ThemenEhe und Familie, Ethische Themen

Verantwortliches Christsein in Politik und Gesellschaft

Verantwortungsträger in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind sich einig in der Notwendigkeit eines eindeutigen christlichen Engagements. Dabei wird besonders auf die Orientierungs- und Wertkrise unserer modernen Gesellschaft hingewiesen, in der die christlichen Grundwerte verstärkt gefragt sind.

Lesen Sie auch Teil 2 und Teil 3 dieser Vortragsserie.

1. Christliches Engagement ist gefordert

Die Einstellung und das Verhalten der Christen wird durchaus als staatsstabilisierend geschätzt:

„… Auch wer die Glaubenslehre der christlichen Kirche nicht teilt, wird ihre herausragende Rolle in einer politischen Ordnung, die auf dem Fundament allgemeinverbindlicher Grundwerte ruht, anerkennen müssen. … Es ist die Aufgabe der Kirchen, in einer säkularisierten Welt die Frage nach einer den Staat und die Gesellschaft übersteigenden Wirklichkeit, nach der letzten Sinngebung menschlicher Existenz zu stellen. Auf diese Weise erinnert sie stets auch daran, dass irdischer Macht Grenzen gesetzt sind, die niemand überschreiten darf. Es gibt grundlegende sittliche Gebote, die auch die staatlichen Institutionen verpflichten. Es ist nicht etwa nur das Recht, sondern es ist die Pflicht der Kirchen, darauf immer wieder hinzuweisen.“1

Einhellig werden aber von den selben Vertretern der Gesellschaft alle konkreten Forderungen, die sich auf den christlichen Glauben berufen als unzulässige Grenzüberschreitung zurückgewiesen.

So „muss freilich auch darauf hingewiesen werden, dass Staat und Gesellschaft nicht in der Lage sind, ‚Ethos pur‘ zu verwirklichen. Politik ist immer nur die Kunst des Möglichen. Anders als die Kirche, die sich auf ‚letzte Wahrheiten‘ berufen kann, lebt sie vom Ethos des Kompromisses.“2

Auch wichtige Kirchenvertreter befürworten einen christlichen Beitrag in der Gesellschaft.

„Die Kirche darf jedoch die Frage nach dem Woher und Wohin, nach dem Sinn der Welt und des Kosmos nicht preisgeben. Gegenüber dem Funktionieren der … Wirtschaft und Politik, erscheint sie deshalb immer wieder als ein notorischer Störfaktor.“3

Selbst die eher durch die täuferisch pietistische Zurückhaltung, öffentlichen Angelegenheiten gegenüber, geprägten Evangelikalen scheinen sich zunehmend ihres gesellschaftlichen Auftrags bewusst zu werden. Dazu haben einzelne engagierte Christen, Tagungen und Konferenzen, wie Lausanne I. (1974) und der Druck der säkularen Umwelt beigetragen.

Wie zu allen Zeiten gibt es auch in diesem Jahrhundert zahlreiche Beispiele für ein gesellschaftliches Engagement bekennender Christen in der Gesellschaft. In diesem Zusammenhang sind Politiker wie Christoph Blumhardt (Würtemberg), Abraham Kuyper (Niederlande), Jimmy Carter (USA), Johannes Rau (Nordrhein Westfalen), Horst Waffenschmidt (Deutschland), Ernst Sieber (Schweiz), Unternehmer wie Hans Gerhard Frick, Heinz- Horst Deichmann oder Jörg Knoblauch, Künstler wie Amy Grant, Cliff Richard oder John Grisham, sowie unzählige weniger bekannte Christen in wichtigen öffentlichen Positionen zu nennen.

2. Biblische Grundsätze zum gesellschaftlichen Engagement der Christen

a. Im Alten Testament

Im Alten Testament finden wir eine klare Trennung zwischen dem religiösen und dem profanen Bereich

fallen Volks- und Religionszugehörigkeit zusammen, sodass eine stetige gegenseitige Beeinflussung stattfindet. Trotzdem finden wir eine klare Trennung zwischen dem religiösen und dem profanen Bereich, die den Glauben von der Beeinflussung des Staates weitgehend befreien soll. Diese Trennung zeigt sich im personellen Bereich, dass der Herrscher nicht gleichzeitig religiöses Oberhaupt ist (1Chr. 29,22), im rituellen Bereich, dass der Herrscher normalerweise keine gottesdienstlichen Handlungen ausführen soll (2Chr.26,17) und im rechtlichen Bereich, dass die Priester eine gesellschaftliche Sonderstellung genießen (4Mo 18; 5Mo 18,1-8) und teilweise als Berater des Königs fungieren (2Kö 12,3). Aufgrund dieser Art von Gewaltenteilung konnte der jüdische Glaube in den unterschiedlichen Staatsformen Israels (Propheten, Richter, Könige), im Exil (Ägypten, Babylon, Assyrien) und in der nachneutestamentlichen Zerstreuung überleben.

