Die beiden Semester Theologiestudium am Baptist Theological Seminary in Rüschlikon (Schweiz) 1969-70 gehören zu den traumatischsten Erfahrungen meines Lebens.
Ich war Anfang zwanzig, fest entschlossen, meinem Herrn zu dienen. Schwerpunkt sollte die professionelle Beschäftigung mit dem Grundtext der Heiligen Schrift sein. Ein Theologiestudium an einer staatlichen Universität kam für mich wegen des dort vorherrschenden rationalistisch-bibelkritischen Ansatzes nicht in Frage. Eine gute Alternative schien sich mir am Baptist Theological Seminary in Rüschlikon bei Zürich anzubieten:
- Es war eine anerkannte europäische Hochschule, Ausbildungsstätte einer evangelikalen Freikirche, finanziell getragen vom Foreign Mission Board der Südlichen Baptisten (mir von der Lektüre der amerikanischen Zeitschrift „Christianity Today“ her bekannt).
- Theologisch gearbeitet wurde laut Katalog nicht nur auf hohem wissenschaftlichem Niveau, sondern auch auf der Basis der Autorität der Schrift („excellence in scholarship … based on the authority of the Scriptures“).
- Die Hochschule war großzügig ausgestattet (umfangreiche Bibliothek, gut geführte Kantine, moderne Unterkünfte für Singles sowie für Ehepaare und Familien, umgeben von einer herrlichen Parkanlage, u.a.m.) und lag unweit von meinem damaligen Wohnort auf einem der attraktivsten Anwesen am linken Zürichseeufer. Alles schien für ein Theologiestudium in Rüschlikon zu sprechen. Ich meldete mich an und wurde – obwohl Nichtbaptist – angenommen (und zwar überaus freundlich und zu ungewöhnlich günstigen finanziellen Bedingungen).
Mit großen Erwartungen stieg ich im Spätsommer 1969 ins erste Semester ein. Diese wurden aber nach kurzer Zeit herb enttäuscht. Ja, wissenschaftliche Gründlichkeit lag den Rüschlikonern tatsächlich am Herzen, und die Lehre geschah zweifellos auf einem beachtlichen Niveau (für die vermittelten Grundkenntnisse im Bereich der Bibelsprachen, biblische Umwelt und Einleitungsfragen bin ich heute noch dankbar). Doch die Bibelhaltung, die ihre Theologie bestimmte, stand in krassem Gegensatz zu dem im Katalog genannten Bekenntnis zur Autorität der Schrift. Statt das Vertrauen in das einzig tragfähige Fundament für Theologie und geistliche Praxis zu fördern, wurde die an den staatlichen Universitäten übliche skeptizistische (bibelkritische) Theologie offen propagiert und praktiziert, bibeltreue Sichten dagegen bekämpft oder lächerlich gemacht. Im Kollegium gab es zwar auch konservativere Theologen. Tonangebend waren aber die historisch-kritisch arbeitenden (europäischen) Professoren; und ihr Ansatz wurde von den anderen (amerikanischen) Kollegen entweder (mehr oder weniger stark) unterstützt oder zumindest geduldet.
Für mich (und manch anderen) unfassbar und daher so traumatisch war die Tatsache, dass sich diese dezidiert bibelkritische Theologie anscheinend problemlos mit herkömmlicher baptistischer Frömmigkeit vertrug. Vor den Vorlesungen wurde gebetet. Man nannte sich „Bruder“ oder „Schwester“. Täglich fanden Andachten in der Kapelle statt; bevor man sich hinsetzte, schloss man die Augen zum stillen Gebet. Am Wochenende besuchte man Gemeinden und predigte. Wie war es möglich, dass man auf diese Weise Nähe zu Gott dokumentierte und parallel dazu im Vorlesungsbetrieb immer wieder gegen sein Wort und gegen die, die ihm restlos vertrauten, polemisierte?
Einige unvergessliche Beispiele: In der Vorlesung zur Umwelt der Bibel wurde behauptet, das in den Königebüchern Beschriebene wäre rein politisch bedingt gewesen; „geistliche“ Faktoren (etwa die in der Bibel besonders thematisierte Beziehung des jeweiligen Königs zu Gott) hätten in diesen Vorgängen keinerlei Rolle gespielt. In derselben Vorlesung wurden die als Häretiker bezeichnet, die noch an die Faktizität der Schöpfungsgeschichte glauben. Als einer der beiden Neutestamentler das 1969 erschienene Buch von W. A. Criswell (damals Vorsitzender der Südlichen Baptisten!) über die völlige Vertrauenswürdigkeit der Bibel („Why I Preach That the Bible Is Literally True“) bei mir entdeckte, packte er es, hob es in die Luft und machte sich darüber lustig.
