Bullen sind kleine Lehmklümpchen, in die ein Siegel eingedrückt wurde, um einen Gegenstand zu kennzeichnen oder ein Dokument zu versiegeln. Die zumeist unscheinbaren Gebilde werden in solch großer Zahl gefunden, dass sie für die archäologische Forschung immer mehr zu einer wertvollen Informationsquelle werden, vor allem dann, wenn auf ihnen Namen aus alten Schriftzeugnissen vermerkt sind.
Bislang sind mehr als 30 Bullen bekannt, die Namen alttestamentlicher Personen enthalten, und die Zahl nimmt stetig zu. Viele neuere Funde stammen aus Museen und Sammlungen, in denen sie oft lange Zeit lagerten, ehe sich jemandem ihre Bedeutung aufschloss, und es ist davon auszugehen, dass die Zeit derartiger Entdeckungen eben erst begonnen hat. In Studium Integrale Journal wurde bereits mehrfach über neuere Funde berichtet [6 (1999), 46; 7 (2000), 44f.].
Seit Mitte der 1990er Jahre damit begonnen wurde, Privatsammlungen auszuwerten, ist die Zahl der zuordenbaren Bullen sprunghaft angestiegen. Wie rasant die Entwicklung ist, demonstriert ein unlängst erschienener Aufsatz des Epigraphik-Experten Robert Deutsch von der Universität Haifa. Nachdem er im Jahre 1997 den ersten bis dahin gefundenen Siegelabdruck eines israelitischen Königs überhaupt publizieren konnte1, legt er nun eine umfangreiche Sammlung von Bullen aus dem Umfeld des alttestamentlichen Königs Hiskia (727-697 v. Chr.) vor. Allein fünf Abdrücke enthalten die Bezeichnung „Eigentum Hiskias [des Sohnes] Ahas, König von Juda“, und Deutsch berichtet noch von einem sechsten, den er zu Gesicht bekommen hat. Die Bullen wurden mit mehreren unterschiedlichen Original-Siegeln erzeugt. Dargestellt ist neben der Inschrift jeweils ein geflügelter Skarabäus, der eine Kugel vor sich herschiebt.Ebenfalls den Namenszug Hiskias enthalten zwei weitere, erst kürzlich entdeckte Abdrücke, die sich von den vorigen aber hinsichtlich des dargestellten Symbols unterscheiden. In Abb. 1 ist der besser erhaltene der beiden Funde wiedergegeben. Das Piktogramm zeigt eine geflügelte Sonnenscheibe, von der oben und unten jeweils drei Strahlen ausgehen. An beiden Seiten befindet sich das ägyptische Zeichen Anhk, ein Symbol, das als „Schlüssel des Lebens“ bekannt ist.
Vergleichbare Zeichen, vierflüglige Skarabäen und geflügelte Sonnenscheiben finden sich auch auf nahezu 4.000 Henkeln von Behältnissen, die ebenfalls in die Zeit Hiskias datiert werden. Jeder dieser Henkel trägt eine Inschrift, die mit dem Wort lemelekh, „Eigentum des Königs“ beginnt, und mit dem Namen jeweils einer von vier Städten – wohl Verwaltungszentren des Königreiches – fortgesetzt ist.
