„Und der Herr blickte auf Abel und auf seine Opfergabe; aber auf Kain und auf seine Opfergabe blickte er nicht.“
Warum nahm Gott das Opfer Abels an, das von Kain jedoch nicht? Auf diese Frage hört und liest man immer wieder dieselben falschen Antworten. Zum Teil gehen sie von falschen Voraussetzungen aus, was ich als Erstes zeigen möchte. Danach will ich deutlich machen, dass die korrekte Antwort offen zu Tage liegt, wenn man sich auf die Ebene des Grundtextes begibt.
Es soll dabei lediglich die Frage erörtert werden, warum Gott das Opfer Abels angenommen hat, das Opfer Kains dagegen nicht. Für eine Exegese von Gen 4,2-5 müsste das Zeugnis des Neuen Testaments wesentlich stärker berücksichtigt werden. Es liefert zwar eine wesentliche Information in Bezug auf die Motivation Abels (er handelt aus Glauben – Hebr 11,4), aber in der Frage, um die es hier eigentlich geht, bestätigt es nur, was man auch schon dem alttestamentlichen Text entnehmen kann.
1 Falsche Voraussetzungen
1.1 Die Opfer dienten der Sühnung von Sünde
Die meisten Ausleger gehen wie selbstverständlich davon aus, dass der Beweggrund für die Opfer Kains und Abels die Erlangung von Sühnung für Sünde gewesen wäre. Für diese Sicht gibt es aber weder im unmittelbaren Zusammenhang noch an irgend einer anderen Stelle der Schrift einen Anhaltspunkt.
Zu Grunde liegt ihr die Vorstellung, dass Opfer im AT immer mit Sünde und deren Sühnung zusammenhingen. Das ist aber nicht der Fall – die Opfer, von denen die Schrift berichtet, dienen nicht ausschließlich der Sühnung von Sünde. So haben die Opfer Noahs (Gen 8,20-22), Abrams1 (Gen 15), Abrahams (Gen 32,1-13) und Jakobs (Gen 31,53-54) ebenfalls nichts mit Sünde oder deren Sühnung zu tun.
Sobald man sich von der Vorstellung löst, Kain und Abel hätten mit ihren Opfern Sühnung für Sünde zu erlangen versucht, gibt es keine Grundlage mehr für einige der falschen Antworten.
1.2 Abel hat Fett geopfert
Die Übersetzungen geben umechelwehen in V. 4 in aller Regel so wieder, als habe Abel zusätzlich oder separat Fett geopfert:
„von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett“ (Elberfelder, Luther, ganz ähnlich Zürcher).
Das Fett spielt später in den Opfergesetzen eine besondere Rolle: Es gehört – wie das Blut – ausschließlich Gott und darf vom Menschen nicht gegessen werden (Lev 3,17; 7,23-27).
Dass Abel aber separat Fett geopfert hätte, ist weder von der Übersetzung her, noch aus theoretischen oder praktischen Gründen zu rechtfertigen
1.2.1 Inhaltlich nicht sinnvoll
„… und von ihrem Fett“: Im Deutschen ergibt diese Wiedergabe keinen vernünftigen Sinn. Das „ihrem“ bezieht sich auf „Erstlinge“ (im Sinn von „… und vom Fett der Erstlinge“): Umechelwehen hat das Personalsuffix der 3. Person Plural Femininum, und damit bezieht es sich auf bechoroth“Erstlinge“, ein feminines Nomen im Plural.
Abel hätte nach dieser Wiedergabe also das Fett dieser Erstlinge getrennt von ihnen dargebracht,2 jedoch nicht vollständig – eben nur „von ihrem Fett“. Er hätte also einen Teil des Fettes dargebracht und den Rest nicht.
