ThemenKultur und Gesellschaft

1968-1998: Bilanz nach 30 Jahren Emanzipation

Jubiläen, gerne und oft gefeiert, dienen der Erinnerung an vergangene Ereignisse und der Besinnung darauf, ob diese irgendwelche Auswirkungen auf den weiteren Gang der Geschichte gehabt haben. Insofern vergegenwärtigen sie nicht nur die Vergangenheit, sondern bieten auch die Gelegenheit zur Standortbestimmung und zur Planung der Zukunft. Weil Jubiläen aus der Rückschau begangen werden, stehen sie immer in der Spannung von objektiver Betrachtung und subjektiver Einschätzung. Das lässt sich gut an einem Jubiläum beobachten, dessen zur Zeit vielfach gedacht wird, nämlich dem an die sogenannte 68er Revolution.

Die Studentenbewegung hatte damals in Deutschland in der Zeit zwischen dem tödlichen Schuss eines Polizeibeamten auf den Studenten Benno Ohnesorg im Sommer 1967 und dem Attentat auf Rudi Dutschke im Frühjahr 1968 ihren Höhepunkt erreicht. In den Medien und in vielen Veranstaltungen ist jener aufgeregten Zeit gedacht worden, in der sich der Generationenkonflikt in dem Kampf der Studenten gegen das sogenannte Establishment entlud und deren moralische Empörung gegen den Vietnamkrieg, die Springer-Presse, die Notstandsgesetze der Bundesregierung, die repressive Moral und vor allem gegen den ‚Muff von tausend Jahren‘, der sich angeblich unter den Talaren der Universitätsprofessoren befinden sollte, einen keineswegs immer friedlichen Ausdruck fand. Die kritische Theorie der Frankfurter Schule, angeführt von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Jürgen Habermas und vor allem Herbert Marcuse, gab in unzähligen Hearings und Debatten der Bewegung die theoretische Grundlage. Sie bestand aus einer brisanten Mischung, gespeist aus den in ihrer Entstehungszeit jeweils revolutionären Bewegungen der Aufklärung im 18. Jahrhundert, des Marxismus im 19. Jahrhundert und der Psychoanalyse im frühen 20. Jahrhundert. Nur durch diese Kombination konnte aus der mehr oder weniger spontanen Revolte der 60er Jahre, die zum Teil durchaus berechtigte Fragen an die Gesellschaft gestellt hat, eine tiefgreifende Kulturrevolution werden.

Und nur deshalb müssen wir heute über die Folgen dieser Entwicklung nachdenken. Wäre aus den 68ern von damals nur die heutige Toscana-Fraktion geworden, so wäre das Jubiläum lediglich Nostalgie und wir könnten darauf verzichten. Es verhält sich anders, die Folgen der Bewegung sind, auch wenn das der unbedarften Öffentlichkeit in der Regel nicht bewusst ist, erheblich und haben das Erscheinungsbild unserer Gesellschaft nachhaltig verändert. Deshalb ist in der Tat Bilanz zu ziehen, zumal bei den Erinnerungsfeierlichkeiten eine fatale Verschiebung der Perspektive beobachtet werden konnte. Da wird die 68er-Bewegung plötzlich idealisiert und man bescheinigt ihr Verdienste bei der Demokratisierung und Erneuerung der Gesellschaft. Dabei wird nur allzu leicht vergessen, dass schon früh, wenn auch nicht von allen mitgetragen, die Radikalisierung der Studentenbewegung einsetzte.

Es folgte der Versuch der Zerstörung der Familie als Kernzelle der bürgerlichen Gesellschaft

Schon 1968 gab es erste Anzeichen für den Wandel der berühmt-berüchtigten außerparlamentarischen Opposition (Apo) in eine antiparlamentarische Fundamentalopposition. Diese predigte nicht nur den Klassenkampf, sondern setzte ihn in ihren Kommunen um und zielte durch ihr Programm der Emanzipation auf die Abschaffung des demokratischen Staates. Dieser wurde mit dem Etikett ‚faschistisch‘ gebrandmarkt und zum Abschuss freigegeben. Durch gezielte Aktionen ‚zivilen Ungehorsams‘ gegen die ‚strukturelle Gewalt des Staates‘, die als legitimer Widerstand gerechtfertigt wurden, meinte man eine revolutionäre Situation herbeiführen zu können. Dann, so glaubten zumindest die Intellektuellen, werde die Arbeiterschaft sich in Scharen mit ihnen solidarisieren, den Umsturz herbeiführen und so das Paradies von Sozialismus und Kommunismus ermöglichen. Das trat nicht ein, und so mussten die 68er ihre Strategie ändern. Nach dem neugefundenen Konzept des Neomarxismus sollte nun zuerst das Bewusstsein der Massen verändert werden. Wenn die Leute nicht einsehen wollten, dass es ihnen im Prinzip schlecht gehe und sie vom Staat ausgebeutet würden, dann müsse man es ihnen eben auf dem Weg über die Erziehungsdiktatur beibringen. Der Leitbegriff dafür lautete Emanzipation. Kaschiert als Demokratisierung aller Lebensbereiche, bedeutete dies nichts anderes als eine Politisierung auch des privaten Lebens. Gezielt auf verschiedenen Ebenen ansetzend, wurden zunächst die Universitäten erobert als Brückenköpfe für den Kampf gegen Staat und Gesellschaft. Es folgte der Versuch der Zerstörung der Familie als Kernzelle der bürgerlichen Gesellschaft mittels der sexuellen Revolution, der Schürung des Generationenkonfliktes und der antiautoritären Erziehung. Hinzu kam der Marsch durch die Institutionen, verstärkt durch die Umwandlung von 68er Gruppen in die Bewegungen des Feminismus und der Grün-Alternativen sowie deren erfolgreiche politische Etablierung. Die ganze Geschichte gipfelt in der höchst erfolgreichen Zerschlagung des herkömmlichen Wertekanons der Gesellschaft, dem wohl augenfälligsten Beleg für den Siegeszug der Emanzipationsbewegung.

