I. Biblische Autorität und verantwortlicher Umgang mit der Bibel
Eric Johnson schreibt in einem 1996 erschienenen Beitrag: „Die Heilige Schrift wurde der Kirche gegeben, um Licht auf ihren Pfad zu werfen – auch auf den Pfad der Psychologen“.1 In allgemeinverständlichen Veröffentlichungen mit christlich-psychologischem Inhalt wird immer wieder die Heilige Schrift bemüht, um biblische Belege für die jeweiligen Analysen menschlich-psychologischer Probleme zu finden sowie für die entsprechenden psychotherapeutischen Lösungen. Wie es dazu kommt, muß kritisch untersucht werden.
A. Modelle der Integration von Bibel und Psychologie
Untersucht man Popularveröffentlichungen von christlichen Psychologen, zeigen sich zwei Hauptrichtungen der Integration von Bibel und Psychologie sowie drei Ansätze, wie jeweils die Psychologie in die Bibel integriert wird. Besonders wichtig für unser Thema ist die Richtung, die versucht, biblische Abschnitte, Vorfälle oder Prinzipien zu entdecken, die ihre Parallele in heutigen psychologischen Theorien und Therapien haben. Weniger häufig findet sich in christlichen Psychologiezeitschriften die andere Richtung, die versucht, von psychologischen Theorien her biblische Geschichten besser zu verstehen (wie etwa die Depressionen von Hiob oder die ungewöhnlichen Erfahrungen von Hesekiel) bzw. die Gefühle und Motive biblischer Persönlichkeiten psychologisch als Ursache ihres Handelns zu deuten. So unterschiedlich diese beiden Richtungen auch sind, überschneiden sie sich doch auch. Um psychologische Theorien von der Bibel her zu unterstützen, interpretieren die Autoren den biblischen Text oft von der Psychologie her um und unterwerfen die Bibel damit einem fremden Muster und einer ihr fremden Begrifflichkeit. Und umgekehrt benutzen diejenigen, die ihre Psychologie ausdrücklich als hermeneutisches Hilfsmittel zum Bibelverständnis einsetzen, oftmals ihre psychologische Exegese, um ihre Einsicht in irgendeinen Aspekt der menschlicher Psyche zu erweitern. In diesen Integrationsversuchen zeigt sich also immer wieder eine Dynamik im Verhältnis zwischen Bibel und Psychologie.
Wenn es um christliche Psychologie und Theologie geht, lassen sich drei Ansätze aufzeigen:
- Manche Psychologen schließen aus dem Satz, daß alle Wahrheit Gottes Wahrheit ist, daß echte Psychologie gleich auch als christliche Psychologie gelten muß, wenngleich gefiltert durch ein christliches Weltbild. Man staunt, daß es unter dieser Voraussetzung möglich ist, ein ganzes Buch über christliche Psychologie zu schreiben, ohne die Bibel auch nur zu erwähnen.2
- Einige christliche Seelsorger dämonisieren jegliche weltliche Psychologie als atheistisch, humanistisch und antibiblisch. Nach ihnen muß alle Kenntnis über die menschliche Seele sowie jeder Seelsorgeansatz aus der Bibel kommen. Weil sie weltliche Psychologie nicht mit der Bibel vermischen wollen, berufen sie sich mehr auf die Botschaft der Bibel als ganze und auf biblische Beispiele für Seelsorgebeziehungen als auf Einzelaussagen der Bibel.
- Es gibt aber auch christliche Psychologen, die Schlüsselelemente psychologischer Theorien mit – wie sie meinen – passenden Bibelstellen belegen wollen. Psychologen, die diesen Ansatz wählen, sind entweder überzeugt, daß dieser Rückbezug auf biblische Texte tatsächlich die Schriftgemäßheit ihrer Ansichten garantiert, oder daß dies zumindest die Ängste des Ratsuchenden oder des Lesers zerstreut, der den weltlichen Psychologien als Mittel zur Behandlung der persönlichen und geistlichen Probleme von Christen skeptisch gegenübersteht. Diesem letzteren Ansatz werden wir uns im folgenden widmen, denn es dürfte wohl die vorherrschende Vorgehensweise in populären christlich-psychologischen Schriften sein.
