Wolf-Henning Ollrog1 hat einmal sehr treffend bemerkt, daß es sehr viele Untersuchungen über die Gegner des Paulus gibt, aber nur sehr wenige über seine Freunde und Mitarbeiter. Das ist umso erstaunlicher, als es in der Apostelgeschichte und in den Paulusbriefen viele Hinweise auf den engeren und weiteren Freundes- und Mitarbeiterkreis des Paulus gibt, ja die drei Pastoralbriefe ganz diesem Thema gewidmet sind.
In unserer heutigen Bibelarbeit kann es nicht darum gehen, alles, was über das Verhältnis von Paulus zu seinen Mitarbeitern und zu den entstehenden Gemeinden berichtet wird, systematisch zusammenzustellen, so lohnend das auch wäre. Es kann auch nicht darum gehen, aus dem vorhandenen Beispielen gewissermaßen einen unfehlbaren Maßnahmenkatalog zu erheben, den jede Missionsleitung und jeder Missionar nur in der Tasche zu tragen braucht, um gewappnet zu sein.
Stattdessen wollen wir einige wenige ausgewählte Situationen, die uns das Neue Testament im Dreieck von Paulus, seinen Mitarbeitern und den von ihm gegründeten Gemeinden schildert, daraufhin befragen, was sie uns über den Umgang von Paulus mit seinen Mitarbeitern zeigen. Unsere Frage soll also sein, welche Weisheit wir im Umgang untereinander aus dem Vorbild von Paulus und seinen Mitarbeitern gewinnen können.
Menschliche Beziehungen sind viel zu unterschiedlich, vielfältig, wechselhaft, ja kompliziert, als daß sie auf einen Nenner gebracht werden könnten. Deswegen werden sie von wenigen grundsätzlichen Ausnahmen abgesehen nicht von den feststehenden Geboten der Heiligen Schrift geregelt, sondern von der ‚Weisheit‘,2 die aufgrund von Erfahrung, Vorbild und rechter Einschätzung der Situation den passenden Umgang empfiehlt. „Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein“ (Pred 10,8), ist eine tiefe Weisheit für die Beziehung unter Menschen, aber weder ein Gebot, noch ein Automatismus. Das alttestamentliche Buch der Sprüche ist beispielsweise das große Buch der persönlichen Beziehungen, verzichtet aber fast völlig auf festgelegte Gebote. Ja, es muß bisweilen scheinbar widersprüchlich formulieren.
Ein Musterbeispiel ist Spr 26,4-5:
„Antworte dem Toren nicht nach seiner Narrheit, damit nicht auch du ihm gleich wirst! Antworte dem Toren nach seiner Narrheit, damit er nicht weise bleibt in seinen Augen!“.
Soll man einem Toren antworten oder nicht? Die Antwort hat zwei Seiten, die je nach Situation abgewogen werden müssen. Die Frage, ob man einem Toren antwortet und auf seinen Unsinn eingeht oder nicht wird nicht durch ein Gebot Gottes ein für allemal entschieden. Der weise Mensch muß entscheiden, was er im konkreten Fall beim konkreten Menschen mit seiner Reaktion bewirkt.
Da das Buch der Sprüche also der Inbegriff von Weisheitslehren ist, möchte ich den einzelnen Szenen aus der Missionsarbeit des Paulus, die ich ausgewählt habe, jeweils einen Spruch aus dem Sprüchebuch voranstellen.
Szene 1: Paulus läßt Titus den Vortritt (Paulus, Titus und die Gemeinde in Korinth)
„Pläne scheitern, wo keine Besprechung stattfindet. Wo aber viele Ratgeber vorhanden sind, kommt etwas zustande“ (Spr 15,22)
Die Beziehung zwischen Paulus und der von ihm gegründeten Gemeinde in Korinth3 drohte endgültig zu zerbrechen. Ein Teil der Gemeinde in Korinth hatte einen völlig neuen Kurs eingeschlagen und die Zustände waren in vieler Beziehung verheerend. Gemeindemitglieder nahmen an Götzenopferfeiern teil, gingen zu Prostituierten, vernachlässigten ihre Ehen und ließen beim Abendmahl Mitchristen hungern und all dies im Namen Gottes. Die Verweigerung der Gemeindezucht an Mitgliedern, deren Leben dem Evangelium Hohn sprach, ließ Paulus der Gemeinde Briefe von einer Schärfe schreiben, wie wir sie ansonsten nur noch im Galaterbrief finden. Doch alle Besuche des Paulus und zwei überaus deutliche Briefe (ein nicht erhaltener Brief [vgl. 1Kor 5,9-11] und der 1. Korintherbrief) änderten nichts an der verfahrenen Situation. Paulus war am Boden zerstört, war voller „Angst“ und „Tränen“ (2Kor 2,4) und hielt einen weiteren Besuch für aussichtslos (2Kor 2,1).