Lässt man die klare grammatische Beziehung von „ihrem“ auf „Erstlinge“ außer Acht und bezieht es – was im Deutschen immerhin möglich wäre – auf „Herde“ (im Sinn von „… und vom Fett der Herde“), wird die Aussage nicht vernünftiger. In diesem Fall hätte Abel Erstlinge geopfert und noch zusätzlich und ausschließlich Fett von Tieren, die keine Erstlinge waren – aber nicht die Tiere selbst, sondern nur deren Fett, und das nicht vollständig – eben nur „von ihrem Fett“. Wie man es auch sieht, die Annahme, Abel hätte separat Fett dargebracht, wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet.
1.2.2 Theoretisch höchst fraglich
Gott verlangt nicht die Einhaltung von Opfergesetzen, die er erst später gegeben hat
Auch wenn das Fett in den Opfergesetzen eine wichtige Rolle spielt – Kain und Abel konnten um die Besonderheit des Fettes noch nicht wissen, weil Gott die Opfergesetze erst sehr viel später gegeben hat. Daher kann Gott die Erfüllung eines Details dieser Gesetze auch nicht verlangt haben. Es wäre ein merkwürdiger Gott, der die Menschen durch Versuch und Irrtum das richtige Opferverhalten herausfinden ließe!
Wenn man will, kann man natürlich annehmen, dass Abel doch irgendwie um die besondere Bedeutung des Fettes gewusst haben müsse – nur findet diese Hypothese keinen Anhalt in der Schrift, und es wäre nicht klar, warum nur Abel dieses Wissen gehabt haben sollte, oder ob auch Kain das Wissen gehabt, es nur nicht angewandt hätte.
Absolut unklar wäre auch, weshalb Abel im hypothetisch vorausgesetzten Wissen um die Bedeutung des Fettes dieses nur zum Teil dargebracht hätte („von ihrem Fett“). In den späteren Opfergesetzen wird festgelegt, dass das Fett komplett verbrannt werden musste. Wäre das Wissen Abels also unvollständig gewesen? Hätte Gott die Vorschriften, wie mit dem Fett der Opfertiere zu verfahren sei geändert? Warum? Auch diese Sicht wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet.
1.2.3 Praktisch fraglich
Aber nicht nur, dass Kain und Abel kein theoretisches Wissen über die besondere Rolle des Fettes haben konnten, es ist auch fraglich, ob Abel überhaupt Wissen über die tierischen Körpersubstanzen hatte.
Gott hatte den Menschen zunächst nur pflanzliche Nahrung gestattet.3 Da die Tiere Abels ihm nicht zur Nahrung dienten, hatte er auch keine Veranlassung, sie zu töten, und so dürfte er auch keine Kenntnis über die Beschaffenheit ihres Inneren gehabt haben. Und selbst wenn er verstorbene Tiere aus reiner Neugier seziert hätte, hätte er – lange vor der Offenbarung der mosaischen Opfergesetze – keinen Anhaltspunkt dafür gehabt, dass ausgerechnet das Fett für Gott eine bedeutendere Rolle spielte als etwa innere Organe wie das Herz.
So ist es also sehr fraglich, dass Abel auf die für seine Umstände perverse Idee gekommen sein sollte, ein Tier zu töten, dann gar aufzuschlitzen und ihm gezielt Fett zu entnehmen, um es Gott zu opfern.
Die in den letzten drei Abschnitten genannten Schwierigkeiten resultieren aus einer falschen Übersetzung von umechelwehen „und von ihrem Fett“. Wie dieser Ausdruck besser übersetzt werden kann, zeige ich im Abschnitt 5.2.
2 Falsche Antworten
2.1 Kain brachte Früchte des verfluchten Ackerbodens
Viele Ausleger sind schnell mit der Antwort bei der Hand: Das Opfer Kains war deshalb weniger wertvoll, weil er von den Früchten des Ackerbodens dargebracht hat, den Gott doch verflucht hatte.
