ThemenPredigten und Bibelarbeiten

Israels heilsgeschichtliche Gegenwart und Zukunft

Der Beitrag soll dazu dienen, in diesen äußerst umstrittenen und kon­trovers diskutierten Fragen eine Orientierungshilfe zu geben. Es soll vor allem die heilsgeschichtliche Stellung des Volkes Israels in der Zeit von der Kreuzi­gung bis zur Wiederkunft von Jesus in ihren wesentlichen Grundzügen dargestellt wer­den. Außerdem soll untersucht werden, ob bestimmte alttestamentliche nationale und ter­ritoriale Verheißungen für Israel noch gelten und ob bestimmte politische Ereignisse der Gegenwart die Erfüllung dieser Verheißungen bedeuten. Dabei sollen die wichtigsten hier­zu vertretenen Auffassungen einander gegenübergestellt und anhand der Bibel bewertet werden. Der Leser soll dadurch in die Lage versetzt sein, sich anhand der jeweils vorge­brachten Argumente ein eigenes Urteil zu bilden.

1. Der Ausgangspunkt: Die Erwählung Israels durch Gottes Bund mit Abraham und Mose

Die grundlegende heilsgeschichtliche Tat­sache für Israel vor dem Kommen von Je­sus ist der Bund, den Gott mit Israel durch Abraham und Mose geschlossen hat. Gott hat Israel unter allen Völkern erwählt und zu seinem Bundesvolk gemacht. Das be­ruhte nicht etwa auf der zahlenmäßigen Größe oder sonstigen Eigenschaften Is­raels, sondern einzig und allein auf Gottes Souveränität (vgl. 5Mo 7,78; 10,5). Dieser Bund war ein Heilsbund, d.h. die Hauptzu­sage Gottes bestand darin, dass dieses Volk und seine Angehörigen Vergebung ihrer Sünden erlangen und Gemeinschaft mit Gott haben sollten, und zwar sowohl in dieser Welt als auch in der Ewigkeit. Bei den von Gott verheißenen Gaben handelte es sich also nicht nur um irdische Segnun­gen wie z. B. den Besitz des Gelobten Lan­des, Wohlstand, Friede und Bevölkerungs­wachstum – auch dies alles hat Gott dem Volk Israel zugesagt, wenn es gehorsam ist –, sondern auch und vor allem um geistli­che (vgl. z. B. 2Mo 19,5-6; 5Mo 7,6; auch aus Stellen wie 2Mo 32,32f. geht im Um­kehrschluss hervor, dass die Glieder des Volkes Israel in das Buch des Lebens ein­geschrieben waren).

Der erste Bund, den Gott mit Israel schloss, war der Bund mit Abra­ham (1Mo 15,7-21; 17,3-14). Darin ver­hieß Gott Abraham ei­ne zahllose Nachkom­menschaft und den Besitz des Landes Ka­naan. Schon vorher hatte Gott Abraham versprochen, dass in ihm alle Geschlechter der Erde gesegnet wer­den (1Mo 12,3). Der Bund mit Abraham setzte sich allerdings nur in Isaak und seinen Nachkommen fort, nicht in Ismael und dessen Nachkommen.

Mit Mose als Repräsentant des Volkes schloss Gott dann den eigentlichen Heils­bund mit dem Volk Israel (2Mo 19-24). In diesem Bund verpflichtete sich Gott, Israel zu seinem Eigentum zu machen, während das Volk ihm heilig, d.h. abgesondert für ihn sein sollte. Dieser Bund wurde im AT dreimal erneuert (unter Josua [Jos 24], Josia [2Kön 22-23] und Esra [Neh 8-10; Esra 10,3]). Zeichen dieses Bundes war die Beschneidung (1Mo 17,9-14).

In diesen Bund war nicht nur das Volk Israel als solches, sondern jeder einzelne Jude eingeschlossen. Jedoch bedeutete dies nicht, dass jeder Angehörige des Bundesvolkes das Ziel des Bundes,

Nicht jeder Angehörige des Volkes Israel erreichte die ewige Gemein­schaft mit Gott

die ewige Gemeinschaft mit Gott im Himmel, tatsächlich erreichte. Dies war nur bei denjenigen Juden der Fall, die Gott und seinem Bund treu wa­ren und für ihre Sünde Buße taten1)

. Die Ab­trünnigen hingegen, die in Sünde lebten und sich nicht zur Buße führen ließen, verloren die Bundesgnade wie­der und gingen ewig verloren (vgl. z. B. Hes 3,20; 18,24). Sie wurden aus dem Buch des Lebens gestrichen (2Mo 32,33). Hier wären als Beispiele etwa Esau, die Rotte Korach und Saul sowie die abtrün­nigen Könige Israels und Judas zu nen­nen. Diese Ungehorsamen und Abtrünni­gen machten in der Geschichte Israels oftmals den größten Teil des Volkes aus (vgl. z. B. 1Kön 19,18; Jes 1,9; 10,22-23). Schon das AT sagt deutlich, dass die bloße abstammungsmäßige Zugehörigkeit zum Volk Israel nicht ausreicht, um in das Himmelreich zu gelangen (vgl. z. B. Jes 10,22-23) und dieser Aspekt wird im NT (etwa in Röm 2,28-29; 9,68; Phil 3,3) wie­der aufgegriffen.

Die Angehöri­gen der übrigen Völ­ker gehörten nicht zu diesem Bund, jedoch konnten sie sich als „Proselyten“ dem Volk Israel anschließen. Dies setzte die Abkehr von ihren Götzen zu Jahwe sowie die Be­schneidung und das Einhalten der übrigen Gesetze und Gebote Israels voraus. Dann wurden auch sie zu voll berechtigten Glie­dern des Gottesvolks und hatten Anteil an der Israel zugesagten Gnade und den übri­gen Verheißungen.

Wichtigstes Ergebnis dieses Teils der Untersuchung ist die Feststellung, dass Israel das von Gott erwählte Bundes­volk des Alten Bundes ist, dass jedoch nur die gläubigen und treuen Glieder dieses Volkes das Ziel ihrer Erwählung erreichten.