Paulus versuchte das Problem nicht allein zu lösen, sondern rief seinen Mitarbeiter Titus aus Kreta
Doch mitten in seiner Verzweiflung und Verletzung erwies sich der Apostel als einer der ganz Großen: Er versuchte das Problem nicht allein zu lösen, sondern rief Titus von weit her herbei – vermutlich aus Kreta.4 Paulus war arbeitsunfähig, bis sein Mitarbeiter eintraf, wie er deutlich in 2Kor 7,5-6 bekennt:
„Denn als wir in Mazedonien ankam, hatte unser Fleisch keine Ruhe, sondern wir wurden in allem bedrängt – von außen durch Kämpfe, von innen durch Ängste. Aber Gott, der die Niedrigen tröstet, tröstete uns durch die Ankunft des Titus“.
Diesen Mitarbeiter, dessen Gegenwart Paulus ersten Trost gab, schickte Paulus nun mit einem erneuten Brief, dem sog. ‚Tränenbrief‘ (nach 2Kor 2,4), der zwischen unserem 1. und 2. Korintherbrief lag, nach Korinth und freute sich wie ein Kind darüber, daß Titus in Korinth erreichte, wozu Paulus nicht in der Lage war! (alles nach 2Kor 2,5-13; 7,5-16).
Paulus ging es um die Rettung der Situation, nicht um die Rettung seiner Ehre
Paulus rechnete offensichtlich mit der Möglichkeit, daß eine andere Person mit anderem Charakter, anderen Gaben und einer anderen – in diesem Fall unbelasteteren – Vorgeschichte geistlich etwas erreichen konnte, was ihm versagt blieb. Er ließ einem von ihm ausgebildeten Mitarbeiter Vortritt und ‚Erfolg‘. Er rechnete mit der Möglichkeit, daß die belastete Beziehung zwischen den Korinthern und Paulus einer Umkehr und Versöhnung im Weg stand und daß ein unbelasteter Dritter den Durchbruch schaffen könnte. Daß er dabei nicht mehr als der große Paulus dastand, war ihm gleichgültig, sonst hätte er nicht so offen über seine Tränen, Ängste und Unfähigkeiten berichten. Es ging ihm um die Rettung der Situation, nicht um die Rettung seiner Ehre. Es ging ihm um die Menschen, nicht um sich.
Bis zur Rückkehr des Titus aus Korinth war Paulus weiterhin trotz offener Türen nicht einsatzfähig und das erfahren wir wieder in aller Offenheit aus seinem eigenen Mund:
„Als ich aber in Troas ankam, um das Evangeliums Christi zu verkündigen und mir im Herrn eine Tür weit geöffent wurde, fand ich einfach keine Ruhe in meinem Geist, weil ich Titus, meinen Bruder, nicht finden konnte. Also nahm ich stattdessen Abschied von ihnen und zog nach Mazedonien weiter“ (2Kor 2,12-13).
Was können wir schon aus dieser einen Begebenheit lernen?
1. Paulus war ein Teamarbeiter.
Die Gegenwart seiner Mitarbeiter war für ihn Ermutigung, Trost, ja Arbeitsantrieb. So heißt es über Paulus, als er zunächst alleine nach Korinth gekommen war, daß er seine Mitarbeiter bat, schnellstens nachzukommen (Apg 17,15) und erst, als dies geschah, seine eigentliche Missionsarbeit begann:
„Als aber Silas und Timotheus aus Mazedonien angereist kamen, wurde Paulus vom Wort gepackt und bezeugte den Juden, daß Jesus der Christus ist“ (Apg 18,5).
Selbst als Paulus einen Traum hatte, in dem ihn ein Mann nach Mazedonien rief („Komm herüber und hilf uns“, Apg 16,9), beriet er sich mit seinen Mitarbeitern und reiste erst dann los, als „wir schlossen, daß Gott uns gerufen hatte“ (Apg 16,10), und das, obwohl es sich um eine Vision eines Apostels handelte.
2. Paulus stellte sich nicht als Superapostel dar
Er sprach in aller Offenheit über seine Gefühlsregungen wie Angst und Tränen, über seine inneren Blockaden zu arbeiten, ja über seine fehlende ‚Freimütigkeit‘ zur Verkündigung des Evangeliums, weswegen er die Gemeinden immer wieder zum Gebet diesbezüglich auffordert:
„Betet jederzeit mit allem Gebet und Flehen im Geist und wacht dabei mit allem Durchhalten und Flehen für alle Heiligen, und zwar auch für mich, damit mir Worte verliehen werden, wenn ich meinen Mund öffne, um mit Freimütigkeit das Geheimnis des Evangeliums bekanntzumachen …, damit ich freimütig in ihm spreche, so wie ich sprechen soll.“ (Eph 6,18-20; vgl. Kol 4,3; 2Thess 3,1; Apg 28,31).