Die Absicht, aus der gesellschaftlichen Ordnung Israels eine Demokratie ableiten zu wollen, geht wahrscheinlich von einer zu stark neuzeitlich geprägten Sichtweise aus. Zwar finden sich im Alten wie auch im Neuen Testament einzelne Entscheidungen, die als demokratische Abstimmungen verstanden werden können (1Sam 12,13; 14,45), stärker jedoch tritt bei den alttestamentlichen Herschern das dynastische Denken hervor (1Kö 11,43; 14,20+31), der älteste Sohn wird der nächste König. Darüber hinaus geht der Gedanke der Erwählung und Berufung durch Gott (1Sam 16,12; Röm 1,1; 8,28), z. T. durch einen stellvertretenden Propheten (1Sam 10,17-19) einer Einsetzung oder Bestätigung durch das Volk oder die Gemeinde meist voraus. Die ideale, von Gott bestimmte Staatsform, scheint eine Art von Theokratie zu sein, in der sich jeder Einzelne nach den Gesetzen Gottes richtet (Ri 17,6; 21,25) und Gott bei Bedarf das ganze Volk durch Propheten (geistlich, 1Sam 3,19ff.) oder Richter (militärisch und rechtlich, Ri 6,14; 10,1ff.) führt (so in der Wüstenwanderung und der Richterzeit). Obwohl Gott die von Israel gewünschte Monarchie ablehnt (1Sam 8,6-9), wirkt er später doch durch sie, um sein Volk zu leiten. Das Bild des Königtums wird dann sogar auf Gott (Ps 10,16; 29,10) und Jesus Christus (Off 17,14) übertragen.

Nicht das Regierungssystem, wohl aber die Bindung an die Gebote Gottes ist für den Aufbau des Staates entscheidend

Wenn auch der Staat nicht von einer religiösen Organisation bestimmt wird, muss er sich doch den Geboten Gottes unterstellen. Die staatliche Gesetzgebung ist deshalb immer religiös begründet. Ausserdem werden ihre Einzelentscheidungen durch religiöse (2Mo 22,19; 23,14-19), soziale (2Mo 21,1ff.; 22,20ff.), familiäre (5Mo 6,6ff; 21,10-23), juristische (2Mo 21,12ff.) und wirtschaftliche (2Mo 22,24) von Gott gegebene Rahmengesetze bestimMt Weicht der Herrscher von dieser „Verfassung Gottes“ ab, wird er von einem Beauftragten Gottes (Propheten) ermahnt oder verliert seine Legitimität (2Kö 21,10f; 2Sam 12,1ff.). Aufgrund des Wechsels der Staatsform und der Beobachtung, dass Gott auch fremde Völker gebraucht, um seinen Willen durchzusetzen (Hes 23,22-25; 26,3) müssen wir annehmen, dass nicht das Regierungssystem, wohl aber die Bindung an die Gebote Gottes für den Aufbau des Staates entscheidend ist (Ps 99,4; Spr 29,18).

Die von Gott gewollten gesellschaftlichen Pflichten des einzelnen Bürgers richten sich nach den Forderungen des jeweiligen Staates, die trotz Ungerechtigkeit nicht in Frage gestellt werden (2Mo 5; Dan 2,11ff.; Mt 5,40ff.), soweit sie nicht religiöse Verpflichtungen betreffen (Dan 1,8; 3). Im Israel der Königszeit gehören dazu die Teilnahme an dem vom Herrscher unabhängigen lokalen Rechtsprechung (5Mo 22,18; 1Kö 21,9-12), die Bereitschaft zum Wehrdienst, das Zahlen der Steuer (1Sam 8,10-18), die Pflege und das Einhalten der wirtschaftlichen, familiären und sozialen Gesetze, sowie der Beitrag zum Erhalt und zur Verbesserung der bestehenden Staatsordnung (Jer 29,7; 1Tim 2,2). Darüber hinaus beruft Gott einzelne Menschen in verantwortungsvolle politische und gesellschaftliche Positionen und das selbst in gottlosen Staaten wie Ägypten (Joseph), Babylon/Persien (Daniel) oder Persien (Mordochai). Das ist für Rückschlüsse in unsere gegenwärtige Situation um so wichtiger, da auch wir in säkularisierten, gottfernen Staaten leben, in denen die Glaubenden eine Minderheit sind.