2. Das Kommen von Jesus und der Neue Bund

Der mit Mose geschlossene Alte Bund soll­te nach dem Willen Gottes nicht von ewi­ger Dauer sein. Er zielte auf das Kommen des Messias Jesus Christus ab, der den Al­ten Bund erfüllen und zugleich einen Neu­en Bund mit seinem Volk Israel schließen wollte (Hebr 8,8-13; Jer 31,31-34). Der Neue Bund und das Kommen von Jesus wurden schon im AT an vielen Stellen an­gekündigt (vgl. z. B. Jes 9,56; Jer 31,3 1-34; Mi 5,1). Im Zentrum des Neuen Bundes steht die Person von Jesus Christus. Wer an ihn glaubt, der soll zu diesem Neuen Bund gehören und errettet werden (vgl. z. B. Lk 22,20; Gal 4,4-7). Zu diesem Glauben gehört aber auch eine radi­kale Abkehr von der Sünde und die Unterordnung des gesamten Lebens unter die Herrschaft von Jesus Christus (Mt 3,8; 10,37-39; Mk 1,15). Zugleich sagt die Bibel, dass es außerhalb der Verbindung mit ihm keine Er­lösung und keine Gemeinschaft mit dem Vater gibt (Joh 14,6; Apg 4,12; 1Jo 5,12). Allen Wiederge­borenen verheißt Jesus den Emp­fang des Heiligen Geistes (Apg 2,38; Eph 1,13). Diesen Neuen Bund wollte Gott ursprünglich nur mit seinem Volk Israel schließen (vgl. z. B. Mt 10,6; 15,24). Sollte Israel diesen Bund jedoch ablehnen, wie Gott es von Anfang an vor­aussah, so plante er die Einbeziehung der Heiden in diesen Bund. Auch das ist be­reits im AT angekündigt, z. B. in Ps 72,11; Jes 25,68; Sach 14,16-19 und wurde kurz nach der Geburt von Jesus von Simeon ausgesprochen (Lk 2,32).

Wichtigstes Ergebnis dieses Teils der Untersuchung ist die Feststellung, dass der Alte Bund durch einen Neuen Bund in Jesus Christus erfüllt und abgelöst wurde.

3. Die Folgen der Verwerfung und Kreuzi­gung von Jesus

3.1 Der historische Tatbestand

Eine kleine Minderheit des Volkes und der Oberschicht nahmen Jesus als Messias an und wurden seine Jünger

Jesus wurde von der großen Mehrheit des Volkes Israel nicht als Messias aner­kannt. Die Massen jubelten ihm zwar eine Zeitlang zu, jedoch akzeptierten sie ihn letztlich nicht als Messias und Erlöser, sondern nur als Brotkönig, Wunderheiler und politischen Befreier. Als er ihre Erwar­tungen nicht erfüllte, wandten sie sich von ihm ab. Die meisten Pharisäer, Hohenpriester und Schriftgelehrten, alsodie religiöse Führungs­schicht, bekämpften ihn von Anfang an als Gotteslästerer, der sich anmaßte, Gott zu sein sowie als Sünder und Irrlehrer, der das Gesetz des Mose übertrat und dessen Geltung aufheben wollte, und bewirkten schließlich auch seine Kreuzigung durch den römischen Statthalter Pon­tius Pilatus.

Eine kleine Minderheit des Volkes und auch der Ober­schicht, darunter auch einige Pharisäer, nahmen Jesus jedoch als Messias an und wurden seine Jünger.

3.2 Die Folgen für das Volk Israel

Es waren zum einen weltlich-diesseiti­ge Folgen: Jesus kündigte die Zerstörung des Tempels und der Stadt Jerusalem und die Zerstreuung der Juden in alle Welt an (Mt 23,38-39; 24,2; Mk 13,12; Lk 23,28- 31). Das geschah nach der Niederschla­gung des großen jüdischen Aufstandes ge­gen die Römer im Jahre 70 n.Chr. sowie eines weiteren Aufstandes in den Jahren 132 bis 135 n.Chr.

Die Verwerfung von Jesus hatte für das Volk Israel aber auch geistliche Folgen: Das Heilshandeln Gottes wurde jetzt auf die Heiden ausgeweitet, indem diese beru­fen wurden, gleichberechtigt neben den Juden in den Neuen Bund einzutreten. Sie mussten nicht mehr den Weg über das Ju­dentum gehen, v.a. brauchten sie sich nicht mehr beschneiden zu lassen oder sonstige Bestimmungen des Zeremonial­gesetzes einzuhalten (Apg 15,28ff.; Gal 2,14). Außerdem ordnete Jesus Christus in seinem Missionsbefehl für die Zeit des Neuen Bundes die Heidenmission aus­drücklich an (Mt 28,19).

3.3 Die Auswirkungen auf das Heil der Juden

Umstritten sind die Auswirkungen der Verwerfung von Jesus auf das Heil der Ju­den:

Manche denken, die Juden müssten nicht erst durch Jesus Christus zum Vater kommen

Eine Auffassung („Zwei-Wege-Leh­re“2) besagt, dass der Bund Gottes mit Is­rael ungekündigt fortbestehe. Der Alte Bund gelte also für die Juden weiter und der Neue Bund gelte nur für die Nichtju­den. Hieraus wird die weitere Schlussfol­gerung gezogen, dass jeder einzelne Jude errettet sei, sofern er sich an das alttesta­mentliche Gesetz hält. Die Annahme von Jesus als Messias sei im Gegensatz zu den Hei­den (Nichtjuden) für die Juden nicht heils­notwendig, da sie un­abhängig von Jesus Christus Volk Gottes seien und in der Ge­meinschaft mit Gott ständen. Sie müssten nicht erst durch Jesus Christus zum Vater kommen, da sie schon beim Vater seien.

Nach anderer Auffassung stehen diejeni­gen Juden, die Jesus Christus nicht als Messias anerkennen, nicht in der Gnade Gottes. Auch für die Juden sei die Erret­tung nur durch Jesus Christus möglich. Auch sie müssen sich zu ihm bekehren und sich der christlichen Gemeinde anschließen, da das Bundesvolk des Neuen Bundes die christliche Gemeinde sei.3

Nach einer weiteren Auffassung4 müssen sich die Juden zwar zu Jesus Christus be­kehren, um errettet zu werden. Sie müs­sten sich aber nicht der (überwiegend hei­denchristlich geprägten) christlichen Gemeinde anschließen, sondern stellten als „messianische Juden“ eine dritte Grup­pe zwischen (heiden-) christlicher Ge­meinde und nichtmessianischen Juden dar.

