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Wenn meine Wahrheit nicht die Wahrheit des anderen ist

Ein Interview mit Dr. Michael Diener, anläßlich seiner Berufung zum Präses des Evangelischen Gnadauer Gemeinschaftsverbandes im Herbst 2009

Seit dem 1. September 2009 hat der Dachverband der innerkirchlichen pietistischen Gemeinschaften einen neuen Präses. Der „Evangelische Gnadauer Gemeinschaftsverband“ ist der Dachverband von über 100 Mitgliedsverbänden und christlichen Werken. So gehören neben den meisten Gemeinschaftsverbänden auch Werke wie das Blaue Kreuz oder die Gnadauer Brasilienmission zu dem Dachverband. Gnadau repräsentiert etwa 300 000 pietistisch geprägte Christen und versteht sich traditionell als Evangelisations- und Gemeinschaftsbewegung, sowie als Missions, Bibel- und Gebetsbewegung.

Zwar hat der Präses kein Weisungsrecht in die Mitgliedsverbände, aber die Vorgänger von Dr. Diener prägten mit ihrer theologischen Haltung die Gnadauer Arbeit stark. Michael Diener war Dekan in der Evangelischen Kirche der Pfalz. Da viele bibeltreue Christen ihre geistliche Heimat in Gnadauer Gemeinschaften und Werken haben, hat Rainer Wagner (RW) mit Dr. Michael Diener (MD) ein Interview geführt.

RW: Glück- und Segenswünsche zur Berufung vom Pirmasenser Dekan zum Präses des Gnadauer Verbandes. Haben Sie bestimmte Ziele, die Sie als Präses des Gnadauer Verbands (GV) erreichen wollen und zwar im Verhältnis Kirche – Landeskirchliche Gemeinschaften (LKG) und im Verhältnis der einzelnen Verbände und Gemeinschaften untereinander?

MD: Zuallererst möchte ich sagen, dass ich meinen Dienst als Präses des Gnadauer Verbandes ganz bewusst als Berufung lebe. Eine Berufung, die ich nicht gesucht und nicht erwartet habe, die ich aber demütig und dankbar annehme. Das bedeutet für mich, dass Zielformulierungen sich nur entwickeln können, aus ganz bewusstem Hören. Hören auf den lebendigen Gott und Hören auf die Erfahrungen der Menschen, denen ich in den kommenden Monaten und Jahren begegnen werde. Ich kann deshalb zum jetzigen Zeitpunkt nur so etwas wie eine Grundüberzeugung benennen, die meinen Dienst prägt: ich bin davon überzeugt, dass wir einander brauchen und dass wir gemeinsam christlichen Glauben attraktiver, kraftvoller und überzeugender leben können als vereinzelt oder separiert. Das gilt für das Miteinander von evangelischer Kirche und landeskirchlichen Gemeinschaften ebenso wie für das Miteinander der zum Gnadauer Verband gehörenden Verbände, Einrichtungen und Werke. Die Unterschiedlichkeit von Glaubensprägungen und Geschichte kann ich als Reichtum und notwendige Ergänzung erfahren und im Miteinander können wir uns gegenseitig ermutigen, voneinander lernen, korrigieren und auch unsere Kräfte bündeln. Für mich gibt es keine Alternative zum offenen, klärenden Gespräch, zur bewusst gesuchten Gemeinschaft, zum miteinander abgestimmten Handeln.

RW: Sie bezeichnen sich als jemanden, der „den Pietismus mit der Muttermilch eingesogen“ hat. Was bedeutet für Sie Pietismus und warum brauchen wir ihn auch noch im Jahr 2009?