Wenn wir aus dem bisher Gesagten, entsprechend dem generellen, von historischen Einzelsituationen losgelösten, Willen Gottes bezüglich der Stellung des Glaubenden zum Staat Schlüsse für heute ziehen, müssen wir festhalten:

  1. Kirche und Staat sollen getrennt sein!
  2. Gott wirkt in und durch unterschiedliche Staatsformen!
  3. Jeder Staat bekommt seine Legitimation durch Gott!
  4. Der Staat soll in seiner Gesetzgebung die Ordnungen Gottes berücksichtigen und muss von ihnen aus beurteilt und ermahnt werden!
  5. Die Ordnungen Gottes betreffen jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens, nicht nur die Politik!
  6. Unabhängig von der momentanen Staatsform soll der Glaubende den Gesetzen Folge leisten, sofern sie nicht der klaren Anordnung Gottes widersprechen!
  7. Der Glaubende kann und soll sich auch in einem gottfernen Staat konstruktiv und zuverlässig an der staatlichen Arbeit beteiligen, soweit die einzelnen Handlungen mit der Ordnung Gottes vereinbar sind!

b. Im Neuen Testament

Die Grenzen des Gehorsams gegenüber dem Staat sind erreicht, wenn dieser die Ausbreitung des Evangeliums verhindern will, die Überschreitung eines Gebotes Gottes fordert oder sich die Stellung Gottes anmaßt

wird keine systematische Staatslehre entwickelt, selbst ein Spezialausdruck für Staat fehlt. Obwohl das Wort „polis im Neuen Testament 161 mal vorkommt, wird es an keiner Stelle im politischen Sinn gebraucht. Aus einzelnen Stellungnahmen zu aktuellen Fragen lassen sich jedoch Grundmuster christlichen Verhaltens zu Staat und Gesellschaft aufzeigen. Prinzipiell gilt die Unterordnung unter den Staat als von Gott gegebener Ordnungs- und Schutzeinrichtung, die den Bösen bestraft und den Guten bewahrt (Röm 13; 1Pt 2,13-15). Der Gehorsam gilt auch einem nichtchristlichen Staat gegenüber (1Pt 2,13-14) und drückt sich im Zahlen der Steuer, Halten der Gesetze (Mk 12,17) und dem Gebet für die Obrigkeit aus (1Tim 2,2). Es wird auch nicht ausgeschlossen, dass ein politisch Verantwortlicher Christ werden könne oder ein Christ eine gesellschaftlich wichtige Rolle innehaben könne (Apg 10,22; 13,12; 26,24-32). Die Grenzen des Gehorsams gegenüber dem Staat sind erreicht, wenn dieser die Ausbreitung des Evangeliums verhindern will, die Überschreitung eines Gebotes Gottes fordert (Apg 5,29; 4,19)oder sich die Stellung Gottes anmaßt (Mk12,17; 1Pt 2,17). Trotz der angekündigten Verfolgung um des Glaubens willen (Mt 5,11f; 10,17-26; 24,9; Offb 13,1ff.) und einer vom christlichen Standpunkt bedenklichen Praxis, z.B. bei der Sklaverei (Eph 6,5-8; Philemon 10-18), werden die Christen nicht von der Unterordnung unter diesen Staat entbunden. Christen sollen darüber hinaus nicht nur als gesetzestreue Bürger leben, sondern als ethisch und moralisch vorbildliche Menschen auffallen (Röm 12,17-21; Gal 6,9f; Eph 4,1-3; .4,8; 1Pt 2,12). Ziel des politischen Einsatzes kann keinesfalls eine revolutionäre Veränderung sein, sondern soll optimale Bedingungen zur Verkündigung des Evangeliums und das Führen eines friedlichen, vom Glauben bestimmten Lebens ermöglichen. Trotz dieses gesellschaftlichen Engagements dürfen die Gläubigen nie den Blick auf das Reich Gottes und ihre himmlische Bürgerschaft verlieren (Phil 3,20). Deshalb sollen sie auch nicht leben, wie die sie umgebende Welt es tut (Gal 5,19ff; 2Pt 1,4).