B. Beurteilung der Bibelbeleg-Methode
Zugegeben, es ist nicht von vornherein falsch, wenn ein christlicher Psychologe Bibelverse heranzieht, um irgendein Element einer psychologischen Theorie zu illustrieren, zu klären oder zu bekräftigen – vorausgesetzt diese Theorie ist zutreffend und verträgt sich mit der biblischen Lehre. Indem anstelle psychologischer Fachausdrücke die vertraute biblische Sprache verwendet wird, kann der christliche Nichtfachmann besser verstehen, worum es geht. Und auch wenn es dafür keine theologische Notwendigkeit gibt, kann eine bestimmte psychologische Theorie oder Therapie doch als solche vom christlichen Psychologen oder Therapeuten erwogen werden, solange sie nicht ausdrücklich oder implizit der biblischen Lehre bezüglich des Menschenbildes, der Sünde, des Heils oder der biblischen Ethik widerspricht.
Anstatt daß nun allerdings gezeigt wird, wie sich ihre Einzelvorschläge zu den grundlegenden biblischen Lehraussagen verhalten, neigen die meisten popularpsychologischen christlichen Bücher zu einer Bibelbelegmethode, bei der mit aus dem Zusammenhang gerissenen Versen, deren Bedeutung scheinbar auf der Hand liegt, etwas belegt werden soll. Dabei zeigt sich leider, daß viele dieser Autoren immer wieder grundlegende Regeln der Bibelauslegung mißachten. Auch wenn es zutrifft, daß diese christlichen Psychologen von einem tiefen Vertrauen in die Wahrheit und Wirksamkeit der Heiligen Schrift motiviert sind, wenn sie diese zitieren, ist es doch wichtig, daß ihnen klargemacht wird, daß sie die Autorität der Bibel mißbrauchen, wenn sie sich auf diese unter Berufung auf einen falsch ausgelegten oder angewendeten Abschnitt beziehen. Wenn das der Fall ist, bieten die so vom christlichen Psychologen herangezogenen Texte aber bestenfalls nur einen schwammigen Grund für die darauf aufgebaute psychologische Theorie. Und die vermeintliche Bibel-Therapie gerät zu einem Placebo, das dem Ratsuchenden ein besseres Gefühl vermittelt, weil er sich scheinbar Bibelwahrheiten einverleibt hat.
Sicher, manchen christlichen Psychologen ist diese Gefahr durchaus bewußt, aber sie scheinen die Tiefe und das Ausmaß des Problems trotzdem nicht zu verstehen. Eines der älteren Standardwerke über christliche Beratung hat sogar einen 35 Seiten langen Anhang über den Gebrauch der Bibel in der Beratung, aber erwähnt nicht einmal die Möglichkeit, daß die Schrift bei der seelsorgerlichen Anwendung auch mißbraucht werden könnte.3
II. Grundlegende Auslegungsprinzipien und -beispiele
Insofern ich davon ausgehe, daß es sich bei den meisten Auslegungs- und Anwendungsfehlern im Umgang christlicher Popularpsychologen mit biblischen Texten nicht um absichtliche, sondern unabsichtliche Fehlinterpretationen handelt, mag es hilfreich sein, die häufigsten Fehler in Kategorien zu fassen und mit Beispielen zu belegen, in der Hoffnung, daß dies zu einem bewußter exegetischen – und damit angemesseneren und weniger bloß erbaulichen – Umgang christlicher Psychologen mit der Bibel führt, gleich ob sie nun für das breite Gemeindepublikum oder ihre Fachkollegen schreiben.
A. Die Berücksichtigung des Zusammenhangs bei Auslegung und Anwendung.
Jeder, der einen bestimmten Bibeltext sorgfältig auslegen bzw. anwenden will, muß seinen Kontext beachten. Das schließt die literarischen, geschichtlichkulturellen, heilsgeschichtlichen und theologisch-thematischen Zusammenhänge ein.