Die erstgenannte Auffassung ist in Anbe­tracht der schon genannten Bibelstellen nicht haltbar. Denn diese Aussagen (wie z. B. Joh 14,6, wo Jesus von sich selbst, und zwar zu den Juden, sagt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“) ent­halten keine Ausnahmen für bestimmte Gruppen von Menschen. Schon Jesus selbst rief die Juden als sein Volk zur Um­kehr auf und sagte ihnen, dass sie nur durch ihn Errettung finden würden. Dies galt selbst für einen frommen und gottes­fürchtigen Pharisäer wie Nikodemus (Joh 3,3.5.7)! Jesus Christus ist deshalb der einzige Heilsweg, weil alle Menschen Sün­der sind (Röm 2,11-12; 3,23) und durch ihre Sünde von Gott getrennt sind (Röm 6,23) und weil nur Jesus Chri­stus stellvertretend für alle Menschen am Kreuz gestorben ist und da­durch die Sündenvergebung und damit die Versöhnung mit Gott bewirkt hat. Dies be­deutet folglich, dass alle, die ihn nicht als Messias und Erlöser annehmen, verloren sind, und zwar auch diejenigen, die ab­stammungsmäßig zum Volk Israel gehö­ren. Dieses Ergebnis wird auch dadurch bestätigt, dass die Ablehnung von Jesus als Messias an vielen Stellen des AT und des NT als schwere heilsentscheidende Ver­fehlung bewertet wird (vgl. nur Ps 69,2529; Jer 22,5; Mt 21,40-44; 23,37; Lk 19,14.27; 20,16).

Was die Frage der Beziehung der Hei­denchristen zu den Judenchristen betrifft, so wird man aus verschiedenen Stellen des NT (z. B. Gal 3,28 und Eph 2,11-16) eindeutig entnehmen können, dass die an Jesus Chri­stus Gläubigen nach dem Willen Gottes eine einheitliche Gemeinde bilden sollen, in der der Gegensatz zwi­schen Juden und Heiden aufgehoben ist, sodass für eine Aufspaltung in messiani­sche Juden und Heidenchristen kein Raum ist. Judenchristen und Heidenchristen sind in der Gemeinschaft von Jesus Chri­stus und dem Neuen Bund als Leib des Christus zu einer auch äußerlichen Ge­meinschaft miteinander verbunden (vgl. z. B. 1Kor 12,12-13).

Auch der Wunsch des Paulus, selbst verflucht und vom Heil ausgeschlossen zu sein, wenn dadurch seine „Brüder und Stammverwandten nach dem Fleisch“, d. h. die Juden, errettet würden (Röm 9,3), hat nur dann einen Sinn, wenn Paulus fest­stellen muss, dass sie in ihrem jetzigen Zu­stand, d.h. ohne Jesus als Messias, verlo­ren sind.

Darüber hinaus sagt die Bibel an ver­schiedenen Stellen sogar, dass ein Teil der Juden, und zwar diejenigen, die Jesus Christus nicht als Messias anerkennen, „verstockt“ werden (Röm 11,7b-8) und dass ihnen eine „Decke vor dem Gesicht hängt“ (2Kor 3,15). Zwar ist die Ausle­gung dieser Stellen umstritten. Manche sind der Ansicht, dass „Verstockung“ in diesem Zusammenhang nur die zeitweili­ge Beiseitesetzung Israels als Nation be­deute, nicht aber die Verwerfung oder Ver­stoßung der Verstockten im ewigen Gericht.5

Dagegen spricht jedoch, dass das hier für „Verstockung“ verwendete Wort „porosis“ identisch ist mit dem in Röm 9,17 und Hebr 3,13 verwendeten Wort. In diesen beiden Parallelstellen bezieht es sich eindeu­tig auf den Ausschluss von der Errettung bzw. auf den Verlust des Heils. „Versto­ckung“ in diesem Sinne bedeutet eine geistliche Verhärtung, die eine Bekehrung zu Jesus Christus unmöglich macht. Ande­rerseits beruht diese Verstockung nicht darauf, dass Gott die Verstockten von vornherein vom Heil ausschließen wollte, sondern – wie auch ansonsten, z. B. beim Pharao, – darauf, dass sie auf den ein- oder mehrmaligen Anruf Gottes ablehnend oder sogar feindselig reagiert hatten.

Auch für die Juden gibt es keinen Heils weg ohne Jesus Christu

Was die Frage der Beziehung der Hei­denchristen zu den Judenchristen betrifft, so wird man aus verschiedenen Stellen des NT (z. B. Gal 3,28 und Eph 2,11-16) eindeutig entnehmen können, dass die an Jesus Chri­stus Gläubigen nach dem Willen Gottes eine einheitliche Gemeinde bilden sollen, in der der Gegensatz zwi­schen Juden und Heiden aufgehoben ist, sodass für eine Aufspaltung in messiani­sche Juden und Heidenchristen kein Raum ist. Judenchristen und Heidenchristen sind in der Gemeinschaft von Jesus Chri­stus und dem Neuen Bund als Leib des Christus zu einer auch äußerlichen Ge­meinschaft miteinander verbunden (vgl. z. B. 1Kor 12,12-13).

Wichtigste Konsequenz dieses Teils der Untersuchung ist somit, dass es für die Juden keinen Heilsweg ohne Jesus Christus gibt, sodass es für die Gemein­de von Jesus legitim und geboten bleibt, ihnen Jesus Christus als den Messias und den einzigen Weg zur Erlösung zu verkündigen.

3.4 Die Auswirkungen auf die Stellung Israels als Bundesvolk

Beim Kommen von Jesus war es das Bundesvolk Gottes, das als solches in der Heilsgnade stand, auch wenn nur die treu bleibenden Glieder dieses Volkes das ewi­ge Ziel tatsächlich erreichten (s.o.). Um­stritten ist, ob es diese Stellung verloren hat, indem es als Bundesvolk von der christlichen Gemeinde abgelöst wurde oder ob es diese Stellung beibehalten hat.

„Wenn … die Auffassung abgelehnt wird, dass die Christengemeinde das Volk Israel als ‚erwähltes Volk’ abgelöst und ersetzt habe, und zugleich daran festgehalten wird, dass die Kirche als ‚das Israel Gottes’ nicht nur in ihren einzelnen Gliedern, sondern auch als korporative Größe erwähltes Volk Got­tes ist, stellt sich die Frage nach der Zu­ordnung beider Faktoren“6

Auch hierzu gibt es mehrere grundsätzlich divergierende Ansichten:

Diejenigen, die der Ansicht sind, dass die Juden auch ohne den Glauben an Jesus Christus errettet seien, meinen dement­sprechend, dass dies auch und erst recht für das jüdische Volk als solches gelte.