Die Gemeinde als Organisation übt keinen Einfluss auf den Staat aus

Deutlich wird im Neuen Testament aber auch, dass obwohl die Ordnung des Staates auf den Geboten Gottes ruht, die Gemeinde als Organisation keinen Einfluss auf den Staat ausübt, selbstverständlich ausser ihrer blossen Existenz und dem Vollzug ihres Glaubens. Der sichtbare Beitrag der Christen zur Gesellschaft liegt im verbalen Zeugnis des Glaubens und im ethisch vorbildlichen Leben. Eine Veränderung des ganzen Staates wird an keiner Stelle angedeutet und die Konflikte mit den jüdischen und römischen Staatsvertretern betreffen keine politischen Programme, sondern vor allem individuelle auf den Glauben bezogene Verhaltensweisen. In der Bergpredigt wird das Verhältnis des Christen zum Staat gar nicht angesprochen, statt dessen geht es Jesus in erster Linie um das geistliche Leben seiner Jünger und dessen unmittelbare Auswirkungen. Dass solche Forderungen nicht willkürlich auf andere soziale Beziehungen angewandt werden dürfen, zeigt das Verhalten Jesu (Mt 21,12) und die speziellen Ordnungen für die Verhältnissse in der Gemeinde (1Kor 14,34f), zum Arbeitgeber (Eph 6,5-9) oder in der Familie (Eph 5,22-33).4

c. Folgerungen

Nachdem wir den recht eindeutigen biblischen Befund bezüglich dieser Fragen zur Kenntnis genommen haben, sollten wir ausserdem berücksichtigen, dass es zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich ist, sich in Deutschland nicht gesellschaftlich zu engagieren, es sein denn wir ziehen uns unter absolutem Ausschluss jeder Leistungen von oder an die Gesellschaft in eine Kommune zurück. Zum einen ist die Politik nur einer, der das gesellschaftliche Leben bestimmenden Faktoren, der aufs engste mit Wirtschaft, Medien, Kirche, Kunst und Familie verbunden ist5 und durch sie beeinflusst wird. Zum anderen bestimme ich schon durch meine politische Wahl, durch meine wirtschaftlichen Kaufentscheidungen, durch den Konsum eines Fernsehprogramms oder eine Meinungsäußerung zu einem Nachbarn, durch die Inanspruchnahme eines Krankenhauses oder Stadtbusses die Gesellschaft Stück für Stück mit. Selbst der Nichtwähler gibt durch seine Nichtwahl ein politisches Signal und unterstützt die bestehenden Verhältnisse. Es ist ein Missverständnis anzunehmen, gesellschaftlicher Einfluss begänne erst bei dem Bekanntheitsgrad eines Popstars wie Michael Jackson oder der Stellung eines Bundeskanzlers. Durch die unzähligen Angebote der modernen Gesellschaft werden wir fortwährend vor Entscheidungen gestellt, die gesellschaftliche und auch politische Auswirkungen haben: Wenn ich ein Auto kaufe beeinflusst das die Umwelt- Wirtschafts- Verkehrs- und Arbeitspolitik, meine Entscheidung für eine Fernsehsendung beeinflusst die Medienpolitik und die Bedeutung des dargestellten Trends für die Gesellschaft. – Vielbeachtete Themen werden immer wieder aufgegriffen, sodass sie verstärkt beachtet werden und Menschen zusätzlich beeinflussen, Sendungen mit viel negativer Resonanz abgesetzt. –

Diese Ausführungen haben deutlich werden lassen, dass

Selbst der Nichtwähler gibt durch seine Nichtwahl ein politisches Signal und unterstützt die bestehenden Verhältnisse

  1. sich die Christen der Vergangenheit ihrer gesellschaftlichen Herausforderung bewusst waren,
  2. sowohl im Alten als auch im Neuen Testament passives und aktives politisches Engagement gefordert werden und
  3. es in einer modernen Gesellschaft unmöglich ist, sich aus gesellschaftlicher Verantwortung herauszuhalten.