- Beachten des literarischen Kontexts: Gerade so, wie sich die Bedeutung eines einzelnen Puzzlestücks nicht vorrangig aus seinem farblichen Aussehen ergibt, sondern daraus, wie es in das Gesamtbild hineinpaßt und was es dazu beiträgt, so ergibt sich die Bedeutung eines bestimmten Verses nicht in erster Linie aus seinen Wörtern und ihrer Beziehung zueinander, sondern aus dem unmittelbaren und weiteren Zusammenhang, in dem er steht. – Dies wird übersehen, wenn in einem christlich-popularpsycho-logischen Buch von Henry Cloud und John Townsend.4 Jes 1,18: „Kommt, laßt uns zusammen rechten!“ dahingehend interpretiert wird, daß der Vers lehre, Gott wolle „wie ein wirklicher Freund oder ein wirklicher Vater“ zunächst unsere Meinung hören, um dann zu erwägen, ob er seine Meinung ändert. Tatsächlich aber spricht der Vers in seinem Zusammenhang davon, daß Gottes Anklage angesichts der offen zutage liegenden Sünden Israels unanfechtbar und sein Urteil gewiß ist, so daß Gottes Angebot für sein Volk nur noch zwei Möglichkeiten offenläßt: Buße und Vergebung – oder Rebellion und Untergang (vgl. V. 19-20)!
- Beachten des geschichtlich-kulturellen Kontexts: Jeder biblische Autor schreibt von einer Perspektive, die weithin von seinem persönlichen und überhaupt dem damaligen kulturellen Hintergrund mitbestimmt ist; und er schreibt an Leute, die diesen Hintergrund mit ihm teilen, der in den Schriften vorausgesetzt wird – und der von daher verstanden werden muß, bevor die Schriften verstanden werden können. – In einem Buch wird spezielle Fürbitte für die Sünden der Familie des Ratsuchenden empfohlen, weil dadurch die Macht der Sünde gebrochen werde, den Leidenden weiter zu verletzen. Dies sei die Anwendung eines wichtigen Prinzips, das sich schon bei den alttestamentlichen Propheten finde, so wird unter Berufung auf die Gebete von Daniel und Nehemia (Dan 9,4-19; Neh 1,5-11) begründet.5 Tatsächlich ging es bei Daniels und Nehemias jeweiligem Bekenntnis der Sünde Israels darum, die Rechtmäßigkeit des babylonischen Exils als Strafe für das Volk Gottes anzuerkennen und auf dieser Basis um Gnade und Wiederherstellung zu bitten.
- Beachten des heilsgeschichtlichen Kontexts: Entsprechend der Lehre von der fortschreitenden Offenbarung des Planes Gottes für die Menschen im Verlauf der biblischen Geschichte muß jeder Abschnitt im Licht seiner Stellung im Verlauf der göttlichen Offenbarung interpretiert werden und damit im Licht der Bundesbeziehung, die zu der entsprechenden Zeit in der Offenbarungsgeschichte gerade gilt. – In einem Buch über biblisches Vergeben vertritt der Autor die Meinung, daß, wenn Gott vergibt, es keine Strafe mehr für den Sünder gibt; allenfalls gebe es noch andauernde Folgen der Sünde, die aber einem guten Zweck dienten. Der Verfasser bemüht sich in der Folge, alle Bibelstellen, die dem zu widersprechen scheinen, entsprechend zu interpretieren, einschließlich 4Mose 14,20-23. Nach ihm kann das göttliche Urteil, daß die gesamte Exodusgeneration in der Wüste sterben mußte, dann nicht mehr als Strafe verstanden werden, sondern im Licht von 1Kor 10,6 lediglich als eine pädagogische Maßnahme zugunsten der künftigen Kirche.6 Dies scheint eine recht gezwungene Auslegung zu sein. (Die Israeliten, die damals in der Wüste sterben mußten, hätten gewiß auch nicht viel damit anfangen können). Untersucht man den heilsgeschichtlichen Kontext des Berichts, wird man beobachten, daß jede Rebellion nach dem Sinai, wie sie uns im Zweiten und Vierten Mosebuch berichtet wird, mit einem Strafgericht über die entsprechenden Leute endet – ganz in Übereinstimmung mit den Bedingungen des Sinaibundes. Im Vierten Buch Mose bildet die Infragestellung der Landverheißung durch zehn der zwölf Kundschafter und durch das Volk die zentrale Rebellion (nämlich die vierte von sieben), die das Buch berichtet. Obwohl Gott dem Volk auf das Eintreten des Mose hin vergibt, entgehen sie dadurch nur dem Teil der Strafe, daß Gott das Volk sofort gänzlich vernichtet und mit Mose als einer Art zweitem Abraham neu beginnt (V. 11-12).