Gott verfluchte den Ackerboden, nicht seine Früchte
Der Fluch Gottes über den Ackerboden hat aber nicht die Qualität dessen gemindert, was er hervorbringt. Der Fluch Gottes über den Ackerboden hat vielmehr bewirkt, dass es dem Menschen schwerer fällt, von seinen Früchten zu genießen; er muss härter arbeiten, um davon essen zu können:
„… so sei der Erdboden verflucht um deinetwillen: Mit Mühsal sollst du davon essen alle Tage deines Lebens; und Dornen und Disteln wird er dir sprossen lassen, und du wirst das Kraut des Feldes essen! Im Schweiße deines Angesichts wirst du dein Brot essen … „ (aus Gen 3,17-19).
Diese Worte reden klar von einer beträchtlichen Erschwernis bei der Gewinnung der Produkte des Ackerbodens durch den Fluch, nicht von einer Minderung ihrer Qualität.
Dieselbe Aussage findet sich in Gen 5,29:
„Und er gab ihm den Namen Noah, indem er sagte: Dieser wird uns trösten über unserer Arbeit und über der Mühsal unserer Hände von dem Erdboden, den der Herr verflucht hat.“
An keiner Stelle der Schrift wird angedeutet, dass der Fluch Gottes die Qualität der Produkte des Ackerbodens gemindert hätte.
Darüber hinaus schreibt Gott später in den Opfergesetzen unter den fünf Hauptopfern4 eines vor, das ausschließlich aus pflanzlichen Produkten besteht: das Speisopfer (Lev 2). Es ist nicht nachzuvollziehen, warum Gott nun Früchte des verfluchten Ackerbodens auf einmal nicht nur akzeptierte, sondern sogar vorschrieb.
2.2 Kain brachte ein unblutiges Opfer
Geht man von der Voraussetzung aus, dass Kain und Abel mit ihren Opfern Sühnung für Sünde gesucht hätten, dann ist man schnell bei der Antwort: Gott hat das Opfer Kains abgelehnt, weil er ein unblutiges Opfer gebracht hat – ohne Blutvergießen gibt es aber keine Sühnung für Sünde. Das wird in den Opfergesetzen über Sünd- und Schuldopfer (in Lev 4-7) deutlich, und auch das Neue Testament bestätigt:
„… und ohne Blutvergießen gibt es keine Vergebung“ (Hebr 9,22).
Haben Kain und Abel mit ihren Opfern wirklich Sühne für Sünde gesucht?
Selbst wenn nun die Voraussetzung, dass Kain und Abel mit ihren Opfern Sühnung für Sünde gesucht hätten, richtig wäre, bliebe immer noch das Problem, dass Gott die Opfergesetze erst sehr viel später gegeben hat – Kain und Abel konnten sie nicht kennen. Dementsprechend konnte Gott auch ihre Erfüllung nicht verlangen. Aber wie schon gezeigt, ist die Voraussetzung falsch, und damit auch alle Antworten, die sich davon ableiten.
3 Die Bezeichnung der Opfer: minchah
Das, was Kain und Abel darbringen, wird in den Versen 3-5 minchah genannt. Dieses Wort hat im AT verschiedene Bedeutungen:
3.1 Fachbegriff „Speiseopfer“
Im Kontext der mosaischen Opfer bezeichnet minchah als Fachbegriff an zahlreichen Stellen das „Speisopfer“ (Definition in Lev 2 und Lev 6,7-11). Diese Bedeutung kann hier aber nicht zutreffen, weil auch Abels Gabe – ein Tier – in V. 5 minchah genannt wird, was die Bedeutung „Speisopfer“ völlig ausschließt. Außerhalb dieses Kontextes hat minchah verschiedene Bedeutungen, die sich in drei Klassen einteilen lassen:5
3.2 Allgemeiner Oberbegriff für Opfer im mosaischen System
Im Rahmen des Tempelbetriebes bezeichnet es Opfer, wenn ganz allgemein oder unspezifiziert von ihnen gesprochen wird: 1Sam 2,17, 1Sam 26,19, 1Chr 16,29 = Ps 96,8, Mal 2,12-13, Mal 3,3-4.