Aber auch die Vertreter der „jüdisch-mes­sianischen Theologie“, die die Annahme von Jesus Christus als Messias für die Er­rettung der einzelnen Juden für erforderlich halten, sind der Ansicht, dass das jüdische Volk als solches weiterhin Bundesvolk sei, auch wenn die im Rahmen des Neuen Bundes verheißene Gnade nur den an Jesus Gläubigen und damit nur den messianischen Juden zugute käme.7

Eine dritte Auffassung, die in der christ­lichen Theologie lange Zeit vorherrschend war, nimmt an, dass das Volk Israel als Bundesvolk verworfen und „enterbt“ und durch die christliche Gemeinde ersetzt sei. Die Segnungen und Verheißungen, die ur­sprünglich dem Volk Israel gegolten ha­ben, seien nach der Verwerfung von Jesus verwirkt oder aber, insbesondere was die geistlichen Segnungen und Verheißungen betrifft, auf die christliche Gemeinde über­gegangen.8

Die beiden erstgenannten Meinungen können für sich in Anspruch nehmen, dass es an verschiedenen Stellen heißt, dass Gott sein Volk Israel, das er zuvor erwählt hat, „nicht verstoßen“ hat (so v.a. in Röm 11,12). Paulus nennt als Argument hierfür die Tatsache, dass er als Jude in Jesus Chri­stus Gnade bei Gott gefunden hat. Gott will, dass alle Menschen, also auch die Ju­den, errettet werden (1Tim 2,4) und eine Anzahl von Juden (die Judenchristen, dar­unter Paulus selbst) haben Jesus auch als Messias angenommen. Eine „Verwerfung“ im Sinne der Beendigung seines Handelns mit Israel und der besonderen Stellung Is­raels ist somit abzulehnen. Dennoch folgt hieraus nicht, dass das Volk Israel unab­hängig von seiner Anerkennung von Jesus als Messias in der Gnade des mit ihm geschlossenen Bundes steht. Wenn Gott sagt, dass er sein Volk nicht verstoßen hat, so ist dabei zu be­rücksichtigen, dass die Errettung dieses Volkes unter der Bedingung der Anerken­nung des Neuen Bundes und damit der Anerkennung von Jesus Christus als Mes­sias steht. Da das Volk Israel als solches den Neuen Bund (noch) nicht angenom­men hat, kommen ihm dessen Verheißun­gen derzeit auch nicht zugute.

Die jüdisch-messianische Theologie beruft sich v. a. auf Röm 11,17-24. Aus dem Bild vom Ölbaum und seinen Zwei­gen ergebe sich, dass zwar die nichtmessi­anischen Juden als „herausgebrochene Zweige“ nicht in der Gnade ständen, dass jedoch Israel als Volk auch im Zeitalter des Neuen Bundes der „Ölbaum“ und damit das Bundesvolk bleibe.9

Wäre dies anders, so hätte Paulus in Röm 11,17 von einem Ölbaum sprechen müssen, dessen Wur­zeln, Stamm und Zweige allesamt tot sind und von autonom lebenden wilden Ölzwei­gen. Aber dieses Argument sollte man nicht überbewerten, da es Paulus in sei­nem Bild vom Ölbaum in erster Linie da­rum ging, die Verbundenheit der christ­lichen Gemeinde mit der „Wurzel“ Israel aufzuzeigen10 und die Heidenchristen vor Überheblichkeit zu warnen.

Aus dem Gesagten ergibt sich zugleich, dass die Ansicht, wonach Israel aufgrund seiner Verwerfung von Jesus von Gott ver­worfen worden sei, nicht zutrifft, obwohl dies für das Volk Israel ernste Folgen ge­habt hat, die zum Teil schon beschrieben wurden: Neben der Zerstörung Jerusalems und des Tempels und die bis Mitte des 20. Jahrhunderts währende Zerstreuung der Juden in nahezu alle Länder der Erde war dies vor allem der Verlust des Gemeinde Heils für diejenigen Juden, die 1/2010 Jesus und den Neuen Bund ablehnten. Dies war es, was Jesus mit seinen Worten aus Mt 21,44 ff. aussprach, worin er den Pharisäern und Schriftgelehrten ankün­digte, dass das Reich Gottes von ihnen ge­nommen und einem anderen Volk gegeben werde, nämlich der christlichen Gemein­de. Zugleich sagt Jesus, dass er der Eck­stein ist, an dem sich alles entscheidet, und dass jeder verworfen wird, der ihn verwirft (Mt 21,44; Lk 20,18; 1Petr 2,78).

Es trifft nicht zu, dass das Volk Israel, weil es Jesus verwarf, nun auch von Gott verworfen ist

Was die sog. „Enterbung“ des Volkes Israel durch die Gemeinde betrifft, sei an dieser Stelle nur soviel gesagt: Da die Glie­der der Gemeinde im geistlichen Sinne „Abrahams Same“ sind, so wird man annehmen können, dass die geist­lichen Verheißungen des Abrahamsbundes auf sie übergegangen sind und zwar vor allem die Ver­heißung, dass „Abra­hams Nachkommen“ ein großes Volk werden und ein Segen für die Welt sein werden (vgl. z. B. auch Mt 5,13, wo Jesus seine Jünger „Salz der Welt“ nennt). Hinsichtlich „weltlicher“ oder materieller Dinge (wie z. B. Landbesitz, Wohlstand, Gesundheit, langes Leben, Bewahrung vor äußeren Feinden) hat die Gemeinde demgegenüber keine Verheißungen von Gott erhalten (vgl. etwa 1Tim 6,6-8), auch wenn Gott vielen Christen auch weltlichen Segen ge­schenkt hat.

Man wird aufgrund einer Gesamt­schau dieser – z. T. scheinbar widersprüch­lichen – Textstellen und heilsgeschichtlichen Zusammenhänge zu dem Ergebnis gelangen kön­nen, dass das Volk Israel trotz seiner Ver­werfung von Jesus zwar Bundes­volk geblieben, aber als solches bis zu seiner Bekehrung „beisei­tegesetzt“ ist.