Das ist, grob skizziert, die Entwicklung, an die heute erinnert werden muss. Nur am Rande sei erwähnt, dass es sich dabei um ein rein westliches Problem handelt. Für die ehemaligen Bürger der DDR verbindet sich mit 1968 etwas ganz anderes, nämlich der Einmarsch der Truppen der Ostblockstaaten in die Tschechoslowakei und überdies in der dritten Hochschulreform die Erringung der Oberherrschaft über die Universitäten durch die SED.

Es ist wichtig, sich dieser Dinge zu erinnern. Aber das allein genügt nicht. Vielmehr müssen wir fragen, wie es zu dieser Entwicklung kommen konnte, welche tiefergreifenden Folgen diese Kulturrevolution bis heute hat und was das von uns fordert.

I. Wie konnte es zu dieser Entwicklung kommen?

Erforderlich wäre nun eine Skizzierung der geistigen Grundlagen des neuzeitlichen Europa. Darauf muss hier verzichtet werden. Stattdessen soll anhand eines kurzen Problemkataloges eine Bestandsaufnahme unserer Gesellschaft gegeben werden.

1. Vergangenheitsprobleme

Die erste Hälfte dieses Jahrhunderts hat Deutschland in einen ständigen Wechsel der Autoritäten gestürzt: Der hohlen Theatralik des wilhelminischen Staates folgte die verordnete Demokratie von Weimar. Die rasche Auflösung der freiheitlichen Ordnung schlug alsbald um in die Pervertierung der Autorität durch das Naziregime, das den entscheidenden Bruch in der deutschen Geschichte darstellt. Die Auseinandersetzung bzw. Nichtauseinandersetzung mit jener Zeit behinderte das Wachsen eines gesunden nationalen Selbstverständnisses. Die daraus folgende Ungewissheit über die eigene nationale und historische Identität führt zu Irritationen in der Gegenwart und zu labiler Zukunftshaltung.

2. Klimaumschwung

Die jüngere Generation verketzerte plötzlich die wertorientierte Demokratie als autoritär, der Sturm auf die traditionellen Strukturen begann

Einen weiteren Bruch stellt der innenpolitische Klimaumschwung in den 60er Jahren dar. Zwar wurde die neue Staatsform nach dem Kriege akzeptiert, man hatte sich aber zu wenig um ihre philosophisch-moralische Fundierung gekümmert. In einer Zeit der Entideologisierung gab man der pragmatischen Orientierung des wirtschaftlichen Aufschwunges den Vorrang. Die verschiedenen Erschütterungen des politischen Koordinatensystems in den 60er Jahren offenbarten dieses Manko. Die jüngere Generation verketzerte plötzlich die wertorientierte Demokratie als autoritär, der Sturm auf die traditionellen Strukturen begann. Folgen dieser Phase der Reideologisierung, die durch das Stichwort Emanzipation charakterisiert ist, sind Misstrauen jeder Autorität gegenüber, Streben nach absoluter Selbstbestimmung ohne Rücksicht auf die Solidargemeinschaft und das Vertrauen in visionäre Utopien sowie schließlich eine allmähliche Umwertung der Werte. Parallel dazu verlief eine erhebliche Veränderung der Gesellschaft durch die Schrumpfung der handwerklichen und bäuerlichen Bevölkerungsanteile im herkömmlichen Sinne und vor allem die Neustrukturierung der Öffentlichkeit durch das laufende Bild als Medium. Der gesamte Bereich von Ehe und Familie, von Erziehung und Bildung sowie die Beziehung der Geschlechter und Generationen zueinander haben sich seitdem erheblich verändert und die kulturellen Momente verlagert. Für alle in der Gesellschaft gleichermaßen verbindliche Verhaltensmuster gibt es nicht mehr, der individuellen Lebensgestaltung steht alles offen, mag es nach den herkömmlichen Vorstellungen auch noch so pervers erscheinen. Diese Situation hat sich selbst nach dem erneuten Klimaumschwung seit den 80er Jahren gehalten, der geprägt ist von der Ablösung der politischen Nüchternheit durch die Emotionalität und den Irrationalismus. Diese Tendenz hat sich in der sogenannten Postmoderne der 90er Jahre eher noch verstärkt.