Aufgrund des allgemeinen, unspezifischen Gebrauchs können diese Stellen nichts zur Frage beitragen, welche konkrete Bedeutung minchah bei Kain und Abel hat.
3.3 Bezeichnung für verordnete, geschuldete Abgaben: Tribut
In diesem Sinne wird der Ausdruck gebraucht in Ri 3,15.17-18; 2Sam 8,2.6 = 1Chr 18,2.6; 1Kön 5,1; 1Kön 10,25 = 1Chr 9,24; 2Kön 17,3; 2Chr 17,11; 2Chr 26,8; Ps 72,10; Hos 10,6.
3.4 Bezeichnung für eine freiwillige Gabe, ein Geschenk
Aus Dankbarkeit: 2Chr 32,22-23
Aus Ehrerbietung: Ri 6,18; 1Sam 10,27; 2Kön 20,12 = Jes 39,1; 2Chr 17,5; 2Kön 8,8-9; Jes 66,20; Zep 3,10.
Um den Empfänger gnädig zu stimmen: Gen 32;14-33; Gen 43,11.15.25-26; Ps 45,13.
4 Der Charakter der Opfer: Eine freiwillige Gabe
Aus der Untersuchung der Verwendung von minchah ergibt sich, dass wenn es nicht als Fachbegriff für das mosaische Speisopfer steht und auch nicht allgemein oder unspezifisch eine mosaische Opfergabe bezeichnet, es entweder für eine geschuldete, verordnete Abgabe oder für eine freiwillige Gabe gebraucht wird.
Im Fall von Kain und Abel gibt es nun keinen Anhaltspunkt dafür, dass ihre Gaben im Sinne eines Tributes verordnet oder geschuldet gewesen wären. Hätte Gott sie verordnet, hätte die Frage nach den Gaben gar nicht bestanden, weil er sie dann mit Sicherheit vorgeschrieben hätte. Auch wenn sie aufgrund einer uns völlig unbekannten Ordnung geschuldet gewesen wären, hätte seitens Kains und Abels sicher keine Unsicherheit über die darzubringenden Gaben bestanden.
Kain und Abel brachten Gott eine freiwillige Gabe, ein Geschenk
Somit bleibt als einzig plausible Möglichkeit, dass Kain und Abel Gott eine freiwillige Gabe, ein Geschenk dargebracht haben, wobei das eigentliche Motiv – Dankbarkeit für erwiesene Wohltaten, Ehrerbietung oder der Versuch der Erlangung seiner Gunst für die Zukunft – sich aus der Wortbedeutung von minchahnicht erschließt. Da die Gaben aber ausdrücklich mit ihren Berufen in Zusammenhang gebracht werden, liegt die Vermutung nahe, dass alle drei Komponenten eine Rolle spielten.
5 Die Gabe Abels
5.1 Erstlinge
Zunächst wird gesagt, dass Abel von den Erstlingen seiner Herde opfert. Er nimmt also nicht einfach irgendwelche Tiere, sondern wählt mit Bedacht Exemplare aus, die etwas Besonderes sind.6
5.2 … und von ihrem Fett
Die Übersetzung von umechelwehen mit „und von ihrem Fett“ ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie mechanisch-wörtliche Übersetzung den Sinn bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln kann.
Der Ausdruck umechelwehen besteht aus vier Teilen:
- dem Buchstaben waw „und“
- der Präposition min „aus, von“
- dem Substantiv chelew „Fett“
- dem Suffix der 3. Person Plural hen „ihr“.
5.2.1 „und“
Die erste Komponente, waw, hat die Grundbedeutung „und“. Im Deutschen verbindet man mit „und“ zunächst eine Erweiterung, eine Hinzufügung von etwas – im vorliegenden Fall, dass zu den Erstlingen noch etwas hinzukommt, nämlich Fett.