Paulus gab nicht mit seinen Erfolgen an, sondern bekannte den Korinthern:
„Wenn schon gerühmt werden muß, dann will ich mich meiner Schwachheit rühmen!“ (2Kor 11,30; ähnlich 12,5+9).
3. Für Paulus hatten Probleme immer auch mit tiefgreifenden persönlichen Beziehungen zu tun, die den ganzen Menschen einschließlich seiner Emotionen betrafen.
Kein Wunder, daß er so häufig von seinen „Tränen“ berichtet (2Kor 2,4; Phil 3,18; Apg 20,19+31; vgl. 2Tim 1,4-5).
4. In der paulinischen Mission fielen die wesentlichen Entscheidungen auf dem Missionsfeld und nicht in einem Ausschuß fernab vom Geschehen.
Missionare leiteten Missionare.
Zugleich leiteten dabei Missionare Missionare. Beide Prinzipien wurden zwar auch nach der Zeit des Neuen Testamentes noch einige Jahrhunderte befolgt, aber eigentlich erst durch die frühen Glaubensmissionen wie die China-Inland-Mission (heute ÜMG) und der WEC im letzten Jahrhundert – mit großem Erfolg – wiederentdeckt. Zwar fragte Paulus bei neuen Mitarbeitern immer nach der Bewährung in der Gemeinde (vgl. Apg 16,1-3 im Falle von Timotheus) und legte größten Wert auf die praktische
Die Entscheidung fiel dort, wo die Ereignisse stattfanden
Unterstützung der Heimatgemeinden durch Gebet, Geld und Entsendung von Mitarbeitern. Aber die Entscheidung fiel dort, wo die Ereignisse stattfanden und die Gemeinden wurden dann darüber von den Missionaren informiert, nicht umgekehrt.
Szene 2: Ermahnung für einen Apostel (Paulus und die Gemeinde in Rom)
„Wer Ermahnung haßt, ist dumm“ (Spr 12,1). „… der Weise hört auf Rat“ (Spr 12,15)
Paulus hatte gerade die große Kollekte für die Gemeinde in Jerusalem abgeschlossen (Röm 15,26-28). Er wollte nun von Korinth5 über Jerusalem und Rom nach Spanien reisen (Röm 15,27-31) und an Stelle von Antiochien Rom zu seiner Ausgangsbasis – wir würden heute sagen ‚Heimatgemeinde‘ – machen. Zur Begründung seiner Missionsarbeit und um mit der Gemeinde in Rom dasselbe Anliegen zu haben, schreibt er vermutlich im Jahr 57 n. Chr.6 seinen grandiosen Römerbrief, die systematischste Darstellung des Evangeliums und die ausführlichste Begründung der Weltmission in der ganzen Bibel.7
Wenn Paulus die Gemeinde in Rom auch nicht aus eigener Anschauung kannte, betete er doch unablässig für sie (Röm 1,9-10) und sehnte sich danach, sie kennenzulernen (Röm 1,10+13; 15,22-23). Er ließ viele Mitarbeiter und Bekannte grüßen, die inzwischen in Rom wohnten (Röm 16,3-15) und legt dabei offen, wieviele persönliche Beziehungen er pflegte. Dabei grüßt er auch die Hausgemeinde seiner Mitarbeiter Aquila und Priscilla (Röm 16,4; eventuell auch weitere Hausgemeinden in 16,10-11).
Erstaunlich ist, wie sehr Paulus etliche der erwähnten Freunde auszeichnet. Phöbe, die Diakonin der Gemeinde im korinthischen Vorort Kenchräa, soll in jeder Beziehung unterstützt werden, „Denn auch sie ist vielen ein Beistand gewesen, auch mir selbst“ (Röm 16,1). Über Priska und Aquila schreibt Paulus: „… meine Mitarbeiter in Christus Jesus, die für mein Leben ihren eigenen Hals hingehalten haben, denen nicht allein ich danke, sondern auch alle Gemeinden der Nationen“ (Röm 16,3-4). Paulus wollte von den Römern „mitermahnt“ werden.
Doch was wollte Paulus mit seinem Brief erreichen? Was wollte er in Rom? Er schreibt gleich zu Angang seines Briefes:
„Denn ich sehne mich sehr danach, euch zu sehen, damit ich euch etwas geistliche Gnadengabe mitteile, um euch zu befestigen, das heißt aber, um bei euch mitermahnt (oder: mitgetröstet) zu werden, ein jeder durch den Glauben, den wir miteinander haben, sowohl euren als auch meinen“ (Röm 1,11-12).