Die weiteren umstrittenen Fragen, ob für das Volk Israel trotz der Ablehnung von Jesus Christus und des Neuen Bundes dennoch bestimm­te Verheißungen politischer und territoria­ler Art aus dem AT fortgelten und in unse­rer Gegenwart erfüllt werden und ob es in seiner Gesamtheit in der Zukunft Jesus Christus als Messias annehmen wird, sol­len im nächsten Abschnitt behandelt wer­den.

Wichtigste Konsequenz dieses Teils der Untersuchung ist die Feststellung, dass das Volk Israel als Folge der Verwerfung von Jesus als Bundesvolk zwar nicht verworfen, wohl aber beiseitegesetzt ist, sodass statt seiner die Gemeinde von Jesus Träger und Vermittler der geistlichen Verheißungen geworden ist.

4. Die Zukunft Israels

4.1 in politisch-territorialer Hinsicht

Das Nordreich Israel verlor im Jahre 722 v.Chr. nach der Eroberung durch die Assy­rer seine staatliche Souveränität und das Südreich Juda im Jahre 587 v.Chr. nach der Eroberung durch die Babylonier. Dar­über hinaus wurden die meisten Bewoh­ner des Nordreichs nach Assyrien und die des Südreichs nach Babylonien ver­schleppt. Jedoch war die Babylonische Ge­fangenschaft nach dem Willen Gottes auf 70 Jahre begrenzt (Jer 25,9-11; 29, 10);11 seit etwa 538 v.Chr. durften die nach Babylon verschleppten Ju­den wieder in ihre Heimat zurückkehren, den Tempel und später auch die Stadt selbst und ihre Mauern aufbauen und ihre Religionsausübung fortsetzen. Die staatliche Souveränität erlangte Israel allerdings nicht zurück: Das Land stand unter der Herrschaft der Babylonier (bis 558 v.Chr.), der Perser (von 558 v.Chr. bis 332 v.Chr.), der Griechen (von 332 v.Chr. bis 312 v.Chr.) und schließlich der Römer (von 63 v.Chr. bis zur Teilung des Römi­schen Reiches in Ost- und Westrom im Jahr 395 n.Chr.). Danach gehörte das Land zum Oströmischen Reich bis zur Erobe­rung durch die Araber im Jahre 638 n.Chr.

Israel ist bis zu seiner Bekehrung „beiseitegesetzt“

Nach dem Scheitern des jüdischen Aufstandes gegen das Römische Reich in den Jahren 66 bis 70 n.Chr. wurde auch der zweite Tempel zerstört und nach einem weiteren Aufstand in den Jahren 132 bis 135 n.Chr. wurde auch der größte Teil der Einwohner Israels und Judäas in alle Teile des Römischen Reiches verschleppt. Je­doch begann seit Anfang des 20. Jh. die Rückkehr einer zunehmenden Anzahl von Juden in ihre Heimat und im Mai 1948 wurde die Gründung des Staates Israel ausgerufen. Dieser Staat behauptete sich bis heute in mehreren Kriegen gegen die Angriffe einer Vielzahl zumeist feindlicher arabischer Nachbarstaaten sowie gegen die Bedrohung durch Terroranschläge pa­lästinensischer Extremisten.

In diesem Zusammenhang ist theolo­gisch sehr umstritten, ob die Wiederher­stellung des Staates Israel und der Rückkehr der Juden nach Israel auf der Erfüllung biblischer Ver­heißungen beruht oder nicht. Es stehen sich hier v.a. folgende Auffassungen gegenüber:

Nach einer Auffassung12 hat Gott sein Volk auch während der Zeit der Zerstreu­ung und Verfolgung erhalten, sodass es bis heute nicht untergegangen ist und sich auch nicht mit den übrigen Völkern ver­schmolzen hat. Über die Bewahrung der Juden hinaus habe er bereits in unserer Gegenwart in Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen sein Werk der Sammlung und Rettung Israels begonnen, und zwar unabhängig von dessen Annahme des Herrn Jesus als Messias bzw. dieser vor­ausgehend. Dabei handele es sich um ein Geschehen in zwei Phasen: Zunächst eine Zeit der äußeren, nationalen Sammlung, in der die Rückkehr in die Heimat, Land­nahme, Staatsgründung und Behauptung des Staates Israel gegen seine äußeren Feinde geschieht. Darauf folge dann die Bekehrung des Volkes Israel als Ganzes. Als biblische Verheißungen des AT und des NT, die Grundlage dieses Handelns Gottes seien, werden v.a. Jes 14,1; Jer 16,14-15; 29,4; Hes 34,13.24-28; 37,21; Am 9,15; Sach 8,18; 10,6; Mt 24,32-33; Lk 21,24 ge­nannt.

Bei dieser Sichtweise schwingt meist beides mit: Ein inneres Zurückweichen vor dem Ungehorsam Israels mitsamt sei­nen Folgen und eine heimliche oder offene Bewunderung für das Überleben des jüdischen Volkes. Zum erstgenann­ten Aspekt: „Sie erhielten zur Geburt ihrer Nation, als sie voller Freude über die Überque­rung des Jordan waren, eine Art Natio­nalhymne, und es war wohl die seltsam­ste Hymne, die je gesungen worden ist … Zuerst sangen sie von den guten Zei­ten, in denen Gott sie im heulenden Wind der Wüste gefunden hatte und sie wie einen Augapfel hütete. Sie sangen von dem kommenden furchtbaren Ver­rat, bei dem sie den Gott vergessen wür­den, der sie erwählt hatte. Mit dieser bittersüßen Melodie auf den Lippen zo­gen die Israeliten in das Gelobte Land ein“.13

Zum zweiten Aspekt:

„Man fühlt auch etwas von der unbeug­samen Bereitschaft, die nationale und religiöse Freiheit selbst gegen eine er­drückende Übermacht zu verteidigen. Wenn man daran denkt, wie vielen bei uns politische und religiöse Freiheit gleichgültig sind, dann regt sich Be­wunderung, ja geradezu etwas Neid“.14