Das waw hat im Hebräischen aber außer dem kopulativen „und“, dem Ausdruck der Addition, noch andere Funktionen. Eine dieser anderen Funktionen wird in Sach 9,9 sehr deutlich:7
Dort heißt es vom König Zions, dass er komme rochew al-chamor we al-ajir, wörtlich: „… reitend auf einem Esel und auf einem Fohlen“. Im Deutschen ist diese Aussage so offensichtlicher Unsinn – man kann nicht gleichzeitig auf einem Esel und auf einem Fohlen reiten – dass die Übersetzungen das so nicht wiedergeben, nicht einmal die wörtlichsten.
Nicht: „auf einem Esel und einem Fohlen“, sondern: „Auf einem Esel, und zwar einem Fohlen”
Das waw hat hier nicht addierende, sondern erklärende Funktion (man nennt es daher in der Grammatik waw explicativum): Dem ersten Objekt („Esel“) wird nicht ein zweites Objekt („Fohlen“) hinzugefügt, sondern das erste Objekt wird durch das zweite genauer spezifiziert. Von dem Tier, auf dem der König reitet, wird gesagt, dass es ein Esel sei, und dann wird dieses Tier noch näher spezifiziert: Es ist kein erwachsener Esel, sondern ein Fohlen. Um den Sinn zu treffen, muss man im Deutschen etwas einfügen:
„… auf einem Esel reitend, und zwar auf einem Fohlen“.
In Mk 11,1-11; Lk 19,28-40 und Johannes 12,12-15, wo von der Erfüllung dieser Prophetie berichtet wird, ist konsequenterweise nur von einem Fohlen die Rede.8
Auch in umechelwehen wird das waw nun am besten als ein waw explicativum aufgefasst:9
Etwas Vorhergehendem („Erstlinge“) wird nicht etwas weiteres („Fett“) hinzugefügt, sondern das Vorhergehende wird genauer beschrieben. Geopfert werden nicht Erstlinge plus noch etwas Zusätzliches, sondern Erstlinge, die noch genauer beschrieben werden: „Erstlinge …, und zwar …“. In diesem Sinne übersetzen Menge und Herder.
5.2.2 „von ihrem Fett“
Mechelwehen, „von ihrem Fett“, ist also etwas, das die Erstlinge näher beschreibt. Menge und Herder, die diese Auffassung teilen, übersetzen diesen näher beschreibenden Ausdruck mit „Fettstücke“. Diese Wiedergabe, die mir nicht ganz einsichtig ist, soll wohl bedeuten, dass Abel nicht die ganzen Tiere, sondern nur „Fettstücke“ davon geopfert hätte.
Die wörtliche Übersetzung „von ihrem Fett“ und alle Ableitungen davon, die an die Körpersubstanz Fett denken lassen, sind an dieser Stelle aber irreführend dadurch, dass sie die Idiomatik von chelew „Fett“ nicht berücksichtigen.
Chelew kommt im AT 69 Mal vor10 und bezeichnet meist „Fett“ oder auch „Mark“ als Körpersubstanz. Es kann übertragen aber auch für „das Beste, das Vorzüglichste“ stehen (z. B. Gen 45,18; Num 18,29-32; Ps 63,6).11
Besonders aufschlussreich für unsere Frage ist Num 18,12. Wörtlich übersetzt heißt es dort:
„Alles Fett des Öls und alles Fett des Mostes und Getreides, ihre Erstlinge, die sie dem Herrn geben – dir habe ich sie gegeben“.
