Vielleicht stoßen wir uns aber auch an der Dreistigkeit und Brutalität, die hier beschrieben wird. Ein körperbehinderter Mann nutzt seine Behinderung, um mit dem Vorwand, seine Unterwürfigkeit zu demonstrieren, ein Schwert in den Palast eines sehr dicken feindlichen Königs zu schmuggeln. Durch geschickte Wortwahl veranlasst er den König, ihn mit sich allein zu lassen, tötet ihn kaltblütig, verschließt die Türen und verlässt mit einer Unschuldsmine den Palast. Während sich die Diener des Königs den Kopf darüber zerbrechen, warum ihr König für sein Geschäft so lange braucht, ruft der Mann seine Leute zusammen und bezwingt die feindliche Armee.
So eine Erzählung, so mag sich mancher heutige Leser sagen, ist eine unmoralische Geschichte, die nichts im Wort Gottes zu suchen hat. Aber ist dies wirklich nur ein minderwertiger Krimi? Ist dies nicht vielmehr die Erzählung von Ehud, der Israel eine 80jährige Friedensperiode schenkte, die längste Friedensperiode, die im Richterbuch erwähnt wird? Ist es nicht vielmehr die Erzählung der großen Errettung, die dazu führte?
Aber wenn die Beschreibung dieser wunderbaren Errettung Israels die Absicht des Autoren ist, warum erzählt er dann die Geschichte in solch anstoßerregender Weise? Warum macht er sich lustig über andere und veranlasst uns sogar dazu, es ihm nachzumachen und über den König und seine Diener zu lachen?
Bei der Interpretation dieser Erzählung werden wir davon ausgehen, dass der inspirierte Autor für seine menschlichen Leser Wort Gottes geschrieben hat. Gott hat mit dieser Erzählung an die Menschen gedacht, die sie lesen werden. Wer von uns liest nicht auch schon mal gerne ein erheiterndes Buch? Wer von uns gibt sich allein mit den eher ernsten und trockenen Politik- und Wirtschaftsseiten der Tageszeitung zufrieden? Wir alle brauchen Abwechslung und freuen uns über erheiternde Einschübe in unserer täglichen Lektüre. Wenn Gott uns nun so geschaffen hat, sollte er uns dann nicht auch in seinem Wort solche Erzählungen geben? Sollte unser Herr uns nicht gerade im so ernsten Richterbuch eine erstklassige Erheiterung bieten?
1 Die Bedrückung: Der Herr gibt Israel in die Hand Eglons (V. 12–14)
Zu Beginn wird uns die Situation und der Grund für die Unterdrückung Israels vorgestellt: Die Israeliten tun weiter, was in den Augen des Herrn böse ist. Gleich zweimal wird in diesem Satz betont, dass Israel das Böse in den Augen des Herrn tut, und deshalb stärkt der Herr den König von Moab gegen Israel. Die Unterdrückung Israels durch die Moabiter wird also von den Israeliten selbst verursacht, wenngleich der Herr die Initiative zur tatsächlichen Unterdrückung ergreift. Er stärkt Eglon, den König von Moab.
Was nun tut Eglon, nachdem er vom Herrn gestärkt worden ist und die Ammoniter und Amalekiter zusammengebracht hat? (V.13)
Er geht, / und er schlägt Israel, / und sie nehmen die Palmenstadt ein.
Man kann buchstäblich sehen, wie die drei Heere in drei Phasen gegen Israel ziehen
Man kann buchstäblich sehen, wie die drei Heere in drei Phasen gegen Israel ziehen. Zunächst marschiert Eglon los. Ein einziges Wort („er geht“) beschreibt, dass Eglon zusammen mit den anderen Heeren kommt. Zunächst geschieht dies in aller Stille, als käme er in Frieden. Zweitens greift er Israel an. Zwei Worte („er schlägt Israel“) zeigen, wie gefährlich die Situation plötzlich wird.