Nach anderer Auffassung15 hätten diese Verheißungen in Wort, Werk und Person von Jesus Christus ihre Erfüllung gefun­den. Alle alttestamentlichen Verheißun­gen, die sich auf eine erneute Existenz Is­raels in Palästina beziehen, seien dadurch hinfällig geworden. Oder aber es wird ge­sagt, dass die betreffenden Verheißungen bereits in der Vergangenheit, etwa bei der Rückkehr aus der babylonischen Gefangenschaft erfüllt worden seien. Oder aber sie seien an die Bedingung des Gehorsams gegen Gott ge­knüpft gewesen und durch den Ungehor­sam des Volkes Israel verwirkt worden. Oder sie seien auf die christliche Gemein­de übergegangen. Wieder andere Vertreter dieser Auffassung nehmen an, dass diese Prophezeiungen und Verheißungen von Vornherein nicht wörtlich, sondern nur bildlich zu verstehen seien. Die Staats­gründung Israels und seine Behauptung gegen seine Feinde beruhe im Wesent­lichen auf Glück, diplo­matischem Geschick und militärischer Tüch­tigkeit. Israel sei ein Staat wie jeder andere und könne nicht auf­grund biblischer Ver­heißungen die zwi­schen ihm und seinen arabischen Nachbarn umstrittenen Gebiete für sich beanspruchen, sondern sei im Interesse des Friedens zu Entgegenkom­men und Kompromissen verpflichtet.

Bezieht sich die Rückkehr und Wieder­herstellung auf die Zeit nach einer weltweiten Zerstreuung?

Es muss also anhand der Bibel geprüft werden, ob die genannten Verheißungen tatsächlich die Rückkehr der Juden aus der weltweiten Zerstreuung und eine erneute Staatsgründung beinhalten und ob sie noch heute für Israel gelten.

Es lässt sich nicht bestreiten, dass in den genannten Bibelstellen von einer Rückkehr des Volkes Israel in seine ange­stammte Heimat aus einer vorangegange­nen Zerstreuung und Verbannung die Re­de ist (vgl. nur Jes 14,1; Jer 16,14-15; Am 9,15 sowie aus dem NT Lk 21,24). Es wäre jedoch als erstes zu prüfen, ob sich diese Rückkehr und Wie­derherstellung auf die Zeit nach der weltweiten Zerstreuung 70 n.Chr. bezieht. Denn es wird hiergegen als erstes der Einwand erhoben, dass diese Verheißungen bereits in der Vergangen­heit, insbesondere mit der Rückkehr der Juden aus der babylonischen Gefangen­schaft, erfüllt seien.

Bei den meisten dieser Stellen wird man zugeben müssen, dass sie hinsichtlich der Art und Weise sowie des Zeitpunktes der Rückkehr der Juden nach Israel mehr­deutig sind, sodass aus ihnen nicht mit hinreichender Sicherheit gefolgert werden kann, dass sie sich auf die Zeit nach der weltweiten Zerstreuung durch die Römer und damit auf die Gegenwart beziehen. So heißt es etwa in Jes 14,1a:

„Denn der Herr wird sich über Jakob erbarmen und Israel noch einmal er­wählen und sie in ihr Land setzen“.

Bei einigen Stellen ist es jedoch nicht mög­lich, sie auf die babylonische Gefangen­schaft oder eine andere in der Vergangen­heit liegende Rückkehr der Juden aus einer Verbannung zu beziehen. Dies ist etwa bei Am 9,15 der Fall, wo es heißt:

„Denn ich will sie in ihr Land pflanzen, dass sie nicht mehr aus ihrem Land ausgerottet werden, das ich ihnen gege­ben habe, spricht der Herr, dein Gott“.

Man kann nicht behaupten, diese Ver­heißung habe sich mit der Rückkehr aus dem babylonischen Exil erfüllt, denn die Römer haben das Volk Israel später doch erneut aus ihrem Land vertrieben.16

Eben­so kann sich die Rückkehrverheißung in Jer 16,14-15 nicht auf das ba­bylonische Exil beziehen, da die Rede davon ist, dass Gott das Volk Israel „aus dem Land des Nordens und aus allen Ländern, wohin er sie verstoßen hatte“ zu­rückbringen will. In „alle“ bzw. eine Viel­zahl von Ländern wurden die Juden aber nur nach 70 n.Chr. verbannt.

Was das zweite Argument ge­gen eine Fortdauer der o.g. Verheißungen betrifft, wo­nach diese in Jesus Christus ihre Erfüllung gefunden hät­ten, so hat David H. Stern mit Recht dar­auf hingewiesen, dass diese Verheißungen dem jüdischen Volk direkt und nicht dem Messias gelten.17 Die Annahme, die Ver­heißungen würden durch den Messias er­füllt, würde praktisch zu deren Aufhebung führen.

Dem Einwand, dass diese Verheißungen durch den Ungehorsam Israels verwirkt seien, wäre entgegenzuhalten, dass sie an keine Bedingungen geknüpft waren. Es handelt sich um Verheißungen und Pro­phezeiungen, die nach dem Plan Gottes unabhängig von dem Verhalten des Volkes Israel zu einer bestimmten Zeit in Erfül­lung gehen sollen.

Auch ist ausgeschlossen, dass diese Verheißungen auf die christliche Gemein­de übergegangen sind, da Gott dieser nie­mals die Verheißung des Besitzes eines be­stimmten Landes auf der Erde gegeben hat.

Die Verheißungen und Prophezeiungen der Bibel sind im Allgemeinen nicht sinnbildlich, sondern wörtlich zu verstehen

Gegenüber der Meinung, die Verheißungen seien von vornherein nur sinnbildlich gemeint, wäre zu sagen, dass die Verheißungen und Pro­phezeiungen der Bibel im Allgemeinen nicht sinnbildlich, sondern wörtlich zu verstehen sind und dement­sprechend erfüllt wurden bzw. noch werden. In diesem Zu­sammenhang sei etwa nur auf die biblische Prophetie hin­sichtlich der Rückkehr der Ju­den aus der babylonischen Ge­fangenschaft oder hinsichtlich der Stadt Tyrus erwähnt, deren Zerstörung in Hes 26 angekündigt wurde und um 330 v.Chr. erfolgte.18

Generell ist als Auslegungsgrundsatz fest­zuhalten, dass biblische Aussagen ent­sprechend ihrem Wortsinn zu verstehen sind, sofern nicht gewichtige Gründe vor­liegen, die betreffende Textstelle bildlich oder symbolisch zu verstehen.19

Dies gilt auch für die hier erörterten prophetischen Aussagen.