3. Fortschrittskrise

Der individuellen Lebensgestaltung steht alles offen, mag es nach den herkömmlichen Vorstellungen auch noch so pervers erscheinen

Die beiden modernen Konzepte der Erkenntniserweiterung, die selbstvollzogene Emanzipation von Autoritäten und Werten sowie der wissenschaftlich-technische Fortschritt, haben über ungewollte Nebeneffekte sich selbst den Widerspruch produziert und sind so in den 80er Jahren in die Krise geraten. Die sich daraus ergebende Situation hat man mit dem Begriff ‚Risikogesellschaft‘ umschrieben. Danach können die kulturellen und politischen Institutionen der Gesellschaft ihrer eigenen industriellen und technologischen Dynamik nicht mehr folgen. Der Mensch an der Schwelle eines neuen Jahrtausends kommt mit der von ihm selbst in Gang gesetzten Entwicklung einfach nicht mehr zurecht. Was immer er tut und wie erfolgreich er dabei auch sein mag, er produziert unausweichlich stets auch das Gegenteil dessen mit, was er eigentlich gewollt hat (Beispiele: Atomenergie, Gentechnologie). Er reagiert darauf aber nicht mit einer Infragestellung seiner Denkgrundlagen, sondern setzt zunächst an die Stelle des Fortschrittsoptimismus den Pessimismuskult, der inzwischen von dem Irrationalismus des New Age und der Postmoderne abgelöst worden ist. Gleichwohl entspricht er immer noch dem idealistischen Fortschrittsideal, indem ihm nämlich nach wie vor der Mensch der einzige Referenzpunkt ist und man trotz aller gegenteiligen Erfahrungen glaubt, der gute Mensch könne aus sich selbst heraus das Gute schaffen und die Geschichte positiv gestalten. Längst ist man so übrigens in ein postchristliches Zeitalter geraten, in dem das Christentum als Orientierungsrahmen zu einem Angebot unter vielen geworden und dadurch letztlich ausgefallen ist.

4. Krise der Ethik

Die Einzelnen wissen sich nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet, allen Traditionen der Sittlichkeit distanziert gegenüberzutreten

Die Selbstermächtigung des Menschen in der Neuzeit zu einer durch keine bindenden Normen gehaltenen Freiheit hat zu einer ungeheueren Freisetzung seiner Möglichkeiten und seiner Macht geführt. Positiv hat dieses Freiheitsniveau die Entfaltung der technischen Vernunft ermöglicht, was eine Explosion des naturwissenschaftlichen Wissens und der wirtschaftlichen Produktion nach sich gezogen hat. Das Leben der Einzelnen wie der Familien, der Gruppen wie der Gesellschaft hat sich infolgedessen radikal verändert. Denn durch die Konsummöglichkeiten und das immer größer werdende Freizeitangebot hat das öffentliche wie private Leben einen hohen Organisationsgrad angenommen, der die Menschen in zahlreiche Sachzwänge drückt. Formelhaft ausgedrückt: Der formalisierte Mensch in einer funktionierenden Gesellschaft. Das Problem dieser freiheitlich verfassten Gesellschaft ist die Lösung der Ethik von bindenden Normen. Nach gewissen Grundprinzipien wie etwa den Menschenrechten steht es heute jedem frei, die Orientierung seines Lebens selbst zu bestimmen. Das hat dazu geführt, dass sich die Einzelnen nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet wissen, allen Traditionen der Sittlichkeit wie auch des Glaubens distanziert gegenüberzutreten und aus dieser Distanz heraus dann nach eigenem Gutdünken ihre Weltanschauung zu bestimmen. Der Pluralismus der unterschiedlichsten Lebensformen gibt ihnen dazu vielfältige Möglichkeiten. Die kirchliche Orientierung stellt dabei längst nicht mehr das Fundament dar, sie ist zu einer Privatmeinung neben anderen herabgesunken. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist eine Fülle denkbarer ethischer Ausrichtungen, die sich in ihrer Widersprüchlichkeit selbst relativieren.

Mit diesen wenigen Punkten ist schon angedeutet, wie radikal die Kulturrevolution das Erscheinungsbild unserer Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Natürlich kann man nicht alle diese Aspekte der 68er-Generation anlasten, handelt es sich hier doch um längerfristrige Entwicklungen. Aber in deren Emanzipationsideologie verdichten sich diese Strömungen wie nirgends sonst. In einem nächsten Schritt wollen wir noch genauer nach den Folgen fragen.

II. Welche Folgen hat die Kulturrevolution?

Man könnte jetzt ausführlich über Missstände in unserer Gesellschaft berichten, die sich mehr oder weniger direkt aus der 68er-Bewegung ergeben haben. Dazu gehört etwa die Schädigung des Bildungssystems, weil man an den Universitäten zugunsten eines ideologischen Gleichheitsgedankens das Anspruchsniveau dramatisch gesenkt hat. Unterschiede der Begabung wurden zu Unterschieden der Sozialisation uminterpretiert und durch längere Studienzeiten wie Absenkung der Ansprüche wettgemacht, so dass der ehemals weltweit gute Ruf der deutschen Universität verloren ist. Dazu gehören die verschiedenen Spielarten der Alternativkultur mit ihrer Sozialromantik einschließlich des Feminismus, der Naturmystik, des Esoterik-Zaubers und des übertriebenen Ökologismus. Die Vertreter dieser Richtungen treten übrigens meist in unerträglicher Weise mit dem pathetischen Anspruch des Weltgewissens auf und mit einer Empörungsbereitschaft, die bei ausländischen Beobachtern in der Regel nur Kopfschütteln hervorruft. Dazu gehört schließlich eine unübersehbare Sexualisierung des Alltags, bei der Medien wie Presse und Fernsehen eine höchst unselige Rolle spielen. Über all diese Aspekte ist jedoch schon so viel Kritisches gesagt und geschrieben worden, dass ich in diesen Chor jetzt nicht einstimmen möchte. Es genügt die Feststellung, dass die Emanzipationsideologie sich weithin durchgesetzt hat. Stattdessen sei daran erinnert, dass auch die evangelischen Landeskirchen sich dem Zeitgeist der Emanzipation angepasst haben.