Außerdem marschieren die Feinde nicht nur, sie greifen an. Und sie haben ein Angriffsziel und schlagen Israel. Schließlich nehmen sie die Palmenstadt in Besitz. Hier gebraucht der Erzähler drei Worte, um den ganzen Ernst der Situation zu beschreiben („sie nehmen Palmenstadt ein“). Überdies wird statt des Singulars plötzlich der Plural des Verbs gebraucht, so dass das Erscheinungsbild der Truppen einer Flut ähnelt. Die als „friedlich“ beschriebenen Ausländer greifen Israel an und überwältigen die Palmenstadt. Doch das Ergebnis des Angriffs ist überraschend. Haben Eglon und die anderen Heere nicht ganz Israel geschlagen? Und doch nehmen sie nur die kleine Ruinenstadt Jericho ein, die unter Josua verwüstet worden war.1
Bevor wir fortfahren, muss der Name des Königs von Moab kurz erklärt werden. Der Name „Eglon“ ist nicht kanaanitischen Ursprungs und wurde auch zu dieser Zeit nur sehr selten benutzt. Die zugrunde liegende hebräische Wortwurzel bedeutet „junger Stier, Kalb, kleines Kalb“. In dieser Bedeutung wird das Wort z.B. im Buch Levitikus für den Stier gebraucht, der als Opfer dargebracht werden soll.2 Es liegt damit auf der Hand, dass „Eglon“ etwa im 14. bis 12. Jahrhundert v. Chr. kein Name ist, den Eltern für ihren Sohn wählen würden. Auch würde sich kein König selbst einen solchen Namen zulegen oder von seinem Volk so genannt werden. Daher können wir schlussfolgern, dass „Eglon“ nicht der ursprüngliche Name dieses Königs ist. Vielmehr ist dies ein Name, den der inspirierte Erzähler mit einer besonderen Absicht geformt hat. Er will damit nämlich „eine Karikatur des feindlichen Königs zeichnen. Mit dieser Vorgehensweise gibt er dem Leser oder Hörer einen wichtigen Anhaltspunkt im Blick darauf, wie die Erzählung verstanden werden sollte: Sie ist eine humorvolle Erzählung, die einen fetten ausländischen König verspottet.“3
2 Die Rettung: Der Herr rettet Israel durch den behinderten Ehud (V. 15–26)
2.1 Der Retter präpariert, oder: Wie man seine Behinderung einsetzt (V. 15–18)
Nach 18 langen Jahren der Unterdrückung fangen die Israeliten an, über ihre Gottesbeziehung nachzudenken. Sie haben genug davon, Eglon dienen zu müssen und schreien zum Herrn. Sofort erweckt der Herr ihnen einen Retter, Ehud, den Benjaminiter, der an seiner rechten Hand gehemmt ist.4 Er wird zu König Eglon gesandt, um den Tribut Israels zu überbringen.
Wie kann ein Mann, der an seiner rechten Hand behindert ist, Israel retten?
Doch wie kann ein Mann, der an seiner rechten Hand behindert ist, Israel retten?
Diese wichtige Frage wird sofort beantwortet. Denn bevor Ehud aufbricht, um den offiziellen Tribut zu überbringen (V. 15), macht er sich seinen eigenen „Tribut“ fertig: ein Schwert, knapp 50 cm lang.5 Da er an seiner rechten Hand gehemmt ist und das Schwert mit seiner linken Hand ziehen kann, gürtet er es unter sein Gewand an seine rechte Hüfte (V. 16). So präpariert macht er sich mit seinem Tribut auf den Weg zu Eglon (V. 17).
Dann plötzlich befinden wir uns im Innern des Palastes von Eglon, wo Ehud gerade den Tribut an den Moabiterkönig überbringt. Weder der Weg zum Palast noch das Passieren der Wachen, die ihn möglicherweise hätten kontrollieren können, wird beschrieben. Im Gegenteil – wir grübeln noch immer über den vielleicht ganz anderen Tribut nach, als wir plötzlich auf die Szene stoßen, in der sich die beiden Feinde gegenüberstehen. Was überbringt Ehud hier – den offiziellen Tribut oder seinen eigenen Tribut? Doch anstatt uns eine Antwort zu geben, geht der Erzähler zu einer substantivischen Satzkonstruktion über und beschreibt aus der Sicht Ehuds das Gegenüber Ehuds: Eglon war aber ein sehr fetter Mann.
Eglon ist ein sehr fetter König, ein „gemästetes Rindvieh“
Die volle Bedeutung dieser Beschreibung Eglons wird erst deutlich, wenn man das Vorkommen des Wortes „fett“ im Alten Testament verfolgt. Es wird etwa 30mal gebraucht und beschreibt wohlgenährtes Vieh, insbesondere gemästete Kühe,6 aber auch mollige Schafe. (Hes 34,20) Das Wort wird später abfällig für den Leib derjenigen Menschen gebraucht, die im Reichtum schwelgen und ungeheuere Mengen essen. (Ps 73,4) So bekommt dieses Wort auch in unserem Kontext einen offenkundigen negativen Beigeschmack. Zudem wird Eglon nicht nur als fetter Mann, sondern vielmehr als sehr fetter Mann beschrieben, wie es ärger kaum noch geht. Eglon ist ein sehr fetter König, ein „gemästetes Rindvieh“ – was schon fast einer unverblümten Beschimpfung des ausländischen Zwingherrn gleichkommt.7 Damit aber lädt uns der Erzähler offen zur ironischen Interpretation der Erzählung ein.