Ich scheue mich nicht, über ethische Fragen zu streiten und zu begründen, warum ich meine Position für biblisch richtig halte

MD: Für mich stellt der Pietismus eine Reformbewegung dar, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm und sich zu einem großen Teil die Erneuerung der evangelischen Kirche zum Ziel gesetzt hat. Ohne jetzt über Früh- und Neupietismus, über Erweckungsbewegung und Heiligungsbewegung historisieren zu wollen, sind mir alle diese Wurzeln sehr wichtig. Der Pietismus ist eine Bibel- und Gebetsbewegung, eine Evangelisations-und Gemeinschaftsbewegung, in dem das Individuum ebenso im Fokus steht, wie die Ermutigung zum geistlichen Dienst der Ehrenamtlichen im Sinne des Priestertums aller Gläubigen. Und damit ist auch deutlich, warum Pietismus keine Mode-Erscheinung einer vergangenen Zeit sein kann. Die von mir genannten Hauptakzente sind heute genauso aktuell wie ehedem und je bewusster und überzeugter wir sie leben und vertreten, desto deutlicher wird die Gegenwartsbedeutung pietistisch geprägten Glaubens in unserer Gesellschaft sein und werden.

RW: In der pfälzischen Landeskirche werden Sie als ein Mann der Mitte wahrgenommen, der zwischen seinen persönlichen Glaubensüberzeugungen und den Positionen der pfälzischen Landeskirche (z. B. in der Frage der „gottesdienstlichen Begleitung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften“) bewusst differenziert und diese Positionen in ihrer bisherigen Funktion als Dekan dieser Landeskirche auch vertreten kann. Was sind für Sie Positionen im theologischen und ethischen Bereich, bei denen Sie sich, ohne das Gespräch mit Vertretern anderer Positionen zu meiden, keine differenzierten Kompromisse mehr vorstellen könnten?

MD: Ich bin mir nicht sicher, ob „Mann der Mitte“ eine zutreffende Beschreibung ist. Ich denke, ich wurde als Brückenbauer wahrgenommen und das wollte ich auch aus den oben genannten Gründen dezidiert sein. Dazu benötige ich aber einen klaren, eindeutigen Standpunkt und die Freiheit diesen dann auch zu benennen und ins Gespräch einzubringen. Was mich allerdings schon viele Jahre prägt, ist die Erkenntnis, dass Menschen, die ihren Glauben ebenso ernst nehmen und gewissenhaft nach Gottes Willen fragen, wie ich das für mich in Anspruch nehme, dennoch in einzelnen Sachfragen zu gänzlich anderen Ergebnissen kommen. Ich scheue mich nicht über solche, etwa ethische Fragen, zu streiten und zu begründen, warum ich meine Position für theologisch, biblisch, christlich richtig halte und eine andere für falsch. Aber ich nehme sehr ernst, dass eine jede und ein jeder selbst vor ihrem/seinem Gott steht und dass ich kein letztes Urteil zu fällen habe. Ich spreche anderen Christinnen und Christen deshalb ihren Glauben nicht ab und ich bin bereit zu akzeptieren, dass ich mich mit meiner Position auch in einer Minderheit befinden kann. Das ist mitunter sehr, sehr schmerzlich, aber ich will das bewusst auch aushalten.

Ich fühle mich nicht berufen, „Kompromisse“ einzugehen, wo es um die Grundsubstanz christlichen Glaubens geht

Etwas anderes ist, dass ich als Dekan meiner Landeskirche geltendes kirchliches Recht natürlich anzuwenden hatte. Vielleicht merken Sie, Bruder Wagner: es geht mir nicht um „differenzierte Kompromisse“, sondern um das Ringen um die Wahrheit und die Frage, wie ich damit umgehe, wenn meine Wahrheit nicht die Wahrheit des anderen ist. Ich fühle mich nicht berufen, „Kompromisse“ einzugehen, wo es um die Grundsubstanz christlichen Glaubens in Theologie und Ethik geht. Wichtig ist mir deshalb im theologischen und ethischen Bereich, dass mein Gegenüber auch meine Position ernstnimmt und nicht diffamiert. Hier sehe ich eine Grenze, die aber die Grenze jedes Dialoges darstellt.

RW: Was für Glaubenswerte und Erfahrungen prägen Sie?

MD: Prägende Erkenntnisse habe ich ja bisher schon benannt. Außerdem lebe ich jeden Tag neu aus der Gnade und Vergebung Gottes – ich kann gar nicht in Worte fassen, wie zutiefst befreiend und beglückend das für mich ist. Schließlich will ich noch herausgreifen, dass meine Verbindung mit der „Missionsgemeinschaft der Fackelträger“ seit meinen Jugendjahren dazu geführt hat, dass ich die Dimension des „Christus in Euch“ sehr bewusst lebe und erlebe. Heute will Christus durch seinen Geist in meinem Leben Gestalt gewinnen, heute geht es darum, dass Christus in mir Raum gewinnt.