Unfassbar war die Tatsache, dass sich diese bibelkritische Theologie anscheinend
problemlos mit herkömmlicher baptistischer Frömmigkeit
vertrug
Der Alttestamentler machte uns von Anfang an klar, er wolle uns den „Sonntagsschulglauben“ (sprich den kindlichen Glauben an Jesus und die Bibel) austreiben. Immer wieder ließ er sich zu zum Teil gotteslästerlichen Bemerkungen hinreißen. Einmal stellte er an der Wandtafel die mit den chronologischen Daten in den Königebüchern zusammenhängenden Probleme dar und schloss, es lägen eindeutig Rechenfehler vor. Höhnisch rief er uns Studierenden zu, wenn der Heilige Geist das inspiriert haben sollte, wäre er ein schlechter Mathematiker. Einige von uns protestierten und forderten, er solle sich entschuldigen, was er schließlich (grinsend) tat.
Einer der besten Studenten (aus einem Ostblockstaat) verließ nach diesem Vorfall die Hochschule, um in den U.S.A. bibeltreu weiterzustudieren.
Ein anderes Mal versuchte dieser Professor die Irrelevanz der christlichen Botschaft dadurch herauszustellen, dass er behauptete, die Christen würden das Schuldproblem, für das sie (im Evangelium) dann eine Lösung bereithielten, vorher selbst erschaffen. Im Grunde gebe es kein Schuldproblem, das Evangelium sei daher verzichtbar.
Eine im besten Sinn wissenschaftliche Begründung für ihre Position blieben die
Rüschlikoner mir schuldig
Ich verstand die Welt nicht mehr. Wie war eine solche Sichtweise mit der gleichzeitig praktizierten pietistischen Frömmigkeit zu vereinbaren? Sicherlich brachte dieser (menschlich angenehme und sympathische und noch über Jahre hinweg in Rüschlikon tätige) Professor seinen bibelkritischen Standpunkt radikaler zum Ausdruck als die meisten seiner Kollegen (er war sogar der Meinung, die Realität Gottes ließe sich auf ein Symbol für das Gute reduzieren!). Doch war er nach meiner Beobachtung einfach konsequenter; im Grundansatz unterschieden sich mindestens die tonangebenden (europäischen) Kollegen nicht voneinander. Für mich war es aber einfach unfassbar, wie man an einer Hochschule, an der die Pastoren einer evangelikalen Denomination ausgebildet wurden, so etwas dulden konnte. Vor diesem Hintergrund begrüßte ich den Entschluss der Südlichen Baptisten, in Sachen Rüschlikon tätig zu werden.
Ich selbst wollte mit dieser Art von Theologie nichts mehr zu tun haben. Die Wirklichkeit meiner Gottesbeziehung ließ dies nicht zu; und eine im besten Sinn wissenschaftliche Begründung für ihre Position blieben die Rüschlikoner mir schuldig (hingewiesen wurde gewöhnlich nicht auf Fakten, sondern auf die Meinung der damals gerade populären Theologen, die ihrerseits weitestgehend mit rein hypothetischen Konstrukten arbeiteten). Nach zwei Semestern verließ ich Rüschlikon.
An den Universitäten Zürich und Liverpool studierte ich daraufhin bei Nichttheologen Gräzistik, Hebraistik, Anglistik und benachbarte Fächer bis zur Promotion. In diesen Disziplinen begegnete mir eine Wissenschaftlichkeit, die – gut begründet – zu einem sehr viel positiveren Umgang mit der Bibel ermutigte. Dies traf besonders auf die Altorientalistik der Universität Liverpool zu, wo interessanterweise das Problem der chronologischen Angaben der Königebücher ebenfalls aufgegriffen und gezeigt wurde, dass sich das Zusammenspiel dieser Daten im Licht von greifbaren Fakten ohne die Annahme von Rechenfehlern sinnvoll erklären lässt (!). Schließlich kehrte ich als akademischer Lehrer zur Theologie zurück, allerdings zu einer bewusst bibeltreuen, die danach ringt, (wahre) Wissenschaftlichkeit und Loyalität gegenüber dem lebendigen Gott und dessen untrüglichen Offenbarung in der Schrift konsequent miteinander zu verbinden. Seit fast dreißig Jahren leite ich nun mit großer Freude junge Theologen an, den Grundtext der Bibel wissenschaftlich gründlich und mit ganzer Hingabe an den Herrn zu studieren und anzuwenden.
Durch die Rüschlikoner Erfahrung, so traumatisch sie für mich war, wurde mir bewusst, wie sich selbst an Ausbildungsstätten evangelikaler Freikirchen die in der Hybris des sündigen Menschen verwurzelte Bibelkritik ausbreiten und einer gesunden Theologie und geistlichen Praxis letztlich den Boden entziehen kann.
Denominationen, denen an echtem geistlichem Leben in ihren Gemeinden gelegen ist, tun gut daran, bei der Ausbildung ihrer Pastoren auf einem konsequent bibeltreuen Ansatz zu bestehen. Dazu möchte ich Mut machen.