Anstatt der offenkundigen Orientierungslosigkeit des modernen Menschen entgegenzusteuern, haben sich die evangelischen Landeskirchen selbst diesem Denken ausgeliefert

Anstatt der offenkundigen Orientierungslosigkeit des modernen Menschen entgegenzusteuern, haben sie sich vielfach selbst diesem Denken ausgeliefert. Der Preis dafür ist ein dramatischer Substanzverlust der Volkskirche in den letzten Jahren. Zwar sind die Bekenntnissätze noch in Kraft, aber sie sind längst ausgehöhlt, weil existentiell und situativ umgedeutet. Die Einheit der Kirche wird paradoxerweise gewahrt dadurch, dass es keine Einheit mehr gibt. Der Pluralismus garantiert zwar Harmonie, aber auch Saft- und Kraftlosigkeit. Dies hat natürlich Folgen.

Kindergottesdienst, Konfirmanden- und Religionsunterricht sind weithin zu Übungen freundlicher Mitmenschlichkeit degeneriert. Fragt man jedoch nach Bibelkenntnissen oder auch nur nach dem Besitz einer Bibel, so bekommt man von heutigen Schülern häufig nur eine Fehlanzeige zu hören. An den theologischen Fakultäten wird der Glaube der Studenten, wenn sie denn einen haben, systematisch untergraben. Aus alledem entsteht der Verlust geistlicher Orientierung, der mit der Veränderung des Denkens beginnt und über eine neue Ethik zur Verleugnung der Christusnachfolge führt. Man braucht sich nicht zu wundern, dass viele Menschen heutzutage überhaupt nicht mehr den Weg in die Kirchengemeinden finden. Sie suchen dann anderswo Orientierung. Während die Theologen der modernen Schule kaum über das ewige Leben oder das Kommen des Reiches Gottes zu sprechen wagen und Begriffe wie Himmel, Hölle und Satan fast tabu sind, reden New-Age-Denker völlig selbstverständlich von der Identität von Göttlichem und Menschlichem und von der Reinkarnation und haben damit Erfolg. Der andere Weg ist der, die Botschaft dem oberflächlichen Erlebnishunger des modernen Menschen anzupassen. Der Gottesdienst dieser Neoreligiosität wird dann zum emotionalen Fest, in dem ein gutes Gebet begeistert beklatscht wird. Christus wird dort instrumentalisiert zum Superstar der eigenen trunkenen Gefühlsseligkeit, der Ernst der Nachfolge bleibt auf der Strecke.

Der Gottesdienst dieser Neoreligiosität wird dann zum emotionalen Fest, in dem ein gutes Gebet begeistert beklatscht wird

So hat im Gefolge der Emanzipation die Erklärung von Toleranz und Pluralismus zu Leitideen der Kirche ihr Erscheinungsbild radikal geändert. Nicht mehr die Verkündigung der frohen Botschaft als Anspruch an den Menschen steht im Vordergrund, sondern die Integration des kirchlichen Wirkens in gesellschaftspolitische Belange. Als Beispiele seien genannt: die Verpolitisierung der Kirche; die Rezeption neomarxistischer Ideologien; die Verwendung von Kirchensteuermitteln für fragwürdige Projekte; die ökumenische Vision einer Welteinheitsgesellschaft; die Veränderung elementarer biblischer Aussagen in den Lehrplänen zum kirchlichen Unterricht wie zum Religionsunterricht; die Übernahme gruppendynamischer Verfahrensweisen in die Vikarsausbildung sowie die unklare Haltung in vielen ethischen Problemfragen. Kurzum, die Kirche steht in der Gefahr, zu einer Art Gemischtwarenladen zu verkommen.

Für viele Menschen ist ‚Gott‘ nur noch eine in Redensarten benutzte Floskel

Um dies noch konkreter mit unserem Thema zu verbinden, wähle ich einen ungewöhnlichen und eher indirekten Weg, indem ich nicht die Fehlentwicklungen bestimmter kirchlicher Gruppen und Personen etwa von der Hinneigung zum Sozialismus über den Feminismus bis hin zur Segnung homosexueller Paare und den jüngst in Mode gekommenen Tiergottesdiensten aufzähle. Die Bedeutung bzw. Nichtbedeutung der Kirche für unsere Gesellschaft möchte ich vielmehr durch einen Vergleich der Zehn Gebote der Bibel mit der gesellschaftlichen Realität konkretisieren (nach idea-spektrum 37/1996, S. 3). Auch dies muss in Kürze geschehen und mag deshalb gelegentlich etwas holzschnittartig anmuten.