Nachdem dann Ehud den Tribut überreicht hat, entlässt er das Volk, das den Tribut getragen hatte (V. 18). Ehud wird bei seiner schmachvollen Reise also von anderen begleitet, die er jetzt wegschickt. Zudem wird uns mitgeteilt, dass diese Begleiter den Tribut getragen haben, woraus wir folgern können, dass sie den offiziellen Tribut des Volkes Israel überbracht haben. Doch schon im nächsten Vers erfahren wir, dass Ehud, der seinen eigenen „Tribut“ überbringt, zu Eglon zurückkehrt.
2.2 Der Retter aktiv, oder: Wie man einen fetten König los wird (V. 19–23)
Nachdem er ein Stück Wegs mit ihnen gegangen ist, kehrt Ehud bei den Götterbildern bei Gilgal um (V. 19). Diese Götterbilder, die religiöse Inschriften tragen, sind wahrscheinlich von den Moabitern aufgestellt worden. Sie markieren die Grenze zwischen Moab und Israel und sollen gleichzeitig das eigene Land vor anderen Göttern schützen.8
Dann finden wir uns plötzlich im Palast wieder (V. 19). Erneut werden keine Einzelheiten über Ehuds Weg dorthin oder über mögliche Kontrollen der Wachen erwähnt. Stattdessen werden wir mit der ersten direkten Rede dieser Erzählung konfrontiert. Auf diese Weise gelingt es dem Erzähler, uns an die Erzählung zu fesseln. Anders als bei der offiziellen Überbringung des offiziellen Tributs sind wir nun live dabei, wenn Ehud seinen eigenen Tribut überbringt.
Ehud hat tatsächlich eine geheime „Sache“ mitgebracht – ein Schwert
Zuerst stoßen wir auf die an König Eglon gerichteten Worte Ehuds: „Ein geheimes Wort habe ich an dich, o König!“ (V. 19) Ehud tritt mit einem geheimen Wort bzw. einer geheimen Sache9 vor den König.10 Ehud hat tatsächlich eine geheime „Sache“ mitgebracht – ein Schwert, das von den Wachtposten nicht entdeckt worden war. Die ironische Bedeutung dieser Worte kann einem kaum entgehen, vor allem auch deshalb, weil der ahnungslose König sie genau falsch versteht, an geheime Worte denkt und allen seinen Dienern befiehlt, den Raum zu verlassen: „Pscht!“ (V. 19)
Dieses komisch klingende Wörtchen ist die einzige Äußerung des „gemästeten Rindviehs“ in der ganzen Erzählung. Kann der König nicht mehr sagen? Liegt auch hierin wieder eine versteckte Ironie? Jedenfalls befiehlt er mit diesem Wort allen seinen Dienern, den Raum zu verlassen und so weit fort zu gehen, dass sie außer Sicht- und Hörweite sind.11 Somit können sie das weitere Geschehen in seinem Gemach nicht verfolgen – und ihm auch nicht zu Hilfe eilen, wenn er diese später so nötig haben wird.
Nachdem nun die Diener verschwunden sind, tritt Ehud an Eglon heran. An dieser Stelle fügt der Erzähler wieder einen Satz an, der uns, seine Leser, erneut fesselt und uns die Situation vor Augen malt. Eglon sitzt im kühlen Obergemach – er allein (V.20). Der Höhepunkt steht unmittelbar bevor.
Zunächst beginnt Ehud, mit Eglon zu reden: „Ein Wort Gottes habe ich an dich!“ (V. 20). Für Eglon hat das hebräische Wort dâbâr eindeutig die Bedeutung von „Wort, Mitteilung“, weil es als „Wort Gottes“ bezeichnet wird; für Ehud jedoch, der ja von Gott ausgewählt worden ist, Israel durch seine Tat von dem König zu befreien, hat es die Bedeutung „Sache Gottes.“ Das Schwert und damit auch Ehuds Idee und die Befreiung sind also allein Gottes Werk. Indem Ehud diese Ankündigung macht, hat er nur das Eine im Sinn, nämlich den König zu veranlassen, von seinem Thron aufzustehen, damit er stehend das Wort und die Sache Gottes empfangen könne. So würde es ihm erleichtert werden, ihn zu töten. Und genau das geschieht; der übermäßig „fette kleine Stier“ erhebt sich von seinem Thron.