3. Was sollen Christen konkret machen?

Nachdem wir festgestellt haben, dass wir in jedem Fall an der gesellschaftlichen Verantwortung teilnehmen, stellt sich die Frage, welche konkreten Entscheidungen wir als Christen fällen sollten? Direkte Herausforderungen zum Handeln gibt es viele. Christliche Bürgerinitiativen und Vereine vertreten besondere Einzelanliegen, Christen nehmen in Büchern, Vorträgen oder in ihrer Funktion als institutionelle Vertreter Stellung zu gesellschaftlichen Entwicklungen, Unternehmer bemühen sich biblisches Gedankengut in ihre wirtschaftlichen Überlegungen einfließen zu lassen, christliche Berufsverbände versuchen sie darin zu unterstützen und einzelne Christen tun ihre Meinung durch private Äußerungen und alltägliche Entscheidungen kund.

In der Bibel finden wir, wie für jeden anderen Lebensbereich, recht konkrete Angaben über ein geistlich gefordertes gesellschaftliches Engagement. Für unser politisches Verhalten finden wir zum Beispiel folgende Prinzipien:

Der Christ soll den Forderungen des Staates voll entsprechen, es sei denn sie widersprechen dem christlichen Glauben offensichtlich

1. Vorbild: Der Christ soll ein über die Minimalforderungen des Staates hinausgehendes, auf den Ordnungen Gottes beruhendes Leben führen, das anderen Menschen zu einem Hinweis auf Gott wird. Er soll den Forderungen des Staates voll entsprechen, es sei denn sie widersprechen dem christlichen Glauben offensichtlich. Er sollte sich in seinem Auftreten anderen Menschen gegenüber, im Berufsleben, in seinem sozialen Engagement und der Gestaltung der Freizeit Vorbild sein (Röm 12,17-21; 1Pt 2,12).

2. Kommentar: Der Christ soll zustimmend oder kritisch seine, aus der Bibel begründete Stellungnahme, zu einer aktuellen Entscheidung oder Praxis abgeben (Jes 1,1-17; Apg 17,16). Das kann im persönlichen Gespräch, durch Leserbriefe und Anrufe an die Medien oder in der Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Stellung stattfinden.

3. Unterstützung: Der Christ soll den Staat über das gesetzlich geforderte Mass hinaus unterstützen soweit er sich für die Umsetzung christlicher Ethik einsetzt (Jer 29,7; 1Tim 2,2). Das kann in öffentlicher Meinungsäusserung, Kundgebungen, Publikationen, Unterschriftensammlungen und im Wahlverhalten ausgedrückt werden.

4. Recht: Der Christ soll den Streit unter Glaubensgeschwistern intern beilegen, Glaubensgegnern oder dem Staat gegenüber aber die juristischen Möglichkeiten ausschöpfen, um biblischen Werten und christlichen Interessen zum Durchbruch zu verhelfen (Lk 18,1-8; Apg 22,25). Dazu gehören z.B. Fragen um die Anerkennung evangelikaler Ausbildungsgänge, finanzieller Unterstützung christlicher Initiativen, Anerkennung als Köperschaft des öffentlichen Rechts, Verfassungsklagen gegen Abtreibungsfälle, Klage wegen Blasphemie, usw.

5. Protest: Der Christ sollte in der Bundesrepublik die legalen Möglichkeiten nutzen, um seinen Protest an Gesetzen und Handlungen effektiv zu äußern (Jer 16; 19; Hos 4,1-11). Dazu stehen ihm persönliche Gespräche, Briefe an Medien, Bürgervertreter, Interessensverbände, den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages, Kaufboykott, Demonstrationen, Flugblätter, Bürgerfunk, Talkschows, öffentlichkeitswirksame Aktionen u.a. zur Verfügung.

6. Mitgestaltung: Der Christ sollte alle Möglichkeiten zur Mitbestimmung des gesellschaftlichen Lebens ausnutzen, die der demokratische Staat ihm durch politische und wirtschaftliche Partizipation gibt, dazu gehören neben den oben genannten Wegen der Meinungsäußerung direkte Einflussnahme durch Wahlen, aktiver Einsatz in der Politik, Bürgerbegehren, Bürgerentscheide, Mitarbeit in Initiativgruppen und Gewerkschaften, Betriebsrat, Aufsichtsrat, Anhörungen, über Verwaltungseingaben usw. (Est 7,1ff; Dan 6).

