei sind eins. (8) Und drei sind, die das bezeugen auf Erden] der Geist und das Wasser und das Blut; und die drei stimmen überein.“

Die in eckigen Klammern stehenden Worte fehlen in den meisten Handschriften oder alten Übersetzungen.34 Sie finden sich erst in der lateinischen Vulgata des Hieronymus (um 400) und einigen späten Minuskeln. Der Handschriftenbefund scheint deutlich für die Weglassung dieser Worte zu sprechen. Aber jeder von uns wird zugeben, dass die Aussage dieser Textvariante eine göttliche Wahrheit ist, die an anderen Stellen der Heiligen Schrift klar gelehrt wird. Wenn wir diese Worte in 1Joh 5 aufnähmen, würden wir zum Inhalt des Wortes Gottes nichts hinzufügen. Und wenn wir sie weglassen, schneiden wir nichts vom Inhalt des Wortes Gottes ab. Nur wenn wir Form und Inhalt des Wortes Gottes verwechseln, werden wir hier Schwierigkeiten haben.

Letztlich gilt: Wenn irgendwo aus einer variierenden Lesart falsche Lehre resultiert (was äußerst selten vorkommt), dann brauchen wir keinen Zweifel zu haben, dass dies nicht die originale Lesart ist. Solche Lesarten sind offenkundig falsch.

Wir müssen auch darauf achten, dass wir uns nicht von einzelnen Varianten in die Irre führen lassen. Wir hatten oben Mt 1,16 als Beispiel angeführt, wo es in einer Handschrift hieß, dass Josef Jesus „gezeugt“ hat. Die gleiche Quelle hält aber (mit allen anderen Handschriften) in Mt 1,25 fest:

„Er [Josef] berührte sie [Maria] nicht, bis sie einen Sohn gebar; und er gab ihm den Namen Jesus.“

Damit ist klar auf die Jungfrauengeburt Bezug genommen. Wenn der Schreiber nicht sehr dumm war und sich im gleichen Kapitel so deutlich widersprochen hat, kann man nur folgern dass er den Begriff „zeugen“ in V. 16 so verstanden hat, dass Josef nach dem Gesetz (rechtlich betrachtet) der Vater von Jesus war, nicht aber der biologische Vater von Jesus.

Diejenigen, die in den variierenden Lesarten einen Grund sehen, die Verbalinspiration und Irrtumslosigkeit der Bibel zu leugnen, handeln meist aus anderen Motiven. Sie wollen damit ihre eigene bibelkritische Theologie tarnen. Eine ehrliche Untersuchung der Tatsachen zeigt, dass die Fakten ihre Argumente nicht unterstützen. Wie wir am Anfang gesagt haben, brauchen sich bibeltreue Christen vor den variierenden Lesarten in der Bibel nicht zu fürchten. Die Botschaft der Heiligen Schrift wird durch keine von ihnen verdreht oder verdunkelt. Das gilt zumindest von all denen, die man für ausreichend bezeugt halten muss.


  1. Künftig: Revidierte Lutherbibel. Das Gleiche gilt für alle Bibelübersetzungen ins heutige Deutsch (Gute Nachricht [GNB], Hoffnung für alle [Hfa], Neues Leben [NL]). 

  2. Zum Beispiel: Schlachter-Bibel, unrevidierte Elberfelder Bibel. 

  3. Textus receptus heißt „angenommener Text“. Er geht auf die griechische Ausgabe des Neuen Testaments zurück, die 1633 von den Brüdern Elzevir herausgegeben wurde. Im Vorwort zu ihrem NT heißt es: „Damit habt ihr den Text, der nun von allen angenommen ist, in welchem nichts verändert oder korrumpiert ist.“ 

  4. Wir verweisen dazu auf einen früheren THI-Beitrag: S. Quittkat u.a., Die Handschriften und Textvarianten im griechischen NT, in THI 1993/1. 