In der ganzen hebräischen Bibel ist dies der einzige Vers, wo „erheben“ bzw. „aufstehen“ zusammen mit dem Ausdruck „von oben“ gebraucht wird (V. 20).12 Diese Gedankenverbindung verleiht unserer Erzählung den nächsten ironischen Anstrich. Der ungeheuer fette König schafft es, sich unter erheblicher Mühe von seinem Thron zu erheben.
Der ungeheuer fette König schafft es, sich unter erheblicher Mühe von seinem Thron zu erheben
Dann schreitet Ehud endlich zur Tat (V. 21):
Da streckt Ehud seine linke Hand aus / und er nimmt das Schwert von seiner rechten Hüfte / und er stößt es ihm in den Bauch.
Als erstes streckt Ehud seine Hand aus. In V. 15 haben wir erfahren, dass die Israeliten den Tribut durch Ehuds Hand gesandt haben. Die Überbringung des Tributs (V. 18) wurde jedoch nur kurz erwähnt und war für die Erzählung ziemlich unbedeutend. Doch jetzt beschreibt der Erzähler plötzlich wieder die Hand Ehuds.13 „Das ist also die Hand! Und die eigentliche Gabe ist das Schwert! Der Tribut wird nicht nur zum König hingebracht, sondern in ihn (sic) hineingesteckt.“14 Diese humorvolle Ironie kann wirklich niemandem entgehen!
Wie in V. 13 wird der Angriff zudem in drei Schritten beschrieben; zunächst ein friedliches Vorgehen, dann ein gefährlicher Angriff und schließlich der Sieg über das Opfer. Doch während Eglon nur einen kleinen Teil Israels in Besitz nahm, tötet Ehud den ganzen fetten König.
Zuerst streckt Ehud seine linke Hand aus. Eglon rechnet mit keinerlei Gefahr, denn warum sollte er irgend etwas Gefährliches erwarten, wenn jemand seine linke Hand ausstreckt? Dies ist sicherlich nichts Verdächtiges. Dann nimmt Ehud das Schwert von seiner rechten Hüfte. Plötzlich droht dem König Gefahr. Doch schon greift Ehud an und stößt ihm das Schwert in den Bauch (V. 22).
Und es dringt sogar der Griff hinein nach der Klinge, / und das Fett schließt sich um die Klinge, / denn er zieht das Schwert nicht aus seinem Bauch heraus.
Die Genugtuung und Schadenfreude in diesem Satz ist mit Händen zu greifen. Der König ist so fett, dass ein knapp 50 cm langes Schwert zu kurz ist, um ihn ganz zu durchbohren! Und als ob das noch nicht schmählich genug wäre, verschließt das Fett des königlichen Körpers sogar noch die Wunde!
Es liegt auf der Hand, dass mit diesem Satz der sterbende König verspottet wird!
Spätestens an dieser Stelle können wir uns nicht mehr halten und beginnen zu lachen.15 Aber damit hat der Erzähler noch nicht sein ganzes Pulver verschossen. Er setzt noch einen drauf: … und es (d. h. das Schwert) fuhr hinaus zwischen den Beinen (V. 22). Ehuds Angriff gegen das „gemästete Rindvieh“ war so erfolgreich, dass das Schwert nicht nur zu kurz ist und das Fett des Königs die Klinge umschließt, sondern das Schwert fährt sogar hinten heraus, und zwar komischerweise im Bereich des Afters.16 Es liegt auf der Hand, dass mit diesem Satz der sterbende König verspottet wird!
Kaum hat Ehud seine Tat vollbracht, verlässt er den Raum (V. 23) über die Vor- oder Säulenhalle. Er verschließt die Tür des Obergemachs und geht hinaus. Wieder liegt gleich eine zweifache Ironie in diesem Satz. „Das Fett umschließt die Klinge, die Türflügel umschließen den im Raum liegenden Leichnam.“17 Zudem verbinden die zwei unmittelbar nacheinander folgenden Beispiele ähnlicher Ausdrücke „es fuhr hinaus“ und „er ging … hinaus“ (V. 22 und V. 23) beide Verse miteinander und stellen sie einander gegenüber.18 Die Klinge fährt hinten heraus und bringt Eglon den Tod, doch Ehud geht vorne hinaus und bringt sich in Sicherheit.