RW: Der GV und der Bibelbund sind beide ganz bewusst „Bibelbewegungen“. Was bedeutet dies für die Zukunft der LKG und wie kann man dieses Profil weiter stärken?

MD: Bibelbewegung zu sein, lässt uns in Bewegung bleiben. Wenn wir die Bibel nicht mehr in unserer Mitte haben, verlieren wir nach meiner Überzeugung unsere Daseinsberechtigung. Es ist doch ein wirkliches Wunder, dass die Offenbarung Gottes in der Heiligen Schrift sich nun seit hunderten von Jahren durchsetzt, oft gerade da, wo sie am meisten bekämpft wird. Diesem Wort wohnt eine Kraft inne, die es von allen anderen Wörtern unterscheidet. Und deshalb sollten wir nicht müde werden, dieses Wort zu hören, es auszulegen, es auszubreiten in unseren Versammlungen und in unserer Gesellschaft. Unsere landeskirchlichen Gemeinschaften zeichnet doch aus, dass es keine Veranstaltung in unserem Kalender geben sollte, in der die Bibel nicht direkt oder indirekt vorkommt. Dieses Profil wird weiter gestärkt, wo wir Haupt- und Ehrenamtliche weiterhin intensiv und professionell für den Umgang mit Gottes Wort ausbilden, indem wir kreativ mit örtlichen oder überregionalen Aktionen auf die Bedeutung des Buchs der Bücher hinweisen. „Jahr mit der Bibel“, „Bibelmarathon“, „Bibelimpulse“ in Zeitungen und Zeitschriften – es kann gar nicht genügend Ideen und Akzente geben, um dieses lebendige Wort aktuell in die Lebens- und Zeitbezüge unserer Gesellschaft hinein zu bezeugen. Und schließlich: wenn die Menschen an unserer Lebensführung die Bedeutung der Bibel er-lesen, werden sie ermutigt, selbst wieder zur Bibel zu greifen.

RW: In der pfälzischen Kirchenpresse werden sie als ein Mann eindeutiger, theologischer Positionen dargestellt: „Er steht eher für ein historisch-kritisches Bibelverständnis“, war da über Sie zu lesen. Stehen Sie damit nicht am Rand der Gemeinschaftsbewegung?

Ich bin kein Freund zwanghafter Harmonisierungen oder vermeintlich frommer Idealisierungen

MD: Ich kann weder heute noch in Zukunft verhindern, dass Dritte – vielleicht auch in bester Absicht – versuchen, meine Positionen zu beschreiben. Deshalb bin ich dankbar, wenn Menschen sich bei auftretenden Fragen direkt an mich wenden. Dann lässt sich Vieles klären. Ich stehe ganz gewiss nicht für ein „historisch-kritisches Bibelverständnis“. Aber ich stehe dafür, dass wir den besonderen Entstehungsprozess, den der lebendige Gott für sein schriftgewordenes Wort wollte, wahrnehmen und ernst nehmen. Die Bibel hat eine gottgewollte Geschichte der Überlieferung. Sie hat „erste Hörerinnen und Hörer“ und gerade dann wenn ich diesen komplexen Prozess nicht leugne, sondern ernst nehme, kann ich über das Wunder der Bibel staunen. Deshalb drängt sich eine historische Sichtweise der Bibel geradezu auf und ich bin auch kein Freund zwanghafter Harmonisierungen oder vermeintlich frommer Idealisierungen, die die menschliche Seite der Heiligen Schrift leugnen.

Ich stehe auch dazu, dass ich nicht alles in der Bibel verstehe, dass ich auch an manches meine Anfragen habe, aber aus Respekt vor dem Wort Gottes und der Qualität von Offenbarung, die natürlich mein Denken und Verstehen übersteigt, verbiete ich mir jede Sachkritik. Ich kann mit Adolf Schlatter sagen, dass ich nicht auf der Heiligen Schrift, sondern unter ihr stehe.

Stehe ich mit dieser Haltung am Rand der Gemeinschaftsbewegung? Ich bin überzeugt, dass das nicht so ist.

