Die älteste Evangelienhandschrift gefunden? In der 7. Höhle von Qumran wurden 1955 im Februar und März Papyrusfragmente gefunden, die 1962 an die Öffentlichkeit gelangten. die anderen Höhlen enthielten hebräische und aramäische Texte. Papyrus als Beschreibstoff kam so gut wie nicht vor. Höhle 7 dagegen hatte nur griechische Texte und ausschließlich Papyri. Doch das wurde zunächst kaum beachtet. Einige Papyri wurden entziffert und als griechische alttestamentliche Fragmente eingeordnet:
- 7Q1 = Exodus 28,4-7
- 7Q2 = Baruch/ Brief des Jeremia 6,43-44
Für die Fragmente 3-5 fand man keine passenden alttestamentlichen oder apokryphen Stellen, so wurde die Identifizierung abgebrochen. Man kam nicht auf den Gedanken, dass die Fragmente etwa neutestamentliche Texte enthalten könnten, da die Höhlen ja schon im Jahre 68 n. Chr. versiegelt wurden und die Bewohner von Qumran vor den römischen Truppen flohen.
1972 nahm J. O`Callaghan, ein spanischer Papyrologe, die Arbeit wieder auf und suchte erfolglos nach alttestamentlichen Parallelen. Ehe er die Arbeit ganz abbrach, versuchte er es im NT. Er fand, dass Markus 6,52-53 zu dem Fragment 7QS passen würde. Er brachte nun eine internationale Fachdebatte in Gang. Es gab Zustimmung und Ablehnung. Zustimmung von denen, die sich einen entscheidenden Schlag gegen die vorherrschende neutestamentliche Einleitungswissenschaft erhofften, energische Ablehnung von denen, die die vorherrschende Schule vertraten. In den deutschsprachigen Ländern wurde es nach der Ablehnung durch Prof. K. Aland, Leiter des Instituts für neutestamentliche Textforschung Münster, um diese Identifizierung still. O´Callaghan arbeitete weiter, doch wurden auch im englischsprachigen Raum seine Ergebnisse kaum noch zur Kenntnis genommen.
„Dennoch kann für den Textgeschichtler, der ohne fertige Prämissen das zur Kenntnis nimmt, was ein Papyrus wirklich besagt, vor allem an der einen Identifizierung, um die es auch O`Callaghan in erster Linie ging, kaum Zweifel bestehen: 7Q5 ist Markus 6,52-53.“
Nun aber etwas Genaueres zum Textfund. Das Fragment ist maximal 3,9 cm hoch und maximal 2,7 cm breit. Der rechte Rand ist stark beschädigt, so dass Buchstaben sich dort nicht erhalten haben. Der Text ist ohne Worttrennung geschrieben. In der 3. Zeile ist aber ein längerer Abstand von ca. 3 Buchstaben, das heißt, es handelt sich um einen Paragraphos (in antiken Handschriften Wechsel zwischen zwei Erzähleinheiten). Der Satz danach beginnt mit „kai“ (= und), einer für Profangriechisch ungewöhnlichen auffälligen Konstruktion, die grammatisch als Parataxe (Beiordnung) bezeichnet wird. Zeile 4 enthält die seltene Buchstabenkombination: -nnes.
„Insgesamt umfasst das Fragment 20 zum Teil nur bruchstückhaft erhaltene Buchstaben auf 5 Zeilen.“
Der Papyrus ist einseitig beschrieben, das heißt, er stammt von einer Schriftrolle. Seine Farbe ist ein helles Kastanienbraun, die Tinte ein klares Schwarz.
J. O`Callaghan hat nun die -nnes-Verbindung mit Hilfe einer hypothetischen Rekonstruktion als Gennesaret“ genutzt, um Mk 6,52f zu ermitteln. In Mk 6,52 findet sich auch der Wechsel zwischen zwei Erzähleinheiten (Jesus geht auf dem See V. 45-52; Heilung vieler Kranker V. 53-56). Der fragmentarische Text enthält noch einige Besonderheiten. In der 3. Zeile ist aus dem d (Standardtext) ein t geworden. Zur Zeit Jesu war diese Lautverschiebung gut bekannt, wie durch verschiedene Papyri und den Fund eines Absperrungssteines des Tempels bestätigt wird.
In der 3. Zeile sind drei richtungsbeschreibende Worte ausgefallen: „epi ten gen“ (= auf das Land). In 4 von 6 Stellen im NT wird nach „diaperao“ = „überschiffen“ auch keine Richtungsangabe gebraucht. Der Vergleich zu anderen sehr alten Handschriften wie p52 zeigt, dass es auch dort ähnliche Auslassungen gibt. Diese Auslassungen wurden übrigens durch die Stichometrie der Zeilen festgestellt, d. h. man schloss vom Buchstabenbestand auf die Zeilenlänge (jede Zeile enthält bei 7Q5 bis auf kleine Abweichungen die gleiche Buchstabenzahl: 20/23/20/21/21). Durch diese textlichen Besonderheiten ordnet sich dieser Papyrus recht gut in das Erscheinungsbild der ältesten Handschriften ein.
C. P. Thiede behandelt nun noch einige umstrittene Buchstaben des Fragments. Sein abschließendes Urteil lautet:
„Somit sind, zusammenfassend, nicht nur sämtliche positiven Nachweise für die Richtigkeit der Identifizierung erbracht, es sind darüber hinaus alle denkbaren Einwände entkräftet. Nach allen Regeln paläographischen (die Lehre von den frühen Entstehungsformen der Schriftzeichen betreffend; der Verf.) und textkritischen Arbeitens steht fest, 7Q5 ist Markus 6,52-53, das älteste erhaltene Fragment eines neutestamentlichen Textes, um 50, mit Sicherheit vor 68 geschrieben.“
O`Callaghan hat nun vorgeschlagen, weitere Fragmente als neutestamentliche Stellen zu identifizieren, so 7Q6 = Mk 4,28; 7Q8 = Jak 1,23-24; 7Q4 = 1Tim 3,16-4,3, was tatsächlich möglich und zum Teil sogar sehr wahrscheinlich ist.
Dieses Buch von C. P. Thiede hat mich weitestgehend von der Richtigkeit der Identifizierung überzeugt. Es ist in einer sachlichen ausgewogenen Art geschrieben. Schlussfolgerungen wird die neutestamentliche Einleitungswissenschaft in ihrer Evangeliendatierung ziehen müssen, denn mit diesem Fund haben wir eine Abschrift eines Evangeliums noch aus der Zeit vor dem Jahre 70 n. Chr. Es gab also das Mk-Evangelium schon Mitte des 1. Jahrhunderts. Die ersten Christen nutzten auch noch die Rollenform; der Kodex (= Buchform) ist erst nach dem 1. Jhd. bezeugt (p 52). Die Evangelien sind also möglicherweise doch früher geschrieben, als bisher angenommen. Des Weiteren zeigt uns das Auffinden neutestamentlicher Papyri in Qumran die vielfältigen Beziehungen der ersten Christen zu ihrer Umwelt.
(Nach Carsten Peter Thiede „Die älteste Evangelienhandschrift?“ TVG-Brockhaus Wuppertal 1986, woraus sämtliche Zitate entnommen wurden.)