2.3 Der Retter entkommt, oder: Wie dumme Diener klare Fakten abtun (V. 24–26)
Kaum ist Ehud hinausgegangen, kommen die Knechte Eglons (V. 24).19 Aber warum konzentriert sich der Erzähler nun auf die Diener? Für den Fortgang der Erzählung ist diese Erwähnung nicht notwendig. Außerdem lesen wir hier etwas, was keiner in Israel wissen kann, nämlich was die Diener tun, als sich Ehud auf den Weg zurück nach Israel macht. Was soll mit diesem Einschub bezweckt werden?
Auch dieser Einschub über die königliche Dienerschaft strotzt von Ironie
Wie wir sehen werden, strotzt auch dieser Einschub über die königliche Dienerschaft von Ironie.
Mit drei Mal jeweils drei Worten beschreibt der Erzähler die Diener. Zuerst kommen die Diener (V.24). Sie (1) kommen herzu und (2) sehen, und (3) siehe!, die Tür des Obergemachs ist verriegelt. Das erstmalige Vorkommen des Wortes „siehe“ kennzeichnet eine Überraschung. Die Diener rechnen nicht damit, dass die Tür verriegelt ist.
Bald bemerken die Diener einen bekannten Geruch. Daher schlussfolgern sie: „Er bedeckt gewiss nur seine Füße in der kühlen Kammer“
(V.24), d.h. er verrichtet dort seine Notdurft. An dieser Stelle wissen wir bereits, wie die Erzählung verstanden werden soll. Wir sind auch besser informiert als die Diener. Daher beginnen wir wieder zu schmunzeln.
Wir beobachten die Diener weiter. Zum zweiten Mal werden wir mit drei Worten zum unheilvollen Höhepunkt in einem „siehe“ hingeführt und erneut werden ausdrucksstarke Worte gewählt (V. 24): Die Diener warten nicht, sie (1) „zittern“ bis zur (2) Beschämung, denn (3) siehe!, er öffnet nicht die Tür des Obergemachs! Wieder bezeichnet das Wort „siehe“ einen Überraschungsmoment, doch dieses Mal ist dieser mit einer schockierenden Entdeckung verbunden. Die Diener warten darauf, dass Eglon die Tür öffnet – zitternd, sich für ihn schämend, da er so lange für sein Geschäft braucht, sogar bis die Situation unerträglich wird, da er sich weigert, die Tür zu öffnen. Wir, die wir wissen, warum Eglon ihnen nicht aufmacht, fangen erneut an zu schmunzeln. Wie töricht sind doch diese königlichen Diener!
Doch schließlich unternehmen die Diener etwas; sie nehmen den Schlüssel. Erneut bahnt sich in der Abfolge der Worte zunehmend Unheilvolles an. Ihr Höhepunkt wird zum dritten Mal mit dem Wort „siehe“ erreicht, dem diesmal eine Abfolge von drei Eglon beschreibenden Worten als Schlusspunkt folgt (V. 25). Doch diesmal kennzeichnet die Verwendung von „siehe“ nicht mehr einen Überraschungsmoment, sondern einen vollen Schock. Die Diener (1) nehmen den Schlüssel und (2) öffnen die Tür und (3) siehe!, (1) ihr Herr, (2) auf den Boden gefallen, (3) tot (V. 25). Wir können förmlich sehen, wie den Dienern die grausame Gewissheit klar wird. Sie sehen zunächst ihren Herrn, wie er am Boden liegt, erkennen dann, dass er leblos dort liegt und realisieren zuletzt, dass er tot ist. Wieder können wir uns ein Schmunzeln nicht verkneifen. Wie töricht haben sich diese Diener doch verhalten! Damit wird der Bericht über die Diener beendet, die nicht gerade günstig wegkommen.
Doch Ehud gelingt die Flucht, während die Diener zögern20 (V. 26). Er gelangt über Grenze der Götterbilder hinaus und entkommt nach Seira in Israel. In einem kurzen Satz verwendet der Erzähler zweimal das Verb „entkommen“ und gibt uns damit die Zusicherung, dass Ehud dorthin gelangt, wo er sicher ist.