Dass Öl (!), Most und Getreide kein Fett haben, das getrennt von diesen Gütern dargebracht werden könnte, ist unmittelbar einsichtig. Dieser Vers, der weniger wörtlich, aber dafür inhaltlich korrekt mit „Alles Beste vom Öl und alles Beste vom Most und Getreide, ihre Erstlingsgabe …“ wiedergegeben werden sollte, macht eine Aussage über die Erstlingsgaben, die das Volk abliefern musste: das Beste, Vorzüglichste der genannten Güter sollte gegeben werden (ähnlich Ps 81,17 und 147,14, „Fett des Weizens“).
5.2.3 Doppelt ausgezeichnet
Die Gabe Abels ist in doppelter Hinsicht ausgezeichnet
Die Gabe Abels ist also in doppelter Hinsicht ausgezeichnet:
- Sie ist von den Erstlingen seiner Herde genommen
- Von den Erstlingen sind es darüber hinaus auch noch die besten Exemplare
Ich habe bisher nur eine einzige Übersetzung gefunden, die unsere Stelle in diesem Sinn übersetzt:
„er nahm dafür die Besten von den erstgeborenen Lämmern seiner Herde“ (Gute Nachricht Bibel).12
6 Die Gabe Kains
Von Kain wird gesagt:
„… da brachte Kain von den Früchten des Ackerbodens dem Herrn eine Opfergabe.“
Für sich allein betrachtet – ohne Berücksichtigung des Kontextes – ließe sich aus dieser Information nicht viel ableiten. Es wäre nicht möglich, eine Aussage über die Qualität seiner Gabe zu machen. Nun ist es aber ein bewährter exegetischer Grundsatz, den Kontext, in der eine Aussage steht, sehr genau zu beachten. Das führt uns zu einem unmittelbaren Vergleich mit der Gabe Abels.
7 Vergleich der Gaben
Wenn man also den Kontext berücksichtigt, in dem die Aussagen über die Gaben Kains und Abels stehen, ist es kein argumentum e silencio, wenn man feststellt, dass die doppelt ausgezeichnete Gabe Abels wesentlich hochwertiger war als die nicht näher spezifizierte Gabe Kains:
Abel brachte das Wertvollste, das er nur auswählen konnte, Kain dagegen lediglich irgend etwas „von den Früchten des Ackerbodens”
Abel brachte das Wertvollste, das er nur auswählen konnte, Kain dagegen lediglich „von den Früchten des Ackerbodens“.
Dass Gott später im Gesetz einmal Anspruch auf die Erstlinge des Ackers erheben würde (Ex 23,19), konnte Kain natürlich noch nicht wissen. Man kann ihm schlecht vorwerfen, ein Gesetz gebrochen zu haben, das er noch gar nicht kennen konnte. Aber dass man, wenn man Gott eine Gabe bringt (egal ob aus Dankbarkeit, aus Ehrerbietung oder gar als Versuch der Erlangung seiner Gunst), das Beste nimmt, was man hat – diese Herzenshaltung kann man, und konnte damals Gott, auch von Kain erwarten.
Abel hat also eine Gabe gebracht, die in den Augen Gottes wohlgefälliger war als die Kains. Diese Sicht wird auch vom Neuen Testament bestätigt:
„Durch Glauben brachte Abel Gott ein besseres Opfer dar als Kain“ (Hebr 11,4).
8 Schlussfolgerung
Somit ist Gottes Ablehnung der Gabe Kains das Urteil über deren Minderwertigkeit. Sie war – im Gegensatz zu derjenigen Abels, der das Beste gab, was ihm zur Verfügung stand – nicht tauglich für den angestrebten Zweck, Gott zu danken, ihn zu ehren oder ihn um seine weitere Gunst zu bitten.
Die Botschaft der Opfer Kains und Abels ist „Für Gott nur das Beste!“ Dieses Prinzip finden wir in den Opfergesetzen (Lev 1-7) wieder: Dort wird mehrfach betont, dass die Opfertiere völlig makellos sein mussten. Dasselbe Prinzip finden wir, wenn es um die Erlösung des Menschen geht: das Opfer, das die Sünde sühnte, musste das Beste sein, was verfügbar war – Gottes eigener Sohn. Alle menschlichen Werke und Leistungen hätten nichts bewirkt.