4. Wie kommen wir zu Entscheidungen?

Manche biblischen Gebote beziehen sich nur auf bestimmte Personengruppen oder einmalige Situationen. In vielen konkreten Sachfragen kann eine Entscheidung nicht unmittelbar aus der Bibel abgeleitet werden

Bevor jedoch heute die Durchsetzung eines konkreten Verhaltens gefordert werden kann, muss geklärt werden, welche Ordnungen Gottes in welcher Weise für unsere Zeit anzuwenden sind. Diesbezüglich müssen wir zuerst feststellen, dass sich manche biblischen Gebote nur auf bestimmte Personengruppen, gesellschaftliche Beziehungen, einmalige Situationen oder begrenzte Zeiten beziehen. Viele der alttestamentlichen Gesetze gelten insbesondere für den Bund Gottes mit Abraham oder sind auf die besondere Situation der nationalen Identität und das jeweilige politische System Israels oder die Herrschaft Gottes im tausendjährigen Reich bezogen (z.B. Regelungen über Feste, Königswahl, Erbe, Opfer usw.). Solche Gebote werden allerdings immer deutlich als zeitlich oder regional begrenzt gekennzeichnet (2Mo 16,23-30) oder im Neuen Testament abgeschlossen (Apg 10,9-16). Andere Gesetze wie die zehn Gebote werden im Neuen Testament aufgegriffen und bestätigt (Mt 5,17ff; Röm 13,8-13), sodass eine gegenwärtige Gültigkeit nicht in Frage stehen dürfte. Doch auch die begrenzt gegebenen Ordnungen wie die Zeremonialgesetze oder Bestimmungen über das Sammeln des Manna lassen Rückschlüsse auf allgemeine Prinzipien des Handelns Gottes zu. So lässt sich die genannte Beschränkung des Mannasammelns beispielsweise mit dem Verbot des Sorgens und der dahinter stehenden Aufforderung zur bewussten Abhängigkeit Gott gegenüber verbinden (Mt 6,25-34). Generell muss aber festgehalten werden, dass die Gesetze Gottes dauerhafte Gültigkeit haben, also auch für gegenwärtige politische Entscheidungen herangezogen werden müssen (Ps 111,7-8; 119,160; Mt 5,18f.6

In anderen Bereichen, vor allem in konkreten Sachentscheidungen wie „Soll die Rente um 2,3 oder 2,4 % angehoben werden?“, „Welche Ausgaben der Weiterbildung dürfen steuerlich abgesezt werden?“ oder „Sollte auf einer Bundesstrasse nur 80 km/h gefahren werden?“ kann eine Entscheidung nicht unmittelbar aus der Bibel abgeleitet werden.

Trotzdem gilt es auch hier in der Verantwortung vor Gott Stellung zu beziehen. Bezogen auf diese Einzelentscheidungen gibt es keine christliche Politik, sowenig es eine christliche Bäckerei oder eine christliche Raumfahrt gibt. Natürlich gelten in diesen konkreten Entscheidungen die göttlichen Gebote und Grundwerte als Fundament einer Entscheidung, die letztliche Wahl muss aber von der durch Gott bestimmten Vernunft und den gegebenen politischen Verhältnissen und Möglichkeiten abhängig gemacht werden. Insofern schaffen die gesetzlichen Möglichkeiten des konkreten Staates die Wirklichkeiten der christlich politischen Entscheidungen. So ist die Wahl oder der Bürgerentscheid in der modernen Demokratie eine vor Gott legitime und gegebenenfalls geforderte Möglichkeit christlicher Meinungsäusserung und staatlicher Korrektur, kann aber in einer, diese Verfahren ablehnenden Monarchie zu unterlassen sein. Wenn Paulus den Sklaven Onesimus wieder zu seinem Herren zurückschickt und damit die Sklaverei an sich toleriert, bedeutet das nicht, dass wir in einem Staat, der die Möglichkeit zur Ablehnung der Sklaverei und zum rechtlichen Vorgehen dagegen bietet, Sklaverei weiterhin akzeptieren sollten. So richtet sich die Wirklichkeit christlicher Politik auch nach den durch den Staat gegebenen Möglichkeiten. In diesen Zusammenhang gehörte auch Bonhoeffers Aufforderung die Verantwortung für eine Entscheidung auf sich zu nehmen, auch wenn dadurch die Möglichkeit besteht, durch eine sich später als falsch herausstellende Entscheidung, Schuld auf sich nehmen zu müssen.