Die heidnischen Götter können Ihre Nachfolger nicht vor ihren Feinden schützen
Doch dieser Satz enthält auch eine theologische Bedeutung. Zuerst ist Ehud bei den Götterbildern in der Absicht umgekehrt, Eglon zu töten (V.19). Doch jetzt sehen wir Ehud die heidnischen Götter hinter sich lassen und nach Israel entkommen. Dies bedeutet erstens, dass der Herr als der Gott Israels stärker ist als die heidnischen Götter, und zweitens, dass die heidnischen Götter ihre Nachfolger nicht vor ihren Feinden schützen können, insbesondere nicht vor Israel. Immerhin haben diese Götter Ehud beim ersten Mal nicht zurückgehalten und nun können sie ihn nicht an der Flucht hindern.
3 Der Sieg: Der Herr gibt Moab in die Hand Israels (V. 27–30)
Der unterdrückende König Israels ist jetzt tot und die Israeliten können sich nun von ihren Feinden befreien. So stößt Ehud auf dem Gebirge Ephraim ins Horn – ein Zeichen für das Volk, sich zu sammeln und auf den Kampf vorzubereiten. Die Israeliten gehorchen und folgen Ehud. Dieser gibt ihnen den Befehl, ihm in die Palmenstadt hinab zu folgen. Dort würden sie den Kampf gegen Moab gewinnen, weil der Herr ihre Feinde, die Moabiter, in ihre Hand gegeben habe. So ziehen sie hinter ihm her und besetzen die den Moabitern gehörenden Furten des Jordan und lassen sie niemanden mehr übersetzen. Sie erschlagen in dieser Zeit 10.000 Moabiter.
Die aus drei Teilen bestehende Struktur dieser Sätze (V.29) ähnelt der Struktur von V. 13,20–21:
So ziehen sie hinab, ihm nach, / und nehmen den Moabitern die Furten des Jordan / und lassen niemanden hinübergehen. / Und sie schlagen Moab in dieser Zeit, / an die zehntausend Mann, / alles kräftige und kriegstüchtige Männer; / nicht einer entkommt.
Zuerst ziehen die Israeliten hinab – eine Verhaltensweise, die keinerlei Argwohn weckt. Dann besetzen sie die Jordanfurten, was einem Überraschungsangriff gleichkommt, denn die Moabiter wissen wahrscheinlich noch nicht, dass ihr König tot ist, so dass sie dieser Angriff völlig unvorbereitet trifft.21 Schließlich erschlagen sie die Moabiter und erringen damit den vollständigen Sieg über den Feind.
Erneut finden wir hier – noch im letzten Vers der Erzählung – einen ironischen Zug. Alle Getöteten Moabs, immerhin 10.000 Mann, waren kräftige (wörtlich: fette) und kriegstüchtige Männer. Zwar ist hier für das Wort „fett“ ein anderer Begriff gebraucht als derjenige, den der Erzähler für Eglon verwendet hatte, was uns daran erinnert, dass Eglon ein wirklich sehr fetter Mann war, doch erkennen wir hier, dass auch all die anderen Moabiter fette Leute waren, was uns wieder zum Schmunzeln bringt. Daher können wir schlussfolgern, dass alle Moabiter in das Bild passen, das der Erzähler von Eglon und seinen Dienern gezeichnet hat. Obwohl die Moabiter als kriegstüchtig gelten, sind sie im Vergleich zu den Israeliten ausnahmslos fette, unentschlossene und törichte „Rindviecher“.
So erringt Israel einen vollständigen Sieg über Moab und erfreut sich an achtzig Jahren Ruhe (V. 30).
4 Die Bedeutung dieser Erzählung
Unser Ausgangspunkt war die Feststellung, dass Gott uns sein Wort gegeben hat, damit wir es gerne lesen. Die Erzählung von Ehud im Palast des feindlichen Königs
Die Erzählung von Ehud im Palast des feindlichen Königs Eglon ist ein Beispiel für die heitere Seite des Wortes Gottes.
Eglon ist ein Beispiel für die heitere Seite des Wortes Gottes. Doch lässt es Gottes Wort nicht bei einer oberflächlichen Erheiterung. Gott macht sich nicht auf Kosten anderer lustig, sondern zeigt uns die Menschen aus seiner Sicht.