Paulus wollte also Gemeinschaft mit den Gläubigen in Rom haben, damit sie und er sich gegenseitig „etwas geistliche Gnadengabe“ (Röm 1,11) mitteilen. Das Wort „mitgetröstet“ (Röm 1,12) bedeutet gleichzeitig „mitermahnt“ und wird an anderen Stellen auch meist so übersetzt. Manche Übersetzer konnten sich jedoch wohl nicht vorstellen, daß Paulus nicht nur den Römern etwas zu sagen hatte, sondern auch erwartete, daß die römischen Christen ihn trösten und ermahnen würden – und könnten! Paulus war jedoch davon „überzeugt“, daß die Christen in Rom „voll Güte, erfüllt mit aller Erkenntnis, fähig, auch einander zu ermahnen“ (Röm 15,14) waren, und warum sollte er sich da als Objekt der Ermahnung ausnehmen? Paulus tritt uns trotz aller apostolischen Autorität immer als einer entgegen, der wußte, wie sehr er auf die Hilfe und Gebete anderer Christen angewiesen war.
Auch hier können wir Prinzipien lernen, die uns schon in der Krisensituation der korinthischen Gemeinde begegnet sind.
1. Für Paulus waren Ermahnung und Trost keine Einbahnstraße von ihm zu anderen
Er schuf bewußt Situationen, in denen er Trost und Ermahnung anderer Christen empfangen konnte, ja freute sich darauf.
2. Paulus stellte den Beitrag seiner Mitarbeiter deutlich und öffentlich heraus.
Der Dank an Gott und das Lob seiner Mitarbeiter standen für ihn nicht im Widerspruch zueinander. Dankbarkeit für die Hilfe von Gott und Dankbarkeit für die Hilfe von Mitmenschen müssen Hand in Hand gehen.
Paulus stellte den Beitrag seiner Mitarbeiter deutlich und öffentlich heraus
Selbst wenn Paulus Mitarbeiter und Gemeinden zu ermahnen hatte, ja eigentlich gerade dann, stellt er heraus, was sie für ihn, für Gott und für die Gemeinden getan haben. Das offensichtlichste Beispiel findet sich in Phil 2,2-3:
„Euodia ermahne ich, und Syntyche ermahne ich, ein und dieselbe Gesinnung im Herrn zu haben. Ja, ich bitte dich, mein rechter Gefährte, stehe ihnen bei, da sie zusammen mit mir im Evangelium gekämpft haben, zusammen mit Klemens und meinen anderen Mitarbeitern, deren Namen im Buch des Lebens stehen.“
Selbst die Gemeinde in Korinth wurde von Paulus immer wieder ‚gerühmt‘ (1Kor 15,31; 2Kor 1,14; 7,4; 9,2-3) und wurde von Paulus gegenüber Titus ‚gerühmt‘, als er ihn nach Korinth sandte (2Kor 7,13-16)! Paulus ermahnte und kritisierte bisweilen in schonungsloser Deutlichkeit und Schärfe, aber er tat es nie, ohne zugleich Lob und Dank auszusprechen und die positive Seite zu würdigen!
Szene 3: Paulus verweigert sich den geistlichen Treppchen (Paulus, Apollos und die Gemeinde in Korinth)
„Durch Übermut entsteht nur Zank. Bei denen aber, die sich raten lassen, entsteht Weisheit.“ (Spr 13,10)
Wir kehren noch einmal zur spannungsgeladenen Beziehung zwischen Paulus und der von ihm gegründeten Gemeinde in Korinth zurück. Eines der Probleme der Gemeinde war, daß sich geistliche Cliquen bildeten, die sich auf unterschiedliche geistliche Führer beriefen. Den „Streit“ (1Kor 1,11) beschreibt Paulus so:
„Ich meine aber den Umstand, daß der eine unter euch sagt: ‚Ich gehöre zu Paulus‘, der andere ‚Ich gehöre zu Apollos‘, der dritte: ‚Ich gehöre zu Kephas [= Petrus], der vierte ‚Ich gehöre zu Christus‘“ (1Kor 1,12).
C. S. Lewis hat einmal sehr treffend geschrieben:
„… der Teufel … schickt der Welt die Irrtümer immer paarweise auf den Hals – in Paaren von Gegensätzen. Und er stiftet uns ständig dazu an, viel Zeit dadurch zu vertrödeln, daß wir nachgrübeln, welches der schlimmere Irrtum ist.“8
Auch die Gemeinde in Korinth war entsprechend in fast allen Fragen geteilter Meinung.9 Paulus gab jedoch praktisch nie einer von beiden Parteien recht. Er mußte beide Parteien gleichermaßen ermahnen, da beide Meinungen nicht dem göttlichen Denken entsprachen. Dies galt auch für die Parteien, die sich auf verschiedene geistliche Führer beriefen. Die einen verehrten dabei nämlich Paulus in einem Maße, daß Paulus fragen mußte: „Ist etwa Paulus für euch gekreuzigt … worden ?“ (1Kor 1,13). Andere sprachen Paulus jedoch jegliche Autorität ab. Ihnen gegenüber mußte Paulus auf seiner Berufung zum Apostel bestehen. Die Wahrheit, daß nämlich Paulus als Apostel von Gott große Wahrheiten anvertraut bekommen hatte, aber nur einer der Diener Gottes war, wurde von den einen zerstört, indem sie Paulus selbst zum Mittelpunkt machten, von den anderen, indem sie – vielleicht als Reaktion darauf – Paulus und damit letztendlich die von ihm verkündigte Offenbarung verachteten.