- Beachten des theologisch-thematischen Kontexts: Obwohl die Bibel kein systematisch-theologisches Lehrbuch ist, ist es so, daß die einzelnen Bibelabschnitte doch bestimmte grundlegende theologische Themen entweder voraussetzen oder zu ihnen beitragen (z. B. hinsichtlich des Wesens Gottes und seines Handelns mit der Menschheit). Auch hilft der einzelne Abschnitt, die wesentlichen theologischen Themen des entsprechenden biblischen Buches weiter zu entfalten. – In einem Buch über Depressionen kommen die beiden Autoren auf Jes 43,8 zu sprechen („Führe heraus diejenigen, die Augen haben, aber blind sind“) und schließen daraus, daß Gott immer wieder über die Blindheit der Menschen spricht, daß wir alle unsere blinden Flecken haben.7 Sie sind sich dabei offenbar nicht bewußt, daß das Motiv der Blindheit (der physischen wie geistlichen) im wesentlichen auf Jesaja und die neutestamentlichen Bezugnahmen auf ihn beschränkt ist und eines der großen Themen des Jesajabuches ist. Wichtiger noch: Jes 43,8 bezieht sich deutlich auf Israels tiefe geistliche Stumpfheit und Unfähigkeit, ihrer gottgegebenen Berufung nachzukommen – und das ist etwas anderes als psychologische ‚blinde Flecken‘!
B. Die Berücksichtigung der Gattung bei der Auslegung und Anwendung.
Jede literarische Gattung weist bestimmte Merkmale auf, mittels derer sie ihre Botschaft in einer ihr typischen Weise vermittelt. – Es gibt ein Buch, das sich mit der Wichtigkeit des elterlichen Segnens beschäftigt und dabei ganz auf den biblischen Berichten von den Patriarchensegen aufbaut. Obwohl das Buch richtigerweise die heilsgeschichtliche Einzigartigkeit der Patriarchensegen hervorhebt, sind die Autoren doch der Überzeugung, daß die entsprechenden Bibeltexte die Wichtigkeit elterlichen Segnens lehren und dabei sogar fünf wichtige Elemente vermitteln: nämlich den andern zu berühren, die Botschaft mündlich zu übermitteln, dem zu Segnenden hohe Bedeutung zuzusprechen, ihm eine spezifische Zukunftsperspektive vor Augen zu malen und sich selbst aktiv daran zu beteiligen, daß der Segen in Wirklichkeit umgesetzt wird.8
Diese Art von ‚Auslegung‘ zeigt allerdings ein grundlegendes Mißverständnis darüber, wie biblische Erzähltexte geistliche Wahrheiten vermitteln. Das herausragende Thema des Ersten Buches Mose ist Gottes souveräne Erwählung, Vorbereitung und Erhaltung einer Bundesfamilie, um den schlimmen Folgen der Sünde entgegenzuwirken und als Kanal für Gottes Segen unter den Völkern zu dienen. Indem der Patriarch seinen Sohn segnet, bestätigt er ganz einfach, was Gott bereits beschlossen und zu tun verheißen hat. Allerdings kann der Patriarch auch durch seine eigenen Vorurteile irren. Schon die Tatsache, daß pro Familie nur ein Sohn (und niemals eine Tochter) für diesen Segen ausgewählt wird, zeigt schon, daß dies wohl kein Muster für christliche Eltern sein will. Man wird auch nicht sagen können, daß ein Patriarch, der auf dem Sterbebett den Segen erteilt, aktiv an der Erfüllung des Segens mitarbeitet. Auch die Tatsache, daß es keinen Hinweis für eine offizielle Segnung Isaaks durch Abraham gibt und daß außerhalb des Ersten Buches Mose im ganzen Alten Testament von keinem solchen Vätersegen berichtet wird, zeigt, daß es sich um eine einzigartige, vorsinaitische Handlung der Patriarchen handelt, und nicht um ein Modell für uns. Die nächste Parallele wäre noch Moses Segen für die Stämme Israels in 5Mo 33, woraus aber schon hervorgeht, daß sich zu dieser