  5. Dieser Aufsatz erschien erstmals im Wisconsin Lutheran Quarterly, Vol. 71 (1974), Heft 3, S. 169-184. Wiederabdruck in: Our Great Heritage, Bd. 1, Milwaukee/WI 1991, S. 165ff. Die Übersetzung besorgte stud. theol. Michael Müller, Leipzig. Mit freundlicher Genehmigung aus: „Theol. Handreichung und Information“, hg. vom Dozentenkollegium des Luth. Theol. Seminars in Leipzig 2007/Heft 4. 

  6. Nach lutherischer Lehre (d. Red. KHV). 

  7. Eine Kopula ist eine Form des Hilfsverbs „sein“, welche ein Subjekt an ein Prädikatsnomen koppelt. 

  8. Zit. nach: Anti-Nicene Fathers, ed. Edinburg, Bd. VI, S. 282. 

  9. Im Original benutzt der Autor Druckfehler in englischen Bibelausgaben als Beispiel. 

  10. Im Original bringt der Autor Beispiele aus der englischen King-James-Bibel (KJV), die unserer unrevidierten Lutherbibel vergleichbar ist. 

  11. Minuskeln sind griechische Handschriften, die kleine Buchstaben benutzen. Dies wurde ab dem 9. Jahrhundert üblich. Frühere Handschriften waren nur in Großbuchstaben verfasst (sog. Majuskeln). – Schätzungsweise neun Zehntel aller existierenden neutestamentlichen Handschriften stammen aus der Zeit der Minuskeln. 

  12. An dieser Stelle ist zu beachten, dass Matthäus in Aufzählungen gern Fünfer-, Siebener- oder Zehnergruppen verwendet. Wenn wir in Mt 23 den 14. Vers verwenden (wie der Textus receptus), erhalten wir eine Aufzählung von acht statt sieben „Weherufen“, was für Matthäus untypisch wäre. 

  13. Als synoptische Evangelien bezeichnet man Matthäus, Markus und Lukas. Sie werden so genannt, weil sie Christi Leben aus einem bestimmten Blickwinkel betrachten und in ihren Berichten oft Paralleles bringen. Man kann sie leicht in einer Tabelle nebeneinander anschauen (syn-optein = zusammenschauen). 

  14. Sinaiticus und Vaticanus sind wichtige Handschriften, die Luther oder den Übersetzern der King-James-Bibel (1611) nicht zugänglich waren. Der Sinaiticus stammt aus dem 4. Jahrhundert n. Chr. Er wurde von dem berühmten neutestamentlichen Forscher Konstantin von Tischendorf im Katharinenkloster am Berg Sinai entdeckt. Die Handschrift (ein Buchkodex im Unterschied zu jüdischen Schriftrollen) kam 1859 nach St. Petersburg und 1933 nach London. Dort ist er bis heute im Britischen Museum zu sehen (Ein kleiner Teil des Sinaiticus wurde von Tischendorf der Leipziger Universitätsbibliothek geschenkt). 

  15. Der Vaticanus stammt ebenfalls aus dem 4. Jahrhundert n.Chr. Er befindet sich seit 1481 in der Bibliothek des Vatikans, wurde aber den Forschern in seinem vollen Umfang erst am Ende des 19. Jahrhunderts zugänglich gemacht. 

  16. Mir ist dieses Argument im Zusammenhang mit der Gläubigentaufe noch niemals begegnet, schon gar nicht als stärkstes. Es handelt sich hier in diesem ansonsten ausgezeichneten Aufsatz offenbar um eine lutherische Polemik zur Verteidigung der Kindertaufe. (d. Red. KHV). 

  17. Für die Baptisten ist wichtig, dass hier vor der Taufe ein ausdrückliches Bekenntnis des Glaubensdurch den Täufling steht. Sie leiten daraus die Regel ab, dass dies immer so sein müsse und dass deshalb keine kleinen Kinder getauft werden dürften. 