Eine unbiblische Meinung abzulehnen, ist noch keine Garantie dafür, selbst nicht im Irrtum zu leben
Paulus muß den Korinthern entgegenhalten, daß es nicht um ihn, sondern um den göttlichen Auftrag und die göttliche Offenbarung in der Schrift geht. Wer nicht bei dem bleibt, was die Bibel lehrt, wird hochmütig:
„Dies aber, Brüder, habe ich auf mich und Apollos bezogen um euretwillen, damit ihr an uns lernt, nicht über das hinauszugehen, was geschrieben steht, damit ihr euch nicht aufbläht für den einen gegen den anderen.“ (1Kor 4,6)
Eine unbiblische Meinung abzulehnen, ist noch keine Garantie dafür, selbst nicht im Irrtum zu leben und ebenso hochmütig zu sein, wie man es beim Gegenüber feststellt.
Paulus weigerte sich, sich auf einen Konkurrenzkampf mit Apollos, den er selbst in Korinth eingeführt hatte, einzulassen. Er weigerte sich, festzustellen, wer wichtiger sei, mehr geleistet habe oder unentbehrlicher sei:
„Wer ist nun Apollos? Wer ist Paulus? Diener sind sie, durch die ihr gläubig geworden seid, und das, wie es der Herr einem jeden gegeben hat: Ich habe gepflanzt, Apollos hat begossen; aber Gott hat das Gedeihen gegeben. So ist nun weder der pflanzt noch der begießt etwas, sondern Gott, der das Gedeihen gibt. Der aber pflanzt und der begießt, sind einer wie der andere. Jeder aber wird seinen Lohn empfangen nach seiner Arbeit. Denn wir sind Gottes Mitarbeiter.“ (1Kor 3,5-9 [Luther 1984], siehe insgesamt Kap. 3+4).
Aus unterschiedlichen Persönlichkeiten und Gaben werden oft unterschiedliche Theologien konstruiert
In einer Situation, in der Gemeindeglieder versuchten, Paulus und Apollos auseinanderzubringen und aus ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten und Gaben unterschiedliche Theologien zu konstruieren – eine Vorgehen, das auch heute noch zu viele Nachahmer findet –, führte Paulus zusammen, indem er nicht auf sich verwies und auf Einheitlichkeit drang, sondern indem er gerade auf dem einen Fundament Jesus Christus die Entfaltung verschiedener Persönlichkeiten, Stile, Gaben und damit auch Aufgaben als vorgegeben sah.
Szene 4: Ausbildung durch Vorbild
„Gib dem Weisen, so wird er noch weiser werden. Belehre den Gerechten, so wird er noch mehr lernen!“ (Spr 9,9)
Wir wenden uns ein drittes Mal der spannungsgeladenen Beziehung zwischen Paulus und der von ihm gegründeten Gemeinde in Korinth zu. In 1Kor 4,14-16 schildert Paulus seine Beziehung zur Gemeinde in Korinth. Paulus nennt sie „meine geliebten Kinder“ (1Kor 4,14), sich selbst entsprechend „Vater“. Gerade weil er ihr geistlicher Vater ist, muß er sie so scharf ermahnen. „Nicht um euch zu beschämen, schreibe ich dies, sondern als meine geliebten Kinder!“ (1Kor 4,14). Doch das erstaunliche ist, daß Paulus sich als „Vater“ anderen Christen, die sich auch um die Christen in Korinth kümmerten, an die Seite stellt, diese jedoch „ZucHTMeister“ nennt. Ja noch mehr: Er sieht einen großen Unterschied zwischen sich und diesen „ZucHTMeistern“. Das Wort, das mit ZucHTMeister übersetzt wird (griech. ‚paidagogos‘), bezeichnete den Sklaven, der die Kinder unterrichtete. Unser Wort ‚Pädagoge‘ ist davon abgeleitet. Er brachte den Kindern des Hauses viel bei. Er war für die intellektuelle Bildung zuständig. Paulus sagt also: ‚Wenn ihr zehntausend solcher Lehrmeister hättet, wenn ihr zehntausend ausgezeichnete Lehrer hättet, die euch lauter gute und richtige Dinge beibringen würden, würde das doch nichts daran ändern, daß ich euer Vater bin‘. Vom Vater lernt man nicht nur die Lehre, sondern auch das Leben, weswegen Paulus schreibt: „Werdet meine Nachahmer!“ (1Kor 4,16). Und der Vater überprüft nicht nur das Denken seiner Kinder, sondern auch das Handeln. Der Vater ist nicht nur in geregelten Umständen anwesend, sondern auch in Not und Gefahr. Der amerikanische Theologe und Pädagoge Lawrence O. Richards10 hat den Unterschied zwischen der Erziehungsmethode unserer Zeit und der der Bibel einmal so formuliert:
„Ein Großteil der Erziehung beschäftigt sich damit, Menschen zu helfen, zu wissen, was ihre Lehrer wissen. Christliche Erziehung beschäftigt sich damit, Menschen zu helfen, zu werden, wie ihre Lehrer sind.“11
Bewußte Beschränkung bei der Ausbildung von Mitarbeitern
Die Mitarbeiter des Paulus waren meist Menschen, die Paulus selbst zum Glauben geführt oder geistlich von Anfang an geschult hatte, so etwa Timotheus (Apg 16,1-3) oder Aquila und Priszilla (Apg 18,2+18+26; Röm 16,3; 1Kor 16,19; 2Tim 4,19). Daneben fanden sich „Apostel der Gemeinden“ (2Kor 8,23; Phil 2,25), Missionare, die von Gemeinden zur Mitarbeit in der paulinischen Mission entsandt wurden. Neben den Mitarbeitern konzentrierte sich Paulus in der Jüngerschaftsschulung vor allem auf die Ältesten der neuentstehenden Gemeinden.
Paulus hatte die Ausbildungsmethode seiner Mitarbeiter von Jesus übernommen. Markus berichtet:
„Und er [= Jesus] bestellte zwölf, damit sie bei ihm seien und damit er sie aussende, um zu predigen und Vollmacht zu haben, die Dämonen auszutreiben. Und er bestellte die Zwölf“ (Mk 3,14-16).
Dreierlei ist bei der Wahl der zwölf Apostel entscheidend.
A) Jesus beschränkt sich auf eine kleine Zahl seiner Jünger, „damit sie bei ihm seien“.
Diese bewußte Beschränkung wird noch deutlicher, wenn man beachtet, daß Jesus in konzentrischen Kreisen immer kleiner werdende Gruppen von Menschen zu Freunden hatte, wobei die Beziehung zur Mitte hin immer intensiver wurde. Jesus hatte sogar einen Lieblingsjünger, nämlich Johannes (Joh 19,26; 20,2; 21,7+20; vgl. 19,27).
Genauso finden wir bei Paulus konzentrische Kreise bis hin zu Timotheus, von dem Paulus sagt:
„Denn ich habe keinen, der wie er gesinnt ist, keinen, der so aufrichtig um eure Sache besorgt sein wird … Ihr kennt ja seine Bewährung, weil er, mit mir am Evangelium gedient hat, wie ein Kind dem Vater“ (Phil 2,20+22).
Timotheus als der engste Mitarbeiter des Paulus ist nicht zufällig Mitverfasser von fünf Paulusbriefen (Philipper, Kolosser, 1. und 2. Thessalonicher und Philemon)12 und Empfänger von zwei weiteren Paulusbriefen, in denen Paulus ihn als „meinen rechten Sohn im Glauben“ (1Tim 1,2; vgl. 1,18) und „meinen lieben Sohn Timotheus“ (2Tim 1,2) anspricht.
B) Jesus erwählte die Apostel, „damit sie bei ihm seien und damit er sie aussende“.
Die Jünger sollten nicht für immer in der engen Gemeinschaft mit Jesus leben, sondern am Ende den Auftrag Jesu allein und selbständig weiterführen:
„Machet zu Jüngern alle Völker … und lehrt sie, alles zu bewahren, was ich euch befohlen habe …“ (Mt 28,18-20).13
Die Ausbildung der Jünger zu Missionaren, indem sie einige Jahre mit dem Missionar schlechthin, Jesus Christus, zusammenlebten und -arbeiteten, geschah nach einem bewußten Plan Jesu. Deutlich wird das vor allem daran, daß (1) Jesus zuerst alleine verkündigt, (2) dann verkündigt, während seine Jünger zuschauen, (3) schließlich seine Jünger verkündigen läßt, während er beobachtet, (4) sodann seine Jünger auf kurze Zeit befristet allein aussendet und anschließend darüber spricht und sie erst (5) dann ganz alleine aussendet (wobei er als erhöhter Herr natürlich bei ihnen bleibt, Mt 28,20).