Für die konkrete Umsetzung göttlicher Gebote ist darauf zu achten, dass wir in einem Staat leben, in der sich die Mehrzahl der Bürger nicht nach der Bibel zu richten bereit ist – im Gegensatz zur Frühphase Israels oder dem „Gottesstaat“ Calvins. Unsere Situation ist also eher mit der Israels im babylonischen Exil (Daniel), im Römischen Reich oder in Persien (Mordochai) zu vergleichen. Dabei fällt auf, dass in keiner dieser Situationen religiöse und gesellschaftliche Maximalforderungen gestellt wurden, sondern eine konstruktive politische Mitarbeit unter nichtchristlichen Umständen möglich war, soweit keine Beeinträchtigung des Glaubens vorlag. Das spricht zumindest in Fragen, die in der Bibel nicht detailliert geregelt sind, für die Möglichkeit von Kompromissen und für die politische Toleranz von der Bibel losgelöster Gesetze für „gottlose“ Menschen. Zwei Beispiele für eine konkrete Entscheidungsfindung sollen das zum Schluss verdeutlichen:

Korrupte Handlungen sind nicht nur verboten, sie zerstören die gute Ordnung Gottes und werden deshalb von Gott verflucht.

1. Korruption: Korruption ist weltweit eines der gravierendsten wirtschaftlichen Probleme. Vertrauen wird zerstört, reale Konkurrenz unterbunden, neue Initiativen abgewürgt und das Rechtswesen erschüttert. Der lateinische Begriff corrumpere meint „die gute Beschaffenheit von etwas zerstören“ und lässt sich nahtlos auf die biblische Bewertung beziehen, nach der korrupte Handlungen nicht nur verboten sind (2Mo 23,8), sie berauben andere Menschen (Mi.2,1ff), gefährden Leben (Hes.22,27f.), kommen aus der Habgier der Menschen (Jes.6,13; Hab.2,9), sie zerstören die gute Ordnung Gottes (Spr 29,12; Mi.3,1ff.), stellen sich gegen Gott (Spr 19,9; 17,23; 11,26), maßen sich göttliche Autorität an, werden deshalb von Gott verflucht (5Mo 27,25) und müssen schärfstens bestraft werden (Hes 18,6ff. Gott selber gilt vorbildlich als unbestechlich (5Mo 10,17).7 Damit sollte die private Stellung des Christen zur Korruption unzweifelhaft feststehen. Weil es sich hier aber nicht nur um private Schuld handelt, sondern um ein die Gemeinschaft der Menschen und die Grundlage eines geordneten Rechtssystems zerstörendes Verhalten, sollte genügend Grund sein, ein vehementes politisches und juristisches Vorgehen gegen Korruption zu rechtfertigen.

2. Flüchtlinge: Durch wachsende Mobilität, wirtschaftliche Verarmung und kriegerische Auseinandersetzungen sehen wir uns in Deutschland mit einer ständig anwachsenden Gruppe ausländischer Menschen konfrontiert, die hier leben und arbeiten wollen. Die Erinnerung an christliche Rechtfertigungsbestrebungen der Sklaverei oder der Apartheid sollten uns davon zurückhalten so pauschal zu urteilen wie Gerhard Becker es tut: „In den letzten Jahrzehnten hat der deutsche Staat entgegen seiner Aufgabe annähernd 10 Millionen Nichtdeutsche in unser Land aufgenommen. Hierdurch hat er dem eigenen Volk ungeheure Lasten auferlegt und Massenarbeitslosigkeit mitverursacht. Die Ansiedlung fremder Volksteile soll offensichtlich dazu beitragen, die von Gott eingerichtete Völkerordnung zu beseitigen (1Mo 11), denn die bislang völkisch einheitlich geprägte Einwohnerschaft wird in unserer Zeit durch eine internationale Bevölkerung ersetzt.“8 Demgegenüber müssen wir erst einmal festhalten, dass wir in der Bibel zahlreiche positive Beispiele des Verlassens der Heimat aus religiösen (Abraham 1Mo 12), wirtschaftlichen (Jakob 1Mo 42; 46) und politischen (David 1Sam 21,11ff; Maria und Joseph Mt 2,19ff) Gründen finden, in denen dieses Verhalten nicht verurteilt wird. Die neutestamentliche Gemeinde war sowieso multikulturell zusammengesetzt (Apg 6,1; Kol 3,11), ohne das Paulus zu einer Trennung der verschiedenen Nationalitäten auffordert. Ganz zu schweigen von den, in der Kirchengeschichte verfolgten Christen, wie den Hugenotten, Böhmen oder Salzburgern, die glücklicherweise in Deutschland Zuflucht erhalten haben.