  1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir. – Von den 81,5 Millionen Deutschen gehören nur noch 56 Millionen den Kirchen an. 44% sagen von sich selbst, nicht mehr an Gott zu glauben. Für viele Menschen ist Gott längst von irgendwelchen Popidolen, östlichen Weisheitslehrern, New Age-Aposteln oder auch nur dem Mammon abgelöst worden. Im Grunde genommen kann man deshalb ehrlicherweise nicht mehr von einer Volkskirche in Deutschland sprechen, denn Gott ist, wenn überhaupt, längst zu einer Größe unter vielen anderen geworden.
  2. Du sollst den Namen des Herrn nicht missbrauchen. – Politiker schwören, mit Gottes Hilfe zum Wohle des Volkes zu handeln,1) haben oft genug aber nur das eigene bzw. das Parteiinteresse im Auge. Etliche Theologen passen sich dem feministischen Zeitgeist an und verwandeln Gott in die Mutter der Weisheit oder Jesus Christus in Jesa Christa. Die Evangelische Frauenhilfe in Bremen will sogar den Namen Jesus Christus aus ihrer Satzung streichen, weil sich daraus ein männlicher Herrschaftsbegriff ableiten lasse. Die Dachorganisation der Frauenwerke in den Landeskirchen ist überdies der Meinung, die einseitige Auslegung der ‚Kreuzes- und Opfertheologie‘ könne dazu benutzt werden, Frauen in Gewaltverhältnissen festzuhalten und die Macht der Väter abzustützen. Deshalb müsse man von der ‚Leidensmystik‘ loskommen und auch auf eine Idealisierung von Ehe und Familie verzichten. Insgesamt gesehen ist für viele Menschen ‚Gott‘ nur noch eine in Redensarten benutzte Floskel. Ehrfurcht vor Gott kommt im Reden und Handeln kaum noch vor.
  3. Du sollst den Feiertag heiligen. – Mehr als 80% der Deutschen gehen so gut wie nie in die Sonntagsgottesdienste. Das Wochenende gehört dem Sport, Hobby, Ausflug oder anderen Zerstreuungen. Der früher für den Kirchgang angelegte Sonntagsstaat ist dem Trainingsanzug gewichen. Der Jahresablauf der Menschen wird nicht mehr von den kirchlichen Festen, sondern von Feiertagen und Urlaubswochen gegliedert. Gott kommt in unserer Freizeitgesellschaft kaum mehr vor.
  4. Du sollst Vater und Mutter ehren. – Nicht nur in der Werbebranche herrscht ein hemmungsloser Kult der Jugendlichkeit. Hinzu kommt ein durch keinerlei Autoritäten und Schranken gebremstes Anspruchsdenken schon von Kindern, das Eltern zu bloßen Erzeugern und Ernährern degradiert. Respekt vor dem Alter einschließlich einfachster Formen der Höflichkeit gilt vielfach als lächerlich. Durch all dies geraten die alten Familienstrukturen ins Wanken, wie die Zunahme der Single-Haushalte und die Vereinsamung im Alter verdeutlichen.
  5. Du sollst nicht töten. – Jährlich zählt man in Deutschland etwa 300.000 Abtreibungen. Dennoch suchen manche Politiker nach immer neuen Wegen, um diese Tötungen im Mutterleib zu erleichtern. Im Jahre 1995 wurden 6,7 Millionen Straftaten begangen, darunter alle sieben Stunden ein Mord. Oft genug werden die Opfer auch noch verhöhnt, während man für die Täter alle nur erdenklichen Entschuldigungen sucht. Die Schwelle zur Anwendung von Gewalt als Konfliktlösungsstrategie wird immer niedriger, gefördert durch die beispiellose Verrohung in Fernsehsendungen und Videofilmen. Der eindeutig belegte Zusammenhang von Gewaltbereitschaft und Konsum einschlägiger Filme schon bei Kindern wird zugunsten der heiligen Kuh ‚Freiheit des Bürgers‘ geleugnet. So schizophren es auch klingen mag, infolge der Betonung der ungebundenen Selbstverwirklichung des Menschen nimmt dessen Wert ab.
  6. Du sollst nicht ehebrechen. – 41% der Männer und 29% der Frauen haben in Deutschland ihre Ehepartner schon einmal betrogen. Treue wird vor allem von bestimmten Medien als antiquiert bespöttelt, ‚Seitensprünge‘ gelten als Kavaliersdelikt oder werden sogar als förderlich angesehen. In den Großstädten kommt inzwischen auf zwei Eheschließungen eine Scheidung.
  7. Du sollst nicht stehlen. – Bei sinkender Aufklärungsquote steigt die Zahl der Diebstahlsdelikte. Im Jahre 1995 wurden über 600.000 Ladendiebstähle aufgedeckt, die Dunkelziffer liegt weitaus höher, verbunden mit einem in die Milliarden gehenden Schaden. Gar nicht mitgezählt sind dabei die Betrügereien und finanziellen Unsauberkeiten etwa durch die private Nutzung von Firmeneigentum und die Manipulation der Steuererklärung.
  8. Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen wider deinen Nächsten. – Vorgeblich im Besitz einer höheren Moral, verleumden Ökofanatiker die Industrie, Gewerkschafter die ‚Konzernbosse‘, Theologen die Kirchen und Politiker die Kollegen aus anderen Parteien. Rufmord ist für die sogenannte Regenbogenpresse geradezu eine Geschäftsgrundlage.
  9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. – Spekulanten erwerben Mietshäuser, klagen die oft sozial schwachen Mieter hinaus und wandeln die Wohnungen in teueres Eigentum um, all dies auch noch mit gesetzlicher Unterstützung.
  10. Du sollst nicht begehren deines Nachbarn Hab und Gut. – Neid und Missgunst bestimmen vielfach das Verhältnis zu anderen Menschen oder Gruppen. In Zeiten schwacher Konjunktur wird mit dem Sozialneid ungeniert Politik gemacht. Habgier ist ein hervorstechender Wesenszug etlicher Zeitgenossen, meist verbunden mit einer Pervertierung des Unrechtsbewusstseins. Hinter der lamoryanten Klage vieler über die schlechten Zeitläufe verbirgt sich oft nichts anderes als Neid auf sogenannte Besserverdienende, und das alles in einem der reichsten Länder der Welt.