Paulus arbeitete auf die missionarische Selbständigkeit seiner Gemeinden und Mitarbeiter hin
Paulus ging genauso vor. Als Vater und Vorbild arbeitete er auf die missionarische Selbständigkeit seiner Gemeinden und Mitarbeiter hin.
C) Die Ausbildung der Jünger Jesu umfaßte die ganze Spannbreite von Lehre und Leben
Theorie und Praxis, Einzel- und Gruppenseelsorge, Wirken nach innen und nach außen, Aktivität und Ruhe, Beruf und Privatleben, Lehre und Seelsorge waren eins.
Auch hierin ist Paulus Jesus gefolgt. Das schönste Zeugnis dafür, daß Paulus, genauer eben gerade Paulus und seine Mitarbeiter, hier „Paulus, Silvanus und Timotheus“ (1Thess 1,1) nicht nur „Worte allein“ (1Thess 1,5) oder das „Evangelium allein“ (1Thess 2,8) verkündigten, sondern „bereit“ waren, „euch unser Leben mitzuteilen“ (1Thess 2,8), sind die Thessalonicherbriefe. Selbstverständlich verkündigten die Apostel mit Worten und mit der Lehre. Wie hätte jemand wissen sollen, worin ihr Vorbild bestand, wenn es nicht erläutert worden wäre. Die Thessalonicherbriefe zeigen, daß Silvanus und Timotheus, die ihrerseits durch Paulus geschult wurden und ihn zum Vorbild hatten, nun gleichrangig mit Paulus zum Vorbild wurden, ja daß die Christen in Thessalonich selbst wieder Vorbilder wurden.
Silvanus und Timotheus sind nämlich mit eingeschlossen, wenn es in 1Thess 1,6 heißt:
„Und ihr seid unsere Nachahmer geworden und die des Herrn …“.
An dieser Aussage haben sich schon viele gestoßen. Wie kann sich Paulus, ja sogar mit seinen Mitarbeitern, auf eine Stufe mit Jesus stellen? Aber es ist nun einmal so, daß in der Bibel menschliche Vorbilder auf Gottes Vorbild hinweisen. Und ist das nicht auch die Realität? Werden Kinder in ihrem Gottesbild nicht von dem guten oder schlechten Vorbild der Eltern geprägt? Werden geistliche Kinder nicht von dem guten oder schlechten Vorbild ihrer geistlichen Eltern in ihrem Umgang mit Gott geprägt? Jeder Mensch ist ein Vorbild, er kann nur wählen, ob ein gutes oder ein schlechtes. Jeder Vater ist ein Vorbild, er kann nur wählen, ob ein gutes oder ein schlechtes. Jeder Verantwortliche in der Gemeinde und jeder Politiker ist ein Vorbild, er kann nur wählen, ob ein gutes oder ein schlechtes.
In 2Tim 2,2 wird aus der Jüngerschulung ein Gebot, wie Mitarbeiter generell zu schulen sind.
„Du nun, mein Kind, sei stark in der Gnade, die in Christus Jesus ist. Und was du von mir in Gegenwart vieler Zeugen gehört hast, das vertraue zuverlässigen Menschen an, die fähig sein werden [oder: sollen], wiederum andere zu lehren“.
Die Gemeinde Jesu breitet sich aus, indem sich geistliche und reife Christen intensiv um eine kleine Gruppe kümmern, nicht dadurch, daß ein Verantwortlicher versucht, Hunderten, ja bisweilen Tausenden gleichzeitig gerecht zu werden. Echtes geistliches Wachstum und fruchtbare Mitarbeiterschulung geschieht da, wo geistliche, reife Christen sich auf eine kleine Gruppe von geistlichen Kindern konzentrieren, denen sie Lehre und ihr Leben mitteilen, bis diese erwachsen und selbständig geworden sind und selbst wieder in die Lage versetzt sind, Verantwortung für andere zu übernehmen. Dies ist der wahre Weg zur Erfüllung des Missionsbefehls:
„Machet zu Jüngern alle Völker … und lehrt sie, alles zu bewahren, was ich euch befohlen habe …“ (Mt 28,18-20).
Welche Prinzipien können wir hier von Paulus lernen?
Mitarbeiter nicht lebenslang wie kleine Kinder behandeln
- Paulus liebte seine Mitarbeiter wie ein Vater und war ganzheitlich für sie da. Doch diese Liebe führte nicht dazu, daß Paulus seine Mitarbeiter lebenslang wie kleine Kinder behandelte. Vielmehr führte er sie über die enge Bindung an ihn doch zielgerichtet zur reifen, geistlichen Selbständigkeit und Unabhängigkeit von ihm.