Zeit bereits Gottes Weg für die Weitergabe seines Segens geändert hatte. Daß die Autoren im übrigen dann auf die Psalmen und Sprüche für Segensmuster zurückgreifen müssen, zeigt an, wie wenig die Gebete, Ermutigungen und hoffnungsfrohen Wünsche heutiger christlicher Väter mit den Patriarchensegen gemeinsam haben. Und auch beim Rückgriff auf die Sprüche in heutigen Segenswünschen scheint es Probleme mit der Gattung zu geben: denn bei den Sprüchen geht es wohl kaum um göttliche Verheißungen, sondern um geistliche Wahrscheinlichkeiten – vorausgesetzt, die betreffende Person folgt dem Pfad der Weisheit.
C. Erwägungen zur Bedeutung von Wörtern für Auslegung und Anwendung.
Die Bedeutung einzelner Wörter wird vornehmlich durch ihre Verwendung in einem gegebenen Zusammenhang bestimmt, nicht dagegen durch die Herkunft (Etymologie) des Wortes, durch eine vermeintliche Grundbedeutung, oder durch andere Bedeutungsmöglichkeiten des Wortes heute oder in anderen Bibelversen. Weil die christliche Popularpsychologie offenbar häufig wenig vertraut ist mit Wortbestimmungen in einem gegebenen Zusammenhang, kommen dauernd entsprechende Fehler in der Anwendung vor. Hier sind einige Beispiele:
- Der „Wurzel“-Fehler: Ein umfangreiches Buch über die sechs Stufen des Mannseins verbindet die Theorien von Daniel Levinson über verschiedene Ausprägungen von Männlichkeit mit sechs hebräischen, den Mann bezeichnenden Hauptwörtern, wobei jeweils von einer aus der Etymologie abgeleiteten Grundbedeutung ausgegangen wird: Der Mann als Geschöpf (adam); der phallische Mann (zakar); der kämpferische Mann (gibbor); der verletzte Mann (enosh); der reife Mann (ish); der weise Mann (zaken). Zwei weitere hebräische Bezeichnungen für männliche Wesen (ben = der Sohn; oder naar = der junge Mann) werden stillschweigend übergangen. Dafür wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß dieses Buch erschließt, was die Heilige Schrift zum Verständnis des Lebenskreises des Mannes beizutragen hat.9 Nur, die Wurzelbedeutung gibt jeweils wenig bis nichts für die aktuelle Wortbedeutung her! Ein ‚Pineapple‘ (engl. = Ananas) wächst ja auch weder auf einer Pinie noch schmeckt er nach Apfel. Ob das hebräische Wort enosh wirklich von der Verbform „schwach, kränklich sein“ kommt, ist ungewiß; ein Standardlexikon des Hebräischen leitet es von der ganz anderen Verbform „freundlich, gesellig sein“ ab. Müßte Hicks dann nicht eine neue weitere Männlichkeitsstufe einführen: enosh – den Mann mit guten Beziehungen? Aber selbst wenn die erstgenannte Etymologie richtig wäre, wäre es immer noch falsch, davon auszugehen, daß das Alte Testament das Wort enosh immer dann verwendete, wenn es die männliche Schwachheit hervorheben wollte, oder das Wort ish (was oft einfach ‚Person‘ heißt), wenn es seine Reife betonen wollte. Und noch weniger werden diese Wörter verwendet, um Stufen der Reifung auszudrücken, die jeder Mann durchlaufen müsse! Man beachte nur einmal, daß enosh (in seiner aramäischen Form) in Dan 7,13 verwendet wird, um den Menschensohn zu beschreiben, der mit den Wolken kommt und dem die Herrschaft über das ewige Gottesreich gegeben wird – wahrlich kein Bild für Schwachheit! Es wird dann schon fast peinlich, wenn diese buchdicke, auf falschem Wortge-brauch beruhende Studie über Männlichkeit mit dem Dankseufzer des Autors beschlossen wird: „Danke, Gott, … für meinen Hebräisch-Grundkurs!“ Halbwissen kann eben eine ganz gefährliche Sache sein.