Wichtigste Konsequenz dieses Teils der Untersuchung ist somit die Feststel­lung, dass die alttestamentlichen Ver­heißungen einer Rückkehr der Juden nach Israel, ihrer erneuten Staatsgrün­dung und der Behauptung dieses Staa­tes gegen seine Feinde fortgelten. Die entsprechenden politischen Ereignisse bedeuten somit die Erfüllung dieser Verheißungen; sie sind nicht etwa zu­fällig geschehen oder Folge glücklicher Umstände. Israel ist kein Staat wie jeder andere!

4.2 hinsichtlich der Wiederannahme durch Gott

Nach dem unter 3 und 4.1 Gesagten hat das Volk Israel zwar seine heilsge­schichtliche und politische Sonderrolle beibehalten und die Verheißungen Gottes, wieder in ihr angestammtes Land zurück­zukehren, gelten weiterhin und gehen seit Beginn des 20. Jh. in Erfüllung. Anderer­seits haben die Juden, die nicht an Jesus Christus als den Messias glauben, nicht die Gotteskindschaft und die Versöhnung mit Gott erlangt, und das Volk Israel als sol­ches ist zwar „Bundes­volk“ geblieben, aber beiseitegesetzt. Somit wäre die Frage zu stel­len, ob sich das Volk Is­rael als Ganzes zu Jesus Christus bekehren und damit wieder Heil und Erlösung finden wird. Ohne seine Bekehrung zu Jesus Christus ist die Wiederannahme Israels nicht zu denken!

Wird sich das Volk Israel als Ganzes wieder zu Jesus Chris­tus bekehren und damit Heil und Erlösung finden?

Nach einer Auffassung20 ist dies zu beja­hen, da sich das Volk Israel in der Zukunft, entweder während der Weltherrschaft des Antichristen oder bei der Wiederkunft von Jesus, zu Jesus Christus bekehren werde.

Nach anderer Auffassung21 ist dies zu verneinen; ihr zufolge werden auch in der Zukunft allenfalls einige wenige Juden er­rettet werden, die sich zu Jesus Christus bekehren und sich der christlichen Ge­ meinde anschlie­ßen.

Es ist somit zu prüfen, ob es biblische Aussagen gibt, die eine künftige Bekeh­rung des Volkes Israel in seiner Gesamt­heit zu Jesus Christus verheißen. Als sol­che werden von den Vertretern der erstgenannten Auffassung v.a. Röm 11,25f. in Verbindung mit Jes 27,9 und 59,20 sowie mit Jer 31,33 genannt; ferner u.a. Hes 3,45 und Sach 12,10. Denn in Röm 11,25f. ist die Rede davon, dass „ganz Israel“ (im griechischen Urtext: „pas Israel“) gerettet wird. Allerdings ist sehr umstritten, was an dieser Stelle mit „ganz Israel“ gemeint ist. Die Auffassung, die eine künftige Bekehrung Israels ver­neint, nimmt nämlich an, dass damit die neutestamentliche Gemeinde gemeint sei. Wie in Gal 6,16 beziehe sich auch in Röm 11,26 der Begriff „Israel“ nicht auf das Volk Israel seiner Abstammung oder sei­nem jüdischen Glauben nach, sondern auf die christliche Gemeinde.22

Wieder andere Ausleger23 nehmen an, dass in Röm 11,26 mit „Israel“ zwar Ange­hörige des jüdischen Volkes gemeint seien, jedoch nur diejenigen unter ihnen, die zu der von Gott erwählten und in Röm 9,6-8 und 11,5 genannten kleinen Minderheit gehören. Nur diese kleine Minderheit der Juden sei es, die sich bekehren wird.

Die erstgenannte Auffassung nimmt hingegen an, dass damit das Volk Israel in seiner Gesamtheit gemeint sei. Das ge­samte zu dem betreffenden Zeitpunkt le­bende Volk Israel werde sich bekehren, wobei die Meinungen auseinandergehen, ob dies als endzeitliches Ereig­nis vor der Wiederkunft von Je­sus oder bei bzw. nach der Wiederkunft von Jesus erfolgen werde. Allerdings be­deute die Bekehrung „ganz Israels“ nicht, dass sich jeder einzelne Jude bekehren werde, sondern nur die Gesamtheit des Volkes Israel in ihrer von Gott bestimmten oder vorausgesehenen Fülle.24

Zumeist wird angenommen, dass es nicht alle, son­dern (nur) die große Mehrheit der dann le­benden Juden sei; z.T. wird angenommen, dass „ganz Israel“ auch lediglich eine Min­derheit der dann lebenden Juden bedeuten könne.25

Wenn in Röm 11,26 auf Textstel­len des AT (Jes 59,10 und Jer 31,33) Bezug genommen wird, so bedeute dies, dass die künftige Bekehrung des Volkes Israel den Verheißungen der Schrift entspreche.26

Es muss somit geprüft werden, welche der Auslegungen der Worte „ganz Israel“ nach dem Textzusammenhang zutrifft. Es bestehen auch unter bibeltreuen Ausle­gern grundsätzliche Meinungsverschie­denheiten darüber, ob mit „Israel“ in neu­testamentlichen Textstellen und Zu­sammenhängen stets das Volk Israel ge­meint ist und von der Gemeinde stets unterschieden werde oder ob mit dieser Bezeichnung auch die christliche Gemein­de oder die Judenchristen gemeint sein können. Hierauf kommt es an dieser Stelle jedoch meiner Meinung nach nicht an, denn Paulus setzt in diesen Kapiteln die christliche Gemeinde und das Volk Israel als zwei voneinander zu unterscheidende heilsgeschichtliche Größen miteinander in Bezug und in Röm 11,13ff. warnt er die Heidenchristen vor jeglichem Überlegenheitsgefühl gegenü­ber dem Volk Israel.27

Israel wird sich als Ganzes bekehren, aber nicht jeder einzelne Israelit

Bereits diese Fest­stellung spricht entscheidend dafür, dass hier tatsächlich das Volk Israel gemeint ist. Gegen die erste Auffassung spricht ferner, dass Paulus dann nichts Neues sagen wür­de, was über seine Aussage in Röm 9,6 hinausginge. Auch könnte man die Fest­stellung, dass sich einige Juden im Laufe der Heilsgeschichte der christlichen Ge­meinde anschließen, wohl kaum als „Ge­heimnis“ (Röm 11,25) ansehen. Ähnliches gilt für die Ansicht, die unter „ganz Israel“ nur die in Röm 9,6 und 11,5 ge­nannte kleine Minder­heit der Juden versteht. Somit ist davon auszuge­hen, dass sich das Volk Israel in der Zukunft als Ganzes zu Jesus Christus bekehren wird. Die Frage, wann dies ge­schehen wird, sowie die Frage, wie groß der Anteil der Bekehrten an der Gesamt­heit des Volkes Israel sein wird, soll hier nicht näher behandelt werden. Man wird Röm 11,25f. jedoch wohl mit Sicherheit entnehmen können, dass sich nicht jeder einzelne Jude bekehren wird, denn dann hätte Paulus nicht „pas Israel“ (ganz Is­rael), sondern „pantes hoi Israelites“ (alle Israeliten) schreiben müssen.