Eine Frage, die sich bei der Betrachtung der Piktogramme aufdrängt, ist, wie erklärt werden kann, dass ausgerechnet der Tempelreformer Hiskia königliche Embleme verwendete, deren Herkunft ausgesprochen heidnisch anmutet. In seinem Aufsatz belegt Deutsch, dass die ursprünglich ägyptischen Symbole in weiten Teilen der Alten Welt lange Zeit sehr verbreitet waren, und vermutet:
„Obwohl geflügelte Sonnenscheiben und Skarabäen einen ausländischen Ursprung hatten, waren sie, als sie im achten und siebenten Jahrhundert v. Chr. auf hebräischen Siegeln auftauchten, bereits sehr alt und hatten jegliche religiöse Bedeutung verloren. Sie wurden wegen ihres dekorativen Wertes und als Zeichen der Macht verwendet.“
Neben Bullen mit dem Namenszug Hiskias wurden vier Siegelabdrücke mit Namenszügen von Beamten seines Hofes gefunden. Das in Abb. 2 wiedergegebene Beispiel2 enthält die Inschrift „Eigentum Amarjahus, [des Sohnes] Hananjahus, Diener Hiskias“. Amarjahu ist die ältere hebräische Form von Amarja, der in 2. Chronik 31,15 als einer der Beamten Hiskias beschrieben wird, der für die Verwaltung der Gaben an den Tempel zuständig war. Zwar war Amarjahu kein seltener Name, es ist aber sehr unwahrscheinlich, dass an Hiskias Hof gleichzeitig zwei Beamte dieses Namens gewirkt haben. Deutsch zeigt sich erstaunt darüber, dass das Chronik-Buch, von dem allgemein angenommen wird, es sei erst nach dem Exil verfasst worden, eine so exakte Information über einen eher unbedeutenden Beamten enthält, der zwei Jahrhunderte früher wirkte, und vermutet, dass der Autor Zugriff auf ältere Quellen hatte.
Da die Siegel nahezu ausschließlich aus Privatsammlungen stammen, also nicht in-situ3 gefunden wurden, stellt sich die Frage nach ihrer Echtheit. Die Möglichkeit von Fälschungen erscheint jedoch ausgeschlossen, da die Abdrucke einen sehr fragilen Eindruck machen, was Robert Deutsch darauf zurückführt, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt unkontrolliert gebrannt wurden, in einem Feuer, bei dem die Dokumente vernichtet wurden, die sie einst versiegelten. Sie weisen kleine Risse und Oberflächenkorrosion auf, und unter dem Mikroskop finden sich in den Rissen und an beschädigten Kanten kleine Kristalle, alles Merkmale, die als fälschungssicher gelten.Ebenfalls aus einer Privatsammlung stammt eine Bulle mit dem Siegelabdruck eines Netan-Melech, eines Hofbeamten aus der Zeit von Hiskias Nachfolger Josia (641/40-609 v. Chr.), dessen Büro in 2. Könige 23,11 im Zusammenhang mit der Beseitigung von Götzenbildern während der Reform unter Josia erwähnt wird.
Zu diesen Bildnissen gehörte eine Gruppe von Pferden,
„die die Könige von Juda der Sonne (zu Ehren) aufgestellt hatten am Eingang des Hauses des Herrn [des Tempels], bei der Zelle Netan-Melechs, des Eunuchen, die im Parwarim [wahrscheinlich ein an der Westseite des äußeren Tempelvorhofs gelegener Anbau] war, und die Sonnenwagen verbrannte er mit Feuer.“
Der Begriff „Eunuch“ war im assyrischen Einflussbereich geläufig und fand im achten Jahrhundert v. Chr. auch im Hebräischen Eingang. In seiner ursprünglichen Bedeutung und wohl noch zur Zeit Netan-Melechs bezeichnete er einfach einen Hofbeamten. Später wurde er zunehnend für Kastraten gebräuchlich, die dem königlichen Harem vorstanden.
Die Inschrift auf der Bulle lautet schlicht „Eigentum Netan-Melechs, des Dieners des Königs“. „Diener“ war ein Term der Alltagssprache, der jedoch auch auf höchste Staatsbeamte angewendet wurde. Da der Fund aus einer Sammlung stammt, ist seine zeitliche Zuordnung nicht mehr aus dem Fundkontext erschließbar.
P. Kyle McCarter Jr. (W. F. Albrigth-Professor für Biblische und Antike Nahoststudien an der John Hopkins Universität) ist sich dennoch sicher: Der Netan-Melech der Bibel und des Siegelabdrucks sind ein und dieselbe Person.