„Für Gott nur das Beste!“ heißt es auch für uns, wenn wir den Herrn ehren wollen – das Beste unserer Kraft und unserer Zeit, ja wir selbst sollen Ihm geweiht sein:
„Ich ermahne euch nun, Brüder, durch die Erbarmungen Gottes, eure Leiber darzustellen (Anmerkung: „Darstellung“ ist der Fachbegriff für den ersten Schritt des Opferrituals) als ein lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer, was euer vernünftiger Gottesdienst ist.“ (Röm 12,1-2)
9 Literatur und Software
- Wilhelm Gesenius, Frantz Buhl. Hebräisches und Aramäisches Handwörterbuch über das Alte Testament. Berlin, Göttingen, Heidelberg: Springer, 1962 (Nachdruck der 17. Auflage von 1917).
- Carl Friedrich Keil. Genesis und Exodus. Gießen, 1983 (Nachdruck der 3., verbesserten Auflage von 1878).
- Theodor Zahn. Das Evangelium des Matthäus. Wuppertal: Brockhaus, 1984 (Nachdruck der 4. Auflage von 1922).
- BibleTime 1.2.2 (http: //www.bibletime.info).
Eigentlich kein Opfer im gängigen Sinne, sondern das Ritual eines Bundesschlusses. ↩
Auf welche Weise diese Darbringung erfolgte, steht nicht im Text; man wird jedoch davon ausgehen dürfen, dass Kain und Abel ihre Gaben verbrannt haben. ↩
Gen 1,29. Das änderte sich erst nach der Sintflut, Gen 9,3. ↩
Zusammen mit Brandopfer, Friedensopfer, Sündopfer und Schuldopfer. ↩
Im Folgenden sind alle Stellen, an denen minchah nicht als Fachbegriff für „Speisopfer“ verwendet wird, vollzählig aufgeführt. ↩
Dass Gott einmal festlegen wird, dass alle erstgeborenen Tiere ihm gehören (Ex 34,19), konnte Abel natürlich noch nicht wissen. ↩
Gesenius/Buhl nennt im Artikel zu waw unter 1.d) die weiteren Stellen Am 4.10, Pred 8.2, Dan 1.3, Jer 15.13 und andere. ↩
In Mt 21,1-11 ist jedoch die Rede von einer Eselin und ihrem Fohlen, und Matthäus gibt in V. 5 im Griechischen den Wortlaut des hebräischen Grundtextes sehr wörtlich wieder – einschließlich epi onon kai dpi poolon für rochew al-chamor we al-ajir. Das mag daher kommen, dass „der Umstand, dass die Jünger nach der Vorhersagung Jesu in Bethphage eine angebundene Eselin und ein noch nicht zur Arbeit verwendetes, noch der Mutter nachlaufendes Füllen gefunden und zu Jesus gebracht haben, in seiner buchstäblichen Übereinstimmung mit der poetischen Form jenes Prophetenwortes dem Leser zeigen soll, dass nicht blinder Zufall, sondern Gott, dessen Geist die Propheten lehrte, das Kleine wie das Große in der Geschichte Jesu gelenkt und gefügt hat.“ (Zahn, 618). ↩
So fassen das meines Wissens alle Ausleger auf, die sich die Mühe machen, darüber nachzudenken; z. B. Keil, 83. ↩
BibleTime, Suche nach Strong-Nr. 02459. ↩
Vergleiche auch den deutschen Ausdruck „fette Beute“ und die Verwendung von „fett“ in der Jugendsprache, wenn Vorzüglichkeit ausgedrückt werden soll. ↩
Nicht zu verwechseln mit Die Gute Nachricht. Die Gute Nachricht Bibel von 1997 ist eine gründliche Revision der ersteren, die aus dem Jahr 1977 stammt. ↩