RW: Wo hört für Sie „Bibeltreue“ auf und fängt „Fundamentalismus“ an?

MD: Ich halte diese Frage für sehr schwierig, denn eine Antwort setzt voraus, dass wir die Inhalte der Begriffe jeweils gleich definieren, was bei der momentanen Begriffsverwirrung zwischen „pietistisch“, „evangelikal“, „bibeltreu“ und „fundamentalistisch“ kaum zu erwarten ist. Ich will Ihnen aber nicht ausweichen und deshalb sagen, dass beide Begriffe nicht zu meinem „primären Wortschatz“ gehören. „Treue“ ist für mich eine personale Kategorie, die ich vor allem auf Personen, weniger auf Sachen anwende. „Christustreue“ ist mir ein wichtiger Begriff und weil ich aus der Bibel von Jesus Christus und dem ganzen Offenbarungshandeln Gottes erfahre, ist die Bibel für mich unvergleichlich. Da ich aber weiß, was Menschen mit dem Begriff „Bibeltreue“ verbinden, etwa die Ablehnung einer historisch-kritischen Schriftauslegung oder das bewusste Hören auf das schriftgewordene Wort Gottes, kann ich sagen, dass ich diesem Anliegen nahe stehe.

Fundamentalismus ist für mich eine verengte, aggressive Sicht von Glaube, Bibel und Welt. Eine selbst rationalistische Reaktion auf den rationalistischen Liberalismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine Lebens- und Sichtweise, die eben nicht differenziert, die die eigene Sicht von Glaube und Welt für göttlich inspiriert hält, die abweichende Meinungen nicht stehen lassen kann, sondern Vertreter solcher Lehren sehr schnell als Irrlehrer und ungläubig tituliert.

Die Heilsfrage entscheidet sich nicht mehr an Christus, sondern an einer Mehrzahl von theologischen und ethischen Fragestellungen, in denen „der eigene – und der Puls anderer – dauerhaft gefühlt“ wird. Fundamentalismus in diesem Sinne hat mit der befreienden Botschaft des Evangeliums leider nur noch sehr wenig zu tun und das ist das, was Menschen, die in der einen oder anderen Weise in die „fundamentalistische Falle“ getappt sind, auch meist ausstrahlen.

RW: Ist die Gemeinschaftsbewegung nicht spätestens seit der Niederlage in der Homosexuellendebatte ein „Hund der nur bellt und nicht beißt“? Welche Möglichkeiten haben sie und der GV als ihre Vertretung überhaupt noch, verändernd in die Landeskirchen hineinzuwirken oder wird nicht ein pragmatisches Einknicken der Gemeinschaftsbewegung von den entscheidenden Gremien und Synoden bewusst einkalkuliert? Gibt es eine Grenze der Treue der Gemeinschaftsbewegung zu den jetzigen Landeskirchen?

Ändert der Austritt der Gemeinschaften irgendetwas in der Haltung der Landeskirchen?

MD: Zuerst einmal müssen wir doch feststellen, dass es eine eindeutige Haltung DER Evangelischen Kirche in dieser Frage gar nicht gibt. Ihre Frage, lieber Bruder Wagner, intentiert, dass „Beißen“ mit Austritt der Gemeinschaften aus den Landeskirchen gleichzusetzen wäre. Ich frage: Und was dann? Ändert sich damit etwas an der Haltung der Landeskirchen in dieser Frage oder an unserer? Sie wissen aus der Diskussion in Ihrer und meiner eigenen Landeskirche, dass es dem beherzten unermüdlichen Einsatz unserer Vertreter zu verdanken war, dass der in der Pfalz gefasste Beschluss, so sehr wir ihn auch grundsätzlich gemeinsam abgelehnt haben, dennoch die Gewissensfreiheit des Geistlichen und jeder einzelnen Gemeinde zum obersten Prinzip gemacht hat. Natürlich sind viele nicht bereit, das, was unser Einsatz und Einspruch verhindert oder erzielt hat, als nennenswert anzuerkennen und doch glaube ich, dass diese „Kernerarbeit“ in allen demokratischen Prozessen in unseren Kirchen (und übrigens auch in unseren Gemeinschaften) wichtig ist. „Auftreten, nicht austreten“ ist meine klare Devise. Wo wir auftreten, wird unsere Haltung, die jedes Recht hat, sich evangelisch und biblisch zu nennen, in die Entscheidungsprozesse mit einfließen. Wir nehmen Einfluss, auch wenn wir nicht erreichen, was wir möchten und wir stärken damit die, die aus vielleicht ganz anderen Richtungen und Prägungen gleiche Ziele verfolgen. Wir sind doch nicht den Landeskirchen treu, wenn wir in ihnen arbeiten und auftreten, wir sind uns selbst treu, weil dies unser angestammter Platz ist, der uns und den Landeskirchen gut tut.