- Zeitverwechslung: Manche christlichen Psychologen lesen moderne christliche Beratungskonzepte zurück in den Wortgebrauch des Alten Testaments. So fragt ein Autor: „Wer ist der größte Psychologe und Arzt, der je lebte?“ Die – wenig überraschende -Antwort: „Jesus, der Messias!“, wobei als Beleg Jes 9,6 angeführt wird.10 Andere führende christliche Psychiater zitieren Sprüche 11,14 („Wo nicht weiser Rat ist, geht das Volk unter; wo aber viele Berater sind, findet sich Hilfe“), um damit christliche Psychotheraphie biblisch zu belegen.11 Allerdings hatten die alttestamentlichen Berater (hebr. Yo’etz) eine ganz andere Rolle in der Gesellschaft als der christlichpsychotherapeutische Berater. Oft dienten sie als hochrangige Beamte am Königshof in Israel oder Juda, wie aus 1Chron 27,32f. gesehen werden kann.
- Unzulässige Einschränkungen des Wortfeldes: In einem Buch, das uns schon begegnet ist,12 wird das Wort ‚Fluch‘ (hebr. qelalah) unter Bezugnahme auf seine Etymologie als „Jemanden (zu) leicht nehmen“ erklärt. Bileam habe bei seinem Fluchen die Kinder Israel also nur etwas herabgesetzt. Umgekehrt, wenn Gott dann den Fluch Bileams in Segen verwandelt habe, sei das vergleichbar damit, daß jemand – wie eine Tochter, die als Kind nicht geliebt wurde – die Wunden seiner Vergangenheit aufarbeitet. Nun ist allerdings zu sehen, daß in Josua 24,9 und Neh 13,2 für Bileams ‚Fluchen‘ zwar Wörter verwendet werden, die mit qelalah zusammenhängen; das Vierte Buch Mose selbst verwendet aber das auf jeden Fall stärkere Wort ‚arrar‘, was eindeutig ‚verfluchen‘ heißt. Balak gebrauchte Bileam, um Israels Militärmacht durch ein wirksames Wort auszuschalten – und nicht nur, um Israel zu kränken. Von daher kann das Wort qelalah in diesem Zusammenhang nicht einfach auf die bloße Bedeutung ‚Abwerten‘ eingeschränkt werden – und auch die Anwendung auf die Tochter mit ihrem erziehungsbedingten Minderwertigkeitsgefühl paßt dann nicht.
D. Zusammenfassung: Der Umgang mit der Bibel in der heutigen christlichen Psychologie.
Ich will hier nicht verschweigen, daß ich auch Beispiele solider Bibelauslegung in den Schriften christlicher Psychologen gefunden habe. Nur wird dem allgemeinen Leser das Unterscheidungsvermögen fehlen, um jeweils die Spreu vom Weizen zu trennen. Und natürlich kann einem Hilfesuchenden auch einmal ein falsch angewendeter Bibeltext eine Hilfe sein. Aber christliche Psychologen, die sicher nicht wollten, daß Aussagen ihrer eigenen Bücher aus dem Zusammenhang gerissen, willkürlich uminterpretiert oder in einer Weise angewendet werden, die gar nicht ihrer Absicht als Autoren entspricht, sollten um so sorgfältiger mit Texten umgehen, die sie selbst als Gottes Wort anerkennen! Ich hoffe, daß die wenigen Beispiele, die ich hier angeführt habe, klar und alarmierend genug sind, um auch in der christlichen Psychologie zu einem verantwortlichen Umgang mit der Bibel zurückzurufen. Gegenwärtig zeigt sich aber noch jede Menge ‚exegetischer Fehlleistungen‘ (D. A. Carson) in der christlichen Seelsorgeliteratur – oder sollte man es eher ‚Schriftverdrehung‘ (J. Sire) nennen?