Das kirchlich verfasste Christentum hat angesichts der Herausforderung durch die Kul-turrevolution nicht nur versagt, es hat sich sogar fahrlässig auf diese Bewegung eingelassen

Zugegeben, diese Aufzählung konzentriert sich auf Negativentwicklungen und kümmert sich nicht um detaillierte Begründungszusammenhänge. Sie geht auch nicht darauf ein, dass diese Dinge von vielen, offensichtlich anders denkenden und handelnden Menschen beklagt werden und dass manchen Tendenzen mehr oder weniger intensiv entgegen gesteuert wird. Überhaupt lässt sich in den letzten Jahren beobachten, dass der Ruf nach verlässlicher Orientierung und allgemeingültigen Wertmaßstäben lauter wird. Das macht aber unsere Zustandsbeschreibung nicht falsch, ganz im Gegenteil. Gerade der letzte Aspekt zeigt, dass man mehr und mehr erkennt, wie sehr das hemmungslose Ausleben emanzipatorischer Programme im Gefolge der 68er-Bewegung in das gesellschaftliche Chaos führt. Vor allem aber, und das war der eigentliche Sinn dieser Aufzählung, wird deutlich, dass Gottes Gebote, die nichts anderes sind als lebenbewahrende Leitlinien für gemeinschaftliche Existenz, keine Verhaltensnormen mehr sind. Und das wiederum sagt einiges aus über den Zustand von Kirche in unserem Lande. Sie redet viel über dieses und jenes, veröffentlicht denkwürdige Denkschriften zu allen möglichen und unmöglichen Themen, schafft es offensichtlich aber nicht, den Menschen den förderlichen Sinn von Gottes Geboten zu vermitteln. Daraus lässt sich nur ein Schluss ziehen: Das kirchlich verfasste Christentum hat angesichts der Herausforderung durch die Kulturrevolution nicht nur versagt, es hat sich sogar fahrlässig auf diese Bewegung eingelassen.

Das Ergebnis
dieser Entwicklung ist eine dramatische Orientierungslosigkeit. Sie wird deutlich an drei Aspekten:

  • Erstens der Wertelosigkeit. Das falsch verstandene aufklärerische Denken hat den Wahrheitsbegriff aufgelöst. Wenn aber Wahrheit nicht an eine außerhalb des Menschen befindliche Norm gebunden ist, wird sie verfügbar und vom jeweiligen Denkstil abhängig.
  • Zweitens die Gottlosigkeit. Wo einst die Glaubensüberzeugungen der Reformation galten, findet sich heute ein ideologischer Trödelmarkt, auf dem sich jeder nach Belieben versorgen kann. Der Verlust der Gottesorientierung führt indes zur Unsicherheit des Denkens. Daraus sucht der Mensch sich zu befreien, indem er sich selbst zum Gott erklärt. Der moderne Mensch ist der Weltenbaumeister, der sich seine Welt und seine Gesetze nach seiner Vernunft selbst schafft.
  • Drittens die Ratlosigkeit. Der Mensch wird mit seiner Rolle als Gott nicht fertig, nichts zeigt das so deutlich wie die gegenwärtige Situation. In seiner Ratlosigkeit sucht er nach immer neuen Rezepten, wird dabei aber, weil er seine Grundlage nicht aufgeben will, immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen. So entsteht eine unübersehbare Masse an Rhetorik des Zeitgeistes, aber keine wirkliche Hilfe. Da man sich überdies nur allzu gern den modernen Seelenführern anvertraut, konnte vielfach das verknorzte Weltbild der 68er zum Leitfaden der Politik werden. Gefallen tut das den meisten Zeitgenossen eigentlich nicht, aber dagegen aufzustehen wagen sie auch nicht.

Die wohl bedrohlichste Folge des Wertezerfalls ist die Zunahme der Gewalt unter Kindern und Jugendlichen. Die Kinderkriminalität schon bei Zwölf- bis Vierzehnjährigen nimmt immer mehr zu. So ist etwa in Baden-Württemberg im Jahre 1997 die Zahl der Straftäter bis vierzehn Jahre um 12% auf 13.000 gestiegen, eine unvorstellbar hohe Zahl, die noch um die erhebliche Dunkelziffer zu ergänzen ist. Dabei wird die Hemmschwelle immer niedriger und selbst der Tod eines Menschen scheint seinen Schrecken verloren zu haben. Die einschlägigen Fälle aus den letzten Monaten dürften bekannt sein. Eine Umfrage unter bayerischen Schulleitern hat als Erklärung für diese Gewaltzunahme ergeben: fehlendes Unrechtsbewusstsein, Intoleranz, extreme Ich-Bezogenheit, Verwahrlosung der Eltern-Kind-Beziehung und insbesondere die Folgen des Fernsehens. Viele Kinder meinen, die Wirklichkeit sei ein Abbild der gesehenen Filme und deshalb halten sie Gewalt für ein normales und probates Mittel zur Lösung von Konflikten.

Gewiss, es gibt auch viele positive Gegenbeispiele und noch ist unsere Gesellschaft nicht am Ende. Erinnert sei nur an die Spendenfreudigkeit der Deutschen, an ihre nachbarliche Hilfsbereitschaft, an die vielen Jugendlichen, die nach ganz anderen Lebensentwürfen aufwachsen und sich beispielsweise in großer Zahl an dem Jugend-forscht-Programm beteiligen. Aber die gesellschaftliche Situation spitzt sich zweifelsohne zu. Deshalb müssen wir uns abschließend noch mit einer letzten Frage befassen.