RW: Wie wollen Sie, als eindeutig innerkirchlich profilierter Vertreter, die auseinanderdriftenden Flügel Gnadaus zusammenhalten. Was ist es, das für Sie die Gnadauer Verbände und Werke verbindet und zusammenhält?

Wir sind nicht wirklich vorbereitet, um auf inszenierte und bösartige verleumderische Medienkampagnen angemessen reagieren zu können

MD: Uns verbindet und hält zusammen, die gemeinsamen Fundamente, die gemeinsame Geschichte, die gemeinsame Tradition, die gemeinsame „praxis pietatis“, die gemeinsamen Ziele. Die Einsicht, dass wir den Austausch brauchen, dass wir gemeinsam stärker sind und vieles mehr. Und was meine innerkirchliche Haltung angeht, so habe ich daraus ja auch vor meiner Wahl keinen Hehl gemacht. Und habe mit großer Achtung und auch tiefer Bewegung ein, bis auf eine Enthaltung, einstimmiges Wahlergebnis entgegen nehmen dürfen. Und das, was manche mir vielleicht in anderen Fragen als „Schwäche“ ankreiden werden, mein Selbstverständnis als Brückenbauer, meine Differenzierungsbemühungen, meine Bereitschaft andere Meinungen zu hören und stehen zu lassen, mein klarer Wille zum Gespräch auf Herzens- und Augenhöhe – all das wird mir in der wichtigen Frage der Innerkirchlichkeit von Nutzen sein und hat vielleicht Menschen, die in dieser Frage einen anderen Standpunkt innerhalb Gnadaus einnehmen, bewogen, mir dennoch ihr Vertrauen zu schenken. Und von „auseinander driftenden Flügeln Gnadaus“ habe ich bisher nur wenig bemerkt. Das macht mich zusätzlich dankbar, denn es gibt uns Kraft für unsere eigentliche missionarische Aufgabe in unseren jeweiligen Wirkungskreisen.

RW: Im Moment wird von Teilen der Presse, Medien und Politik versucht, die Evangelikale Bewegung, von der die Gemeinschaftsbewegung ein wichtiger Teil ist, in der Öffentlichkeit pauschal als gefährlich fundamentalistisch darzustellen. Dabei wird auch vor den ganz großen Organisationen, wie der EA und der AEM nicht halt gemacht. Was kann der GV tun, um diesem Druck standzuhalten und sich positiv öffentlich zu profilieren, ohne seine Glaubensüberzeugungen zu verlassen?

MD: Natürlich zum einen das, was „hinter den Kulissen“ geschieht. Gespräche, Begegnungen mit Multiplikatoren. Vertrauen schaffen und erhalten. Das geschieht und deshalb zeugt auch die jüngste Erklärung des Rates der EKD, in der die evangelikale Bewegung eindeutig in Schutz genommen und das unsachliche ignorante Verhalten einzelner Medienvertreter deutlich kritisiert wurde, für dieses gewachsene Vertrauen. Dafür bin ich sehr dankbar.

Außerdem werden wir unsere theologischen und ethischen Positionen substanzerhaltend (!) immer wieder neu zu formulieren haben, damit die Ängste und Nöte der Menschen unserer Zeit darin berücksichtigt werden. Wir werden auch sorgfältig geplant und ausgewählt öffentlichkeitswirksame Akzente zu setzen haben und ansonsten unserem Auftrag gemäß unaufgeregt unsere gute Arbeit weiter führen. Wir sind nicht wirklich vorbereitet, um auf inszenierte und bösartige verleumderische Medienkampagnen im Zeitalter des Internets angemessen reagieren zu können. Hier sehe ich einerseits Nachholbedarf, aber andererseits werden wir uns auch nicht von jedem Gegenwind erschrecken lassen und nicht sofort und primär in den uns fremden „Instrumentenkasten der Lobby- und Kampagnenarbeit“ greifen.