  18. In der durchgesehenen 3. Auflage (2005) wurde der Vers in eine Fußnote verwiesen. 

  19. Durch den Aufstieg Konstantinopels (Byzanz, heute Istanbul) zum Zentrum der griechischsprechenden Kirche wurde der dort übliche Text bis zum Ende des 8. Jahrhunderts der vorherrschende Text der Kirche. Etwa 95% der heute vorliegenden NT-Handschriften stammen aus dem 8. Jahrhundert oder von später. Nur wenige Handschriften weichen von dieser Textfassung merklich ab. 

  20. Majuskeln = Handschriften, die in Großbuchstaben verfasst wurden (auch Unziale genannt). Diese Schreibweise war bis ins 8. Jahrhundert üblich (Damals wurde gewöhnlich auf Pergament geschrieben, das aus Tierhäuten hergestellt wurde.). Danach erfolgte der Wechsel zu den Minuskeln. Die berühmten Kodizes Sinaiticus und Vaticanus gehören zu dieser Gruppe. 

  21. Diese Papyri (p45, p46, p47) wurden in den 30-er Jahren des 20. Jahrhunderts entdeckt und durch den Engländer Chester Beatty erworben. Sie stammen aus dem 3. Jahrhundert. (Papyrus war das ägyptische Schreibmaterial. Es wurde aus Papyruspflanzen hergestellt, einem Schilfrohr, das in sumpfigen Gegenden im Nildelta wächst.) Heute befinden sich diese umfangreichen Papyri in Dublin (Irland). 

  22. Vgl. dazu: David Kuske, Die Geschichte und Praxis der biblischen Hermeneutik, Leipzig 2001, S. 40-43. 

  23. S. Becker bezieht sich hier und im Folgenden auf eine Vervielfältigung einer lutherischen Rundfunkmission in den USA, die nicht näher bezeichnet ist. 

  24. Im Textus receptus hieß es: „Und [Josef] erkannte sie [Maria] nicht, bis sie ihren erstgeborenen Sohn gebar, und hieß seinen Namen Jesus“ (so in der unrevidierten Elberfelder Bibel). Bei Luther heißt es: „… ihren ersten Sohn“. 

  25. Historisch unhaltbar ist übrigens auch die bibelkritische Behauptung, bei den Juden habe eine junge Frau solange als „Jungfrau“ gegolten, bis sie ein Kind geboren hatte. 

  26. Wenn man einmal von der „Neue Welt-Übersetzung“ der Zeugen Jehovas absieht, die bewusst den Bibeltext verändert, um Jesus nicht als einzigartigen und ewigen Sohn Gottes erscheinen zu lassen (sondern als größten Menschen aller Zeiten). 

  27. Eine solche Argumentation erinnert mich an die ungerechtfertigte Behauptung bibelkritischer Theologen, die sagen, die Evangelisten würden sich in Bezug auf die Jungfrauengeburt widersprechen, weil Markus und Johannes sie nicht erwähnen (sondern nur Matthäus und Lukas). 

  28. Vgl. kath. Einheitsübersetzung: „… bei den Menschen seiner Gnade“, oder Hfa: „… alle, die bereit sind, seinen Frieden anzunehmen“. 

  29. Synergismus = Mitwirken (des Menschen bei seiner Bekehrung). 

  30. Vgl. die Parallelstelle Kol 3,6. 

  31. Sefri Haberit Hadascha (Buch des Neuen Testaments), Leipzig 1888, S. 100. 

  32. William La Sor, The Dead Sea Scrolls and the New Testament, S. 237. 

  33. Dialog. Timoth. et Aquilae. Vgl. dazu: Synopsis Quartuor Evangeliorum, hg. von K. Aland, Stuttgart: 1973, S. 9. 

  34. Sie werden deshalb auch in den meisten neueren Übersetzungen weggelassen. Lediglich die kath. Einheitsübersetzung verweist in einer Fußnote auf diese Lesart.