III. Was soll nun geschehen?

Der Verlust der Gottesorientierung führt zur Unsicherheit des Denkens

Die Kulturrevolution der Emanzipationsideologie will vergessen machen, dass die geistige Grundlage unseres Staates das christliche Erbe ist. Der Rechts- wie der Sozialstaat lebt von den mehr oder weniger sichtbaren Resten des inzwischen freilich privatisierten Christentums. Alle Werte, auf die sich der Staat beruft, sind zwar nicht ausschließlich, aber doch entscheidend von christlicher Herkunft. Dem Ruf nach einer solidarischen Gesellschaft etwa fehlt doch jede Grundlage, wenn das christliche Erbe für unverbindlich erklärt wird. Das heißt aber, um Günter Rohrmoser zu zitieren:

„Wenn die Christen nicht bereit sind, die Verantwortung für die Entwicklngen in Staat und Gesellschaft, zu deren Zustandekommen sie selber beigetragen haben, zu übernehmen, dann werden wir in der Barbarei enden.“

Fast alle Werte, auf die sich der Staat beruft, sind von christlicher Herkunft

Das wiederum fordert von uns, darüber nachzudenken, ob wir uns überhaupt mit den richtigen Problemen beschäftigen. Ich habe oft den Eindruck, dass sich die Evangelikalen innerlich längst von der Gesellschaft, in der sie leben und von der sie auch profitieren, getrennt haben und sie sich darauf beschränken, ihre Vorurteile und vor allem ihre internen Streitigkeiten zu pflegen. Die Welt um sie her droht im Chaos zu versinken und sie streiten sich darüber, wer mit wem zusammengehen darf und wer ihrer Ansicht nach rechtgläubig ist. Dabei kann es leicht passieren, dass falsche Fronten aufgebaut werden und aus dem Blick gerät, dass das Denken vieler Menschen heute antikirchlich und antichristlich geprägt ist. Den Säkularismus bewegen radikal andere Probleme, und deshalb muss mit der Phantasie der Liebe überlegt werden, wie man zu seinen Vertretern überhaupt erst einmal eine Brücke der Kommunikation aufbauen kann. Das setzt freilich eine intensive Beschäftigung mit den gegenwärtigen Denkvoraussetzungen, Problemstellungen, Wünschen und Nöten voraus.

Bei der Lösung dieser Aufgabe können Umfrageergebnisse über die Zukunftserwartung der Deutschen weiterhelfen. Danach kündet die Stimmungslage in unserer Gesellschaft keineswegs von einem wagemutigen Aufbruch zu neuen Ufern, sondern eher von der Vertreibung aus dem Paradies. Düster und abschreckend sieht man die Zukunft und meint, in zehn Jahren werde die Gesellschaft kälter und egoistischer, die Arbeitslosigkeit noch höher, die Unterschiede zwischen arm und reich größer und die Zukunft noch unsicherer sein. Interessanterweise sind sich die Menschen aber bewusst, dass nur durch einschneidende Veränderungen die Zukunft positiver gestaltet werden könne. In dem Auseinandertreten von wirtschaftlichem Erfolg und menschlicher Gesellschaft sehen sie das Hauptproblem und wissen demnach genau, dass nur die rechte Verbindung von Effizienz und Humanität zukunftsfähig machen kann. Und sie geben auch an, welche Voraussetzungen dafür zusammenkommen müssen: soziale Gerechtigkeit und Leistungsbereitschaft, ein konstruktives Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wie zwischen den Generationen, ein hervorragendes Bildungssystem, Familiensinn, Solidarität, klare ethische Maßstäbe und Innovationsoffenheit. Über die Menschlichkeit einer Gesellschaft entscheidet, so weiß man genau, ihre ethische Substanz und ihr moralischer Maßstab. Die überwältigende Mehrheit der Menschen hält sogar eine Rückbesinnung auf Werte wie Nächstenliebe, Bereitschaft zum Teilen, Fürsorglichkeit und Bescheidenheit für dringend erforderlich. Größtenteils handelt es sich hierbei um eindeutig christlich motivierte Tugenden, die aber im Gefolge der Emanzipation von ausgeprägter Egozentrik und rücksichtsloser Verfolgung eigener Interessen abgelöst worden sind.

Dass wir selbst über das Klima unserer Gesellschaft und ihre Menschlichkeit entscheiden können, ist ein vernachlässigter Gedanke

Und genau da liegt das Problem: Die Frage nach der ethischen Substanz der Gesellschaft spielt in der gegenwärtigen Reformdiskussion kaum eine Rolle, und deshalb haben auch die meisten Menschen keine Vorstellung davon, wie denn eine solche für notwendig erachtete Verbindung von Effizienz und Humanität gelingen könne. Die meisten, und wohl auch die Christen, sind gefangen in der Vorstellung einer durch Individualisierung aufgelösten und nicht mehr veränderbaren Gesellschaft. Deshalb denken sie auch nicht darüber nach, was sie an Entwicklungen zulassen oder zurückdrängen wollen, sondern lassen sich einfach überrollen. Dabei wird vergessen, dass die Gesellschaft, also wir alle, mehr Einflussmöglichkeiten etwa durch Anerkennung, Ächtung oder Sanktionen hat, als sie wahrnimmt. Dass wir selbst über das Klima unserer Gesellschaft und ihre Menschlichkeit entscheiden können, ist ein vernachlässigter Gedanke, der unbedingt wieder in das Bewusstsein gehoben werden muss.