RW: Gemeinschaftspflege ist eines der Hauptanliegen des GV. Dies spielt sich im GV in einer großen Bandbreite ab. Wo hört für Sie eine LKG auf eine solche zu sein und wird zu einer Gemeinde? Gibt es für solche LKG einen Platz in der Gemeinschaftsbewegung? Werden wir in Zukunft vielleicht sogar „Richtungsgemeinschaften“ haben, die sich alle unter dem Dach des GV sammeln?

MD: Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Zielrichtung Ihrer Frage richtig verstehe. Ich würde aber sagen, dass spätestens da, wo das Gnadauer Modell 3, mit den Landeskirchen verabredet, gelebt wird, wir von einer Gemeinschaftsgemeinde sprechen können. Und selbstverständlich haben diese einen Platz im Gnadauer Verband. Ich vertrete schon seit langem die Meinung, dass die Kirchen, die einerseits an sich selbst ja die gesellschaftlichen Veränderungen erleben und teils auch erleiden, von ihrer Gemeinschaftsbewegung andererseits nicht erwarten können, als „erratischer Block“ in ihrem Verhältnis zu den Landeskirchen aus dem 19. Jahrhundert zu verharren. Das geschieht auch nicht wirklich und als Frucht sehen wir eine ganze Reihe von Vereinbarungen zwischen Verbänden und Landeskirchen, die uns einen jeweils ganz unterschiedlichen Handlungsspieltraum eröffnen. Diesen Weg wollen wir in den einzelnen Verbänden und auch in Gesprächen mit der EKD weiter beschreiten. Ich denke, dass auch im vieldiskutierten Reformpapier der EKD, „Kirche der Freiheit“, einiges zu lesen ist, was das parochiale System nicht aufhebt, aber ergänzt. An genau dieser Schnittstelle kann zusätzliche Dynamik in unsere Gespräche kommen, zum Nutzen der Landeskirchen und der Gemeinschaften und Gemeinden unter dem Dach des Gnadauer Verbandes.

RW: Wie kann öffentliche Evangelisation und Mission heute aussehen, wenn schon das persönliche Festhalten und Vertreten von Überzeugungen als Angriff auf die Toleranz gewertet wird?

Gemeinschaftsgemeinden (Modell 3) haben selbstverständlich einen Platz im Gnadauer Verband

MD: Ein wenig klingt mir diese Frage zu aufgeregt. Evangelisation und Mission geschieht heute täglich in unserem Land – vor Ort und bundesweit, wenn ich etwa an die segensreiche Arbeit von „Pro Christ“ denke. Dass die Umstände „rauher“ werden, das ist aber ebenfalls bemerkbar. Dabei ist klar: das gesellschaftliche Trivialverständnis von Toleranz als Gleich-Gültigkeit aller Positionen, geboren aus der Gleichgültigkeit allen Positionen gegenüber, hat mit einem sachgemäß verstandenen Toleranzbegriff kaum noch etwas gemeinsam. Es wird wohl auch nicht gehen, ohne dass die Grundrechte auf freie Meinungsäußerung und öffentliche Religionsausübung von höchstrichterlicher Stelle ins Verhältnis gesetzt werden zur zunehmenden Bedeutung der Antidiskriminierungsgesetze. Es bleibt abzuwarten, inwieweit solche Entscheidungen uns in unserem missionarischen Handeln behindern. Und wenn dies so wäre, so gehört es zum reichen Schatz der weltweiten Christenheit, dass sie durch die Jahrhunderte gelernt hat, ihren Glauben unter allen Umständen auch öffentlich zu bekennen und zu bezeugen. Im Blick auf den auferstandenen und wiederkommenden Herrn der Kirche können wir wirklich zuversichtlich und hoffnungsvoll unsere Berufung leben.

RW: Weisheits- und Segenswünsche für das neue Amt, speziell das Einarbeiten und die Familie!