Das Volk Gottes, die Israeliten, werden als gewitzte und dabei doch ehrliche Menschen vorgestellt. Ehud nutzt seine Behinderung, um ein Schwert in den Palast zu schmuggeln. Er benutzt zweideutige Worte, um seinen Feind ohne zu lügen, also mit der Wahrheit, irrezuführen. Ohne ein Wort zu sagen, veranlasst er die Diener des Königs, so lange zu warten, bis er die Moabiter besiegt hat. Die Feinde Gottes dagegen werden geschmäht. Der Körper des feindlichen Königs spottet jeder Beschreibung. Der König ist unfähig, auch nur ein einziges vernünftiges Wort zu sagen. Und seine Diener sind zu dumm, um rechtzeitig zu verstehen, was passiert ist.
Doch spricht der Erzähler an keiner einzigen Stelle eine direkte Wertung aus. Vielmehr bleibt er immer fair und ehrlich. An keiner Stelle lobt er Ehud ausdrücklich oder greift er die Feinde Gottes direkt an. Er beschreibt die Charaktere vielmehr nüchtern – Ehud als behinderten Mann und Eglon als fetten Mann – und überlässt es seinen Lesern, entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Zwar gibt er einige versteckte Anhaltspunkte, die uns in unserer Interpretation leiten sollen – der Name des Königs ist das deutlichste Beispiel –, doch überlässt er es seinen Lesern, diese aufzunehmen oder nicht. So vermeidet er es, seinen Lesern irgendeinen Anstoß geben, sondern nimmt Rücksicht auf jeden einzelnen. Diese Fairness, Ehrlichkeit und Individualität zeichnet das Wort Gottes vor vielen anderen großen und kleinen Werken der Weltliteratur aus.
So enthält Gottes Wort auch in diesen Erzählungen eine ernste Botschaft an uns. Gott freut sich an den Menschen und unterstützt die, die zu seinem Volk gehören, und er lacht und spottet über die Menschen, die ihn ablehnen. Gott hat einen guten Humor. Und er weiß auch, dass wir Humor haben und freut sich daran. Die Erzählung von Ehud und dem fetten „Rindvieh“ ist das beste Beispiel dafür.
Der vorliegende Aufsatz stellt die Überarbeitung eines Vortrags dar, den der Autor in einem Doktoralseminar während seines Studiums an der Trinity Evangelical Divinity School, Deerfield, USA, im Jahr 1994 gehalten hat. Unser Dank gilt Herrn Joachim Köhler, der den Vortrag aus dem Amerikanischen übersetzt hat, und Herrn Markus Worgt, der die Übersetzung vermittelt hat.
Es hat den Anschein, als sei Jericho zu dieser Zeit nicht bewohnt gewesen, denn es wurde unter Josua zerstört (Jos 6, bes. V.26) und war auch während der frühen Richterzeit nicht bewohnt (Ri 1,16). Erst vor der Regierungszeit der Königs Ahab von Israel wurde es wiederaufgebaut (1Kö 16,34). Diese Tatsache würde erklären, warum der Ort hier nicht „Jericho“, sondern vielmehr „Palmenstadt“ genannt wird, da es außer Palmen nichts gab, was man zu dieser Zeit in dieser Gegend finden konnte. ↩
3Mo 9,2.3.8. Eine andere interessante Parallele befindet sich in 1Sam 28,24. Dort wird ein gemästetes Kalb geschlachtet. ↩
Graham S. Ogden, „The Special Features of a Story: A Study of Junges 3,12–30,“ The Bible Translator 42, no.4 (1991): 409. ↩
Dieser Ausdruck kommt in der hebräischen Bibel nur zweimal vor (hier und in Ri 20,16). Ob man ihn in dem Sinne verstehen sollte, dass Ehud an seiner rechten Hand behindert war, oder in dem Sinne, dass er linkshändig war bzw. beide Hände in der gleichen Weise gebrauchen konnte, kann man dem Text nicht eindeutig entnehmen. Die in Ri20,16 genannten Männer konnten jedenfalls fähige Kriegsleute sein, so dass ihre Behinderung sie nicht stark zu behindern schien. Auf der anderen Seite schien die Behinderung Ehuds jedoch äußerlich sichtbar gewesen zu sein. Wohl aufgrund seiner Behinderung ist er nämlich nicht sorgfältig kontrolliert worden, als er den Palast Eglons betrat. Somit konnte er nicht nur das Schwert in den Palast schmuggeln, sondern bekam auch die Erlaubnis, zu einem privaten Gespräch mit dem König allein gelassen zu werden. ↩