Paläographisch, d. h. aufgrund der Schriftform gehört das Siegel ins Ende des siebten Jahrhunderts v. Chr., also in die Zeit Josias; beide Netan-Melechs waren Hofbeamte, und der Name selbst ist sehr selten, wenn nicht gar einmalig. Im Alten Testament wird er nur an der erwähnten Stelle und auch dort nur eher beiläufig genannt.
Weniger sicher ist sich McCarter hinsichtlich eines anderen Siegelabdrucks, der paläographisch in dieselbe Zeit datierbar ist, und die Inschrift „Nathan, der über das Haus gesetzt ist“ enthält. Es ist zwar spekulativ, könnte aber sein, dass sich auch diese Bulle auf Netan-Melech bezieht.
Die Bedeutung der Funde geht weit über den „Aha-Effekt“ hinaus, der sich einstellt, wenn man plötzlich auf Spuren bekannter Namen stößt. Je mehr zuordenbare Inschriften bekannt werden, desto differenzierter lässt sich die zeitliche Entwicklung des Schrifttyps rekonstruieren, was wiederum für die Datierung anderer Funde wichtig ist, die keine biblisch bezeugten Namen enthalten. Auch könnte sich die von der bibelkritischen Theologie längst ad acta gelegte Frage nach der Entstehungszeit der Texte erneut stellen, wenn immer mehr Detailinformationen auftauchen, die nachweislich signifikant älter sind als das von vielen Gelehrten heute angenommene späte Abfassungsdatum vieler alttestamentlicher Schriften.4
Inzwischen sind zwei weitere bemerkenswerte Funde bekannt geworden: André Lemaire, ein Experte für Paläographie hat in Jerusalem auf einem Ossuarium, einer antiken Urne für Totengebeine, folgende Inschrift entziffert: „Jakob, Sohn des Josef, Bruder des Jesus“. Spuren moderner Bearbeitung konnten mikroskopisch nicht nachgewiesen werden. Wenn die Inschrift echt ist, stellt sie das älteste Dokument für die Existenz unseres Herrn und seines (Halb-) Bruders Jakobus außerhalb des Neuen Testaments dar.
Der bisher wichtigste archäologische Beweis für die Existenz des Salomonischen Tempels ist in Israel aufgetaucht: Ein schwarzer Stein, 20 mal 30 Zentimeter groß, auf dem altphönizische Schriftzeichen eingemeißelt sind. Die Inschrift schildert die Entlohnung von Bauarbeitern und entspricht den Angaben im 2. Buch der Könige (Kapitel 12, Vers 15f.). Mitarbeiter des Geologischen Instituts am Nationalen Ministerium für Infrastruktur des Staates Israel haben die Inschrift als authentisch bezeichnet.5
aus: Studium Integrale 9,2 (2002) 94-95.
Es handelt sich um das Siegel des Königs Ahaz in Abb. 3; Deutsch, Robert. “First Impression: What We Learn from King Ahaz’s Seal,” Biblical Archaeology Review 24.3 (May/Jun 1998): 54-56, 62 ↩
In der ersten Veröffentlichung des Artikels war hier versehentlich das Siegel des Ahaz aus Abb. 3 abgebildet. ↩
in einer originalen gesicherten Grabung unter fachlicher Anleitung ↩
Literatur: Deutsch R (2002) Lasting Impressions. New Bullae Reveal Egyptian-Style Emblems on Judah’s Royal Seals. Biblical Archaeology Review 28, 42-51.60-62. McCarter PK Jr (2002) Biblical Detective Work Identifies the Eunuch. Biblical Archaeology Review 28, 46-48. 61. ↩
Quellen: focus 52/ 2002; nai Newsletter 8.11.2002; idea basis 123/2002; 151/2002. Idea basis 006/2003; Allgäuer Zeitung 14.1.2003; Johannes Gerloff, Jerusalem 13.1.2002. ↩