Ebenso ist nicht unumstritten, ob die künftige Bekehrung des Volkes Israel den­jenigen Juden, die zu ihren Lebzeiten Jesus Christus nicht als Messias angenommen hatten, gleichsam rückwirkend zugute kommt, sodass auch sie letztlich errettet sind und in das Himmel­reich eingehen. Dies wird man jedoch ab­lehnen müssen, da sich aus der Bibel er­gibt, dass die Gnadenzeit für jeden Menschen spätestens mit dem Ende des ir­dischen Lebens endet (vgl. z. B. Pred 11,3; Hebr 9,27). Wer also ohne Jesus Christus gestorben ist, durch den allein er Gnade bei Gott hätte erlangen können, der kann diese Gnade auch später nicht mehr erlan­gen. Auch für die hier beschriebene Situa­tion der Juden, die in der Zeit zwischen dem Kommen von Jesus und der Bekeh­rung des Volkes Israel ohne Jesus Christus gestorben sind, enthält die Bibel keine Ausnahme.

Wichtigstes Ergebnis dieses letzten Ab­schnitts der Untersuchung ist die Fest­stellung, dass sich das Volk Israel in der Zukunft zu Jesus Christus als seinem Messias bekehren wird.


  1. Die Vergebung der Sünden geschah allerdings nicht durch das Blut der Opfertiere, die bei der Darbringung der von Gott eingesetzten Sündopfer geschlachtet wurden (Hebr 10,34). Dies war nur eine Vorschattung auf das Blut von Jesus Christus, das die Sünde der Menschen hin- wegnimmt, und zwar auch die der gläubigen Juden im Alten Bund (vgl. Hebr 9,11-14; 10,5-14 

  2. Hauptvertreter dieser Lehre sind u.a. Martin Buber und Pinchas Lapide. Diese Auffassung wurde de facto in den 90er Jahren von zahlreichen evangelischen Landeskirchen übernommen, so z. B. in der Rheinischen Kirche, wo 1996 in den Grundartikel 1 der Kirchenordnung folgen­de Sätze aufgenommen wurden: „Sie (die Ev. Kirche im Rheinland; Th.Z.) bezeugt die Treue Gottes, der an der Erwählung seines Volkes Israel festhält. Mit Israel hofft sie auf einen neuen Himmel und eine neue Erde“. Dementsprechend wird Judenmission in den evangelischen Kir­chen in Deutschland weitgehend als überflüssig und sogar schädlich abgelehnt. 

  3. So die bis vor wenigen Jahrzehnten nahezu einhellige Auffassung der protestantischen Theolo­gie. 

  4. z. B. David H. Stern, Kommentar zum jüdischen Neuen Testament, Bd. 2, 1996, S.143. 

  5. So z. B. Jürgen van Oorschot, Hoffnung für Israel, 1988, S.20; Ernst Schrupp, Israel in der End­zeit 

  6. Wolfgang Nestvogel, Erwählung und/oder Bekehrung?, 2002, S.9. 

  7. So z. B. Stern aaO, Bd. 2, S.142 ff. 

  8. So v.a. Augustinus und Martin Luther, z.T. auch Johannes Calvin. 

  9. So Stern aaO, Bd. 2, S.143. 

  10. Vgl. dazu näher Stern aaO, S.139 f. 

  11. Wobei diese 70 Jahre mit dem ersten Einbruch der Babylonier nach Jerusalem im Jahre 605 v.Chr. beginnen; vgl. dazu etwa Norbert Lieth, Zukunftsaussichten, Bd. 2, 1996, S.61. 

  12. z. B. René Pache, Die Wiederkunft Jesu Christi, 12. Aufl. 1993, S.223 ff.; Ernst Schrupp, Israel in der Endzeit, 3. Aufl. 1992, S.96 ff.; Werner Gitt, So steht`s geschrieben, 7. Aufl. 2008, S.64 f. 

  13. Philip Yancey, Von Gott enttäuscht, dt. 1990, S.64. 

  14. Rainer Riesner in: Martyria. Festschrift zum 60. Geburtstag von Peter Beyerhaus, 1989, S.250. 

  15. z. B. Heinrich Wiesemann, Das Heil für Israel, 1965, S.31, Jürgen van Oorschot, Hoffnung für Israel, 1988, S.10 ff.; Franz Stuhlhofer, „Das Ende naht!“, 2. Aufl. 1993, S.75 ff.; 120 ff. 

  16. So zutreffend z. B. John Hosier, Endzeit, dt. 2001, S.127 

  17. in: Kommentar zum jüdischen Neuen Testament, Bd. 2, 1996, S.153. 

  18. Vgl. zur Prophetie hinsichtlich der Stadt Tyrus: Werner Gitt, So steht`s geschrieben, 7. Aufl. 2008, S.166-173. 

  19. Vgl. zu diesem Auslegungsgrundsatz des Literalprinzips näher z. B. Dwight D. Pentecost, Bibel und Zukunft, dt. 1993, S.24 ff.; 32-35; 84f. 

  20. So z. B. Wim Malgo, René Pache, David H. Stern. 

  21. So z. B. Augustinus, Martin Luther, Johannes Calvin, Adolf Schlatter. 

  22. Was auch im Hinblick auf Gal 6,16 umstritten ist. 

  23. z. B. Abraham Calov und Johann Albrecht Bengel. 

  24. Vgl. dazu näher Jürgen van Oorschot, Hoffnung für Israel, 1988, S.26. 

  25. So David H. Stern, Kommentar zum jüdischen Neuen Testament, Bd. 2, 1996, S.154. 

  26. In diesem Sinne auch Jürgen van Oorschot aaO, S.23 f. 

  27. So zutreffend Wolfgang Nestvogel, Erwählung und/oder Bekehrung?, 2002, S.8 mit weiteren Argumenten.