III. Ein weiser Umgang mit dem Wort
A. Weisheit als ein Weg des Wissens
Ich möchte abschließend einige neuere Diskussionsbeiträge zur Weisheitsliteratur bzw. Spruchweisheit ansehen und zeigen, welchen Beitrag sie zu einer Integration von Theologie und Sozialwissenschaften, speziell Psychologie, leisten. Eric Johnson13 untersucht Entsprechungen zwischen Weisheit und heutiger Erwachsenenbildung: nämlich ihre jeweilige Anerkenntnis der Begrenztheit menschlichen Denkens, ihre nichtpassive, rekonstruierende, gemeinschaftliche und verpflichtende Eigenart sowie die jeweils gesehene Unnötigkeit einer Zweifelskrise. J.Gladson u. R.Lucas14 betonen die Eignung der Weisheitsliteratur als Basis für einen psychotheologischen Dialog: dort werde nicht streng zwischen Wahrnehmung und Umsetzung, Religiösem und Nicht-Religiösem unterschieden, und es bestehe eine Ausrichtung auf das Erfahrbare und auf menschliches Verhalten. Obwohl sie den weisheitlichen Ansatz zugleich klar von dem empirisch-naturalistischen Ansatz der Psychologie abheben, weisen sie doch auf einige Entsprechungen in der jeweiligen Erkenntnistheorie und auf Gemeinsamkeiten wie den ‚Willen zum Sinn‘ und die ‚soziale Verantwortung‘ hin, die sowohl in der Weisheit als auch in den Werken von Frankl und Adler angesprochen werden. Richard Wells15 sieht eine Parallele zwischen Weisheit und christlicher Psychologie in der jeweiligen Betonung ‚theologisch interpretierter Erfahrung‘ – obwohl man wohl kaum die Weisheit als ‚Suche nach Heiligkeit‘ bezeichnen kann. (Das hebräische Wort für ‚heilig‘ kommt überhaupt nur drei mal in den Sprüchen vor, davon zweimal als Beschreibung Gottes). Wells sieht die Weisheit auch als Korrektiv für psychologische Theorien, insofern erstere den ‚Charakter‘ als Ziel der Veränderung besonders betont und ungeordnete Verhältnisse als Paradox einordnet. Ed Curtis16 versucht, das Verhältnis von Allgemeiner und Spezieller Offenbarung in der Weisheitsliteratur als ein Modell für die Integration von Glauben und Lernen zu übernehmen. Die Allgemeine Offenbarung (in der Schöpfung) kann als Erkenntnisquelle dienen, weil Gott in diese Welt Ordnung und Gesetzmäßigkeiten eingeschaffen hat. Georg17 schließlich versucht, aus dem Sprüchebuch Prinzipien für die Kunst des Überzeugens abzuleiten, die auf das Beratungsgespräch übertragbar sind. Für ihn ist das Sprüchebuch eine ‚unendliche Quelle der Weisheit‘.
Alle diese Aufsätze haben gewisse Züge gemeinsam in ihrem Versuch, Theologie mit Psychologie oder Beratung in angemessener Weise zu integrieren:
- Sie bemühen sich um ein Gesamtverständnis von Weisheit bzw. Spruchweisheit, anstatt nur Einzelverse zu zitieren.
- Sie beziehen gründlich Ergebnisse der alttestamentlichen Wissenschaft mit ein.
- Sie geben unumwunden die Unterschiede zwischen Biblischer Weisheit und Psychologie zu.
- Sie bieten eher Anregungen als Anweisungen, suchen eher zu entdecken als zu dogmatisieren.