Diese Auslegung des Verses und des Wortes „Tribut“ ergibt sich dadurch, dass die Beschreibung von Ehuds Schwert (V. 16) einen Einschub zwischen der zweimaligen Nennung des Wortes „Tribut“ (V. 15.17) bildet. In diesem Ausdruck ist also „ein ironisches Element enthalten …, denn unmittelbar nachdem erwähnt worden ist, dass Ehud der Überbringer des Tributs Israels ist, beschreibt der Erzähler das Schwert, das Ehud angefertigt hat … Letztlich ist es dieses Schwert, womit Ehud Eglon ‚beschenken‘ wird (Ogden, „Special Features:“ 411; vorher auch schon L. Alonso-Schökel, „Erzählkunst im Buche der Richter.“ Biblica 42 (1961): 149.). ↩
Hes 34,3 / 6mal in 1.Mo 41,2–20 und einmal in 1.Kö 5,3. ↩
Im Kontext des Richterbuches hat uns der inspirierte Autor bereits mit seinen eigenen Namensgebungen vertraut gemacht. Bereits in Ri.3,7-11 hat er einen feindlichen König in gleicher Weise als „Mohr der Doppelbosheit“ bezeichnet. Auch dieser Name ist nicht der natürliche Name des feindlichen Königs. Der Leser ist daher vorbereitet, auch in unserer Erzählung in den Namen der Charaktere eine Bedeutung zu suchen. ↩
Später in der Erzählung wird deutlich werden, dass diese Götter schwächer sind als der Herr, der Gott Israels (V. 26). ↩
Im hebräischen Grundtext werden die deutschen Worte „Wort“ und „Sache“ durch dasselbe Wort dâbârausgedrückt. ↩
Falls Ehud diese Worte zu den Dienern gesagt hat, die er auch darüber informiert hat, dass er bei den Götterbildern umgekehrt war – eine Annahme, die man offensichtlich nie beweisen kann –, musste der König den Eindruck gewinnen, dass Ehud an diesen Götterbildern von Gott eine geheime Botschaft empfangen habe. Diese Hypothese würde die weiteren Ereignisse im Obergemach besser erklären. ↩
Daher kann Ehud auch später von den Dienern unbemerkt die Tür verschließen (V. 23). ↩
Hebr. wajjâqâm me’al hakkisse‘. ↩
Im Hebräischen wird „übersenden“ und „ausstrecken“ durch dasselbe Verb šâlawiedergegeben. ↩
Alonso-Schökel, „Erzählkunst“: 152. ↩
Diese Reaktion wird auch durch die phonetische Wortwahl im Hebräischen unterstützt. ↩
Das hebr. Wort happarsedonâh (V. 22) findet sich im Alten Testament nur an dieser Stelle. Der bestimmte Artikel dieses Substantivs weist auf etwas Bekanntes hin. Da im Kontext jedoch nichts genannt wird, worauf mit diesem Wort Bezug genommen werden könnte, muss der Leser mit dem Bezeichneten allgemein bekannt sein. Mit der Form des Substantivs wird zudem die Richtung bezeichnet. Zusammen mit dem Verb js‘ (herausgehen, -kommen) bezeichnet das Substantiv also die Richtung, in der etwas herauskommt. Im folgenden Vers wird nun Ehud ausdrücklich als derjenige genannt, der aus dem Obergemach herausgeht (js‘), so dass er in unserem Ausdruck wohl nicht gemeint ist. Damit bleibt nur noch das Schwert, das an der mit dem Substantiv bezeichneten Stelle herauskommt. Da Ehud den König, der von ihm ja ein Wort Gottes erwartet, wahrscheinlich von vorne angreift, kann das Schwert nur hinten aus Eglon herauskommen. Wo das Schwert dann genau herauskommt, kann aus der Reaktion der Diener (V. 24) erschlossen werden. Sie vermuten, dass Eglon sein Geschäft verrichtet. Wie sollten die Diener auf solch eine Idee kommen, wenn Eglon sein Obergemach verschließt, außer wenn sie etwas entsprechendes riechen, da dieser Raum, wo Eglon ein Wort Gottes empfangen wollte, sicher nicht der übliche Raum für solche Geschäfte war? So liegt es nahe, dass mit dem Substantiv parsedôneuphemistisch der After bezeichnet wird (C. F. Keil und F. Delitzsch, Biblical Commentary on the Old Testament, Bd. 4: Joshua, Judges, Ruth, Nachdr. (Grand Rapids, Mich.: Eerdmans, 1970), 297). ↩
Alonso-Schökel