- Paulus investierte offensichtlich mehr in die Beziehung der Missionare untereinander und in ihr geistliches Wachstum. Trotzdem waren ihm technische Details oder strategische Fragen, durchaus nicht fremd. Wir fügen noch folgende Prinzipien hinzu:
- Paulus betete intensiv und ausdauernd für seine Mitarbeiter und seine Gemeinden und erwartete dasselbe von ihnen.
- Paulus förderte die Entwicklung der verschiedenen Gaben und rechnete damit, daß Gott ganz unterschiedliche Persönlichkeiten geschaffen hat und einsetzte.
Wolf-Henning Ollrog. Paulus und seine Mitarbeiter: Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission. Wissenschaftliche Monographien zum Alten Testament 50. Neukirchner Verlag: Neukirchen, 1979. S. 3. ↩
Vgl. Thomas Schirrmacher. Ethik. 2 Bde. Hänssler: Neuhausen, 1994. Bd. 1. S. 491-503 u. ö., daraus S. 492-493: „Neben die unmittelbar gültigen und direkt umsetzbaren Gebote tritt die Weisheit, die die richtige Entscheidung von der jeweiligen Situation abhängig macht und nur richtig handeln kann, wenn sie die beteiligten Menschen kennt. Die Weisheit kann in Sprichworten, Geichnissen, Vorbilderzählungen und Anschauungsunterricht weitergegeben werden. Die Weisheit enthält auch Lebenserfahrungen, die nur im Regelfall wahr sind (z. B. Spr 15,1; Spr 22,6), aber nicht zwingend so kommen müssen.“ ↩
Vgl. dazu „Plädoyer für die historische Glaubwürdigkeit der Apostelgeschichte und der Pastoralbriefe“. S. 181-235/254 in: Heinz Warnecke, Thomas Schirrmacher. War Paulus wirklich auf Malta? Hänssler: Neuhausen, 1992. ↩
So jedenfalls nach der Rekonstruktion in Heinz Warnecke, Thomas Schirrmacher. War Paulus wirklich auf Malta? a. a. O. ↩
Paulus wohnt im Haus des Gajus (Röm 16,23), dem Korinther (1Kor 1,14), und empfiehlt Phöbe aus Kenchrea, dem Hafen von Korinth (Röm 16,1). Sie überbrachte möglicherweise den Römerbrief, da sie in Röm 16 zu Beginn der Grußliste der Gemeinde in Rom als erste genannt und zur herzlichen Aufnahme empfohlen wird. All dies legt die Vermutung nahe, daß Paulus den Römerbrief in Korinth oder Kenchrea seinem Schreiber Tertius (Röm 16,22) diktierte und ihn Phöbe mitgab. ↩
Erst in Apg 19,21 nimmt Paulus sich vor, Mazedonien und Achaja zu durchziehen und anschließend über Jerusalem nach Rom zu reisen. In Apg 20,2 hat er Achaja und Mazedonien – wohl im Rahmen der Kollektenreise – bereist, was mit Röm 15,26 übereinstimmt. Paulus hat den Brief wahrscheinlich in den in Apg 20,3 erwähnten drei Monaten in Griechenland vor der Reise nach Jerusalem abgefaßt. Der Brief wäre demnach am Ende der Kollektensammlung und kurz vor der Jerusalemreise des Paulus, also etwa im Jahr 57 n. Chr. abgefaßt worden. ↩
Vgl. ausführlicher Thomas Schirrmacher. Der Römerbrief. 2 Bde. Hänssler: Neuhausen, 1994, ein Kommentar zum Römerbrief aus der Sicht von Missiologie und Dogmatik. ↩
C. S. Lewis. Christentum schlechthin. (engl. Mere Christianity). J. Hoegner: Köln, 1956. S. 228-229 (heutiger Titel ‚Pardon, ich bin Christ!‘). ↩
Vgl. ausführlicher Thomas Schirrmacher. Paulus im Kampf gegen den Schleier. a. a. O. S. 114-122; Zu den korinthischen Parteien vgl. Karl Wieseler. Zur Geschichte der neutestamentlichen Schriften und des Christentums. J. C. Hinrich’sche Buchhandlung: Leipzig, 1880. S. 1-53. ↩
Vgl. Lawrence O. Richards. A Theology of Christian Education. Zondervan: Grand Rapids (MI), 1975; Lawrence O. Richards. A New Face for the Church. Zondervan: Grand Rapids (MI), 1970; Lawrence O. Richards. A Theology of Church Leadership. Zondervan: Grand Rapids (MI), 1979; Larence O. Richards. A Theology of Personal Ministry. Zondervan: Grand Rapids (MI), 1981. ↩
Lawrence O. Richards. A Theology of Christian Education. a. a. O. S. 30. ↩
Siehe jeweils den ersten Vers. ↩
Die beste Darstellung dazu ist Robert E. Coleman. Des Meisters Plan der Evangelisation. Hänssler: Neuhausen, 1983. ↩