Andererseits muss sich dieser Fremdling natürlich den staatlichen Ordnungen Israels unterwerfen.

Darüber hinaus gibt es klare Anweisungen darüber, dass ein Fremdling in Israel geschützt werden soll (5Mo 14,29; 16,11ff) und keinesfalls ungerecht behandelt werden darf (2Mo 22,20; Jer 7,6). Israel wird sogar aufgefordert den Fremdling, in der Erinnerung an seine eigene Zeit in Ägypten, zu lieben (5Mo 10,18f) und ihm gleiche Rechte zuzugestehen wie den anderen Israeliten (3Mo 24,22). Andererseits muss sich dieser Fremdling natürlich den staatlichen Ordnungen Israels unterwerfen (2Mo 20,10; 3Mo 24,16; 5Mo 29,9-12), ohne allerdings Jude werden zu müssen (5Mo 14,21). Da nach deutschem Grundgesetz nur die Ausländer eine Aufenthaltsbewilligung erhalten sollen, die aus religiösen oder politischen Gründen verfolgt werden, besteht Grund zur Kritik höchstens an der Umsetzung, Interpretation oder dem Umfang der Hilfe nicht aber generell an der Rechtsprechung.

Obwohl für die katholische Kirche formuliert, kann das Wort des Bischofs Karl Lehmann auch für evangelische Gläubige eine Warnung und Herausforderung sein:

„In dieser Situation braucht die Kirche jedoch den Mut, inmitten vieler Angebote auf dem Markt der Möglichkeiten unüberhörbar und unverwechselbar ihre eigene Stimme zu erheben. Wenn sie wirklich Salz der Erde und Licht der Welt bleiben will, dann darf sie sich nicht selbstmörderisch anpassen, darf den Widerspruch nicht scheuen. Sie muss, ob gelegen oder ungelegen, ihr Zeugnis vor der Welt abgeben.“9 „Denn das ist der Wille Gottes, dass ihr durch Gutestun die Unwissenheit der unverständigen Menschen zum Schweigen bringt, als Freie, aber nicht als solche, die die Freiheit als Deckmantel für die Bosheit benutzen, sondern als Sklaven Gottes. Erweist allen Ehre, liebt die Geschwister, fürchtet Gott, ehrt den König.“ (1Pt 2,16f.)

„Wie habe ich dein Gesetz so lieb! Täglich rede ich davon. Du machst mich mit deinem Gebot weiser, als meine Feinde sind, denn es ist ewiglich mein Schatz.“ (Ps 119,97f.)


  1. Helmut Kohl, Rede zum 50 jährigen Bestehen der Evangelischen Akademie Tutzing, in: Eichholz Brief. Zeitschrift zur politischen Bildung 4/97, S. 38. 

  2. Erwin Teufel, Worte für die Zukunft, in: Eichholz Brief. Zeitschrift zur politischen Bildung 4/97, S. 20. 

  3. Karl Lehmann, Braucht die Kirche eine neue Sozialform?, in: Eichholz Brief. Zeitschrift zur politischen Bildung 4/97, S. 85. 

  4. Zu den biblischen Aussagen bezüglich des Staates vgl. Thomas Schirrmacher, Ethik Bd.2; Neuhausen- Stuttgart 1994; S. 412-448; 780-889. 

  5. Vgl. Hans Maier, Art. Kirche und Gesellschaft, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres Gesellschaft, Freiburg 1987, Bd.3, Sp. 460-468. 

  6. Vgl. Thomas Schirrmacher, Ethik Bd.2; Neuhausen Stuttgart 1994, S. 48- 81. 

  7. Vgl. Paul Kleiner, Bestechung, Bern 1992(1) Karl Rennstich; Korruption – Eine Herausforderung für Gesellschaft und Kirche, Stuttgart 1990. 

  8. Gerhard Becker, Der Staat und die staatsbürgerliche Verantwortung des Christen, in: Regionale Informationen der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ Westfalen- Lippe, Nr.75 Mai 1998, S. 20. 

  9. Karl Lehmann; Braucht die Kirche eine neue Sozialform?, in: Eichholz Brief. Zeitschrift zur politischen Bildung 4/97, S.86