Wenn die Gesellschaft keine verbindlichen ethischen Maßstäbe mehr hat, versinkt sie in der Barbarei. Was not tut, ist also eine Zivilisierung unserer Gesellschaft. Und genau da setzt die Aufgabe der Christen an, die zu diesem Thema mit einer zweitausendjährigen Erfahrung im Rücken etwas zu sagen haben. Sie können die Zeichen der Zeit erkennen und sind ihrer eigenen Zeit diese Erkenntnis schuldig. Sie dürfen sich nicht hinter ihrer Skepsis gegenüber allem Politischen verstecken, sondern müssen deutlich machen, dass jede Reformdiskussion ohne die Frage nach den ethischen Maßstäben verfehlt ist. Sie können deutlich machen, dass Freiheit ohne Autorität zur Selbstverwirklichung wird, die in neue Formen der Knechtschaft führt. Sie können erklären, was es bedeutet, diese Welt durch rechte Vernunft zu leiten und zu regieren. Die von der Verantwortung Gott gegenüber getragene Vernunft ermöglicht erst wahre Aufklärung, und gerade der Christ ist befreit zur Gestaltung der Welt unter dem Gesetz Gottes nach den Einsichten und Prinzipien der Vernunft. Nicht Verteufelung von Aufklärung und Vernunft, sondern Einsicht in deren Irrwege und rechten Gebrauch sind die Aufgabe. Insofern tragen die Christen Verantwortung dafür, dass es in der Gesellschaft vernünftig zugeht. Und dabei, so die weise Einsicht Luthers, können manchmal die Heiden vernünftiger sein als die Christen, so dass es sich lohne, in die Schule etwa eines Aristoteles zu gehen. Man darf das Feld einfach nicht den Emanzipationsideologen überlassen. Das fordert alllerdings erhebliche Denkarbeit, die zu leisten allemal anstrengender ist, als immer wieder Fehlentwicklungen zu beklagen.

Wir sollten nicht aussteigen, sondern Verantwortung übernehmen, nicht nur in unseren Gemeinden, sondern auch für die Gesellschaft

Gewiss, die Menschen der Moderne geben sich gottlos. Aber sind sie es wirklich? Suchen sie nicht ständig nach religiöser Vergewisserung ihres Lebens? Und darf man aus dieser gottlosen Attitüde schließen, dass auch die Geschichte der letzten zweihundert Jahre gottlos gewesen ist? Das wäre ein Ausstieg aus der Geschichte und eine bequeme Verleugnung der Tatsache, dass Gott immer der Herr der Geschichte ist und bleibt. Unsere Aufgabe als Christen ist es daher, die Irrwege der verschiedensten Ideologien aufzudecken, ohne dabei die Moderne insgesamt zu verteufeln. Vielmehr müssen wir herausstellen, was an christlichen Grundlagen und Einsichten in der Gesellschaft noch, wenn auch nur echohaft, vorhanden ist und was am Säkularismus bewahrenswert ist. Kurzum, wir sollten nicht aussteigen, sondern Verantwortung übernehmen, nicht nur in unseren Gemeinden, sondern auch für die Gesellschaft.

In fast schon besitzergreifender Weise kann man oft den Satz hören: ‚Christus ist mein Herr‘. Wer so formuliert und danach denkt, wird Schwierigkeiten haben, einen über das Private hinausgehenden Anspruch Christi deutlich zu machen. Den privaten Glauben akzeptiert man im Pluralismus durchaus, aber damit ist noch niemandem geholfen. Sollten wir demgegenüber nicht besser sagen: ‚Christus ist der Herr‘? Denn damit ist Christi Absolutheitsanspruch eindeutig angemeldet. Dann allerdings sind wir auch gefordert, diesen so in unsere Zeit zu übersetzen, dass er von den Menschen im Säkularismus verstanden werden kann. Dann dürfen wir freilich nicht nur über die gegenwärtigen Missstände klagen, sondern müssen mit Glaube und Vernunft Wege zu ihrer Überwindung aufzeigen.2


  1. Neuerdings nicht einmal mehr das. (Anm. d. Red. 

  2. Auf Anmerkungen wurde verzichtet, zumal der Vortrag weitestgehend auf Zeitungsartikeln der letzten Monate basiert. Für die einschlägige Auseinandersetzung mit der Thematik aus evangelikaler Perspektive sind noch immer wichtig die beiden Sammelbände Ideologien – Herausforderungen an den Glauben, Hg. Peter Beyerhaus und Zwischen Anarchie und Tyrannei, Hg. Peter Beyerhaus und Joachim Heubach, beide Bad Liebenzell 1979 sowie Edith Düsing und Horst W. Beck, Menschenwürde und Emanzipation, Neuhausen-Stuttgart 1981. Für weitere Analysen sind die Veröffentlichungen von Georg Huntemann und Günter Rohrmoser zu beachten, von letzterem besonders der 1996 separat gedruckte grundlegende Vortrag Die Aufgaben und das Versagen der Christen in unserer Zeit. Manche Arbeiten von Francis Schaeffer, Os Guinness und Klaus Bockmühl helfen bei tiefergehender Gesellschaftskritik. Eine vorurteilsfreie und um abwägendes Urteil bemühte Geschichte der Emanzipationsideologie aus evangelikaler Feder ist nicht vorhanden.