Dieses ist anzuerkennen, auch wenn der eine oder andere noch zu blauäugig mit historisch-kritischen Konstruktionen umgeht und die Einzigartigkeit der alttestamentlichen Weisheit im altorientalischen Kontext, ihr Verwurzeltsein in der Bundesbeziehung, ihre Ausrichtung vornehmlich auf irdische Themen und ihren Anspruch, spezielle Offenbarung Gottes zu sein, unterbetont.
B. Schlußbemerkungen
- Wenn es in dem Versuch, Theologie und Psychologie zu integrieren, Forschritte geben soll, müssen mehrere konkrete Schritte berücksichtigt werden:
- Zunächst muß jeweils eine Grundlage gelegt werden, indem entsprechende biblische Gattungen und Themen gründlich in einer übergreifenden Weise studiert werden. Erst wenn Klarheit über die biblische Aussage besteht, kann eine Anwendung auf das Gebiet der christlichen Psychologie versucht werden.
- Weiter sollten biblische Einzeltexte nur zitiert werden, nachdem sie in einer hermeneutisch einwandfreien Weise ausgelegt worden sind – und am besten, nachdem diese Auslegung zusätzlich anhand verläßlicher Kommentare überprüft worden ist.
- Zudem sollen sich christliche Psychologen eingehend in Biblische Theologie, Dogmatik und Ethik einlesen, um so einen klareren Rahmen für die Beurteilung säkularer Psycho-Theorien zu gewinnen.
- Christliche Psychologen und Berater sollten Kurse in Theologie und biblischer Hermeneutik als notwendigen Teil ihrer Ausbildung belegen müssen. Mehr gläubige Psychologen sollten Abschlüsse in bibeltreuer Theologie anstreben.
- Psychologen und Theologen sollten vermehrte Anstrengungen unternehmen, um zusammenzukommen und voneinander zu lernen. Man wird dann kenntnisreicher und manchmal auch vorsichtiger reden, wenn man sich über das Fachgebiet des jeweils anderen äußert. Laßt uns als Gotteskinder Fortschritte darin machen, daß wir uns als rechtschaffene und untadelige Arbeiter erweisen, die das Wort der Wahrheit in rechter Weise behandeln (2Tim 2,15).
Journal of Psychology and Theology 24/1996 S. 94. ↩
Vgl. E.Hindson, „The Inerrancy Debate and the Use of Scripture in Counseling“, Grace Theol. Journal 3/1982, S. 209, Fn.10! ↩
C. Narrmore, The Psychology of Counseling, Grand Rapids, 1960, S.237-73. ↩
Boundaries, Grand Rapids 1992, S. 233. ↩
L. Payne, Restoring the Christian Soul, Grand Rapids, 1991, S. 69 u. 92. ↩
J. E. Adams, From Forgiven to Forgiving, Wheaton, 1989, S. 151-153. ↩
F. Minirth u. P. Meier, Wieder Freude am Leben: Wie überwinde ich meine Depression? Asslar, 1997, S. 96. ↩
G. Smalley u. J. Trent, The Blessing, Nashville, 1986, S. 22-24. ↩
R. Hicks, The Masculine Journey: Unterstanding the Six Stages of Manhood, Colorado Springs, 1993, S.19. ↩
G. Scipione, „The Wonderful Counselor, the other Counselor, and Christian Counseling“, Westminster Theol. Journal 36/1973-74, S. 174-197. ↩
F. B. Minirth u. P. D. Meier, Happiness Is a Choice, Grand Rapids, 1978, S. 98. ↩
Smalley u. Trent, S. 156f. ↩
„The Call of Wisdom“, Journal of Psychology and Theology 24/1996, S.93-103 Christianity 15/1996, S. 58-69. ↩
„Hebrew Wisdom and Psychotheological Dialogue“, Zygon 24/1989, S. 357-376. ↩
„Hebrew Wisdom as a Quest for Wholeness and Holiness“, Journal of Psychology and ↩
„Old Testament Wisdom: A Model for Faith-Learning Integration“, Christian Scholars Review 15/1986, S. 213-227. ↩
Schwab „The Proverbs and the Art of Persuasion“, Journal of Biblical Counseling 14/1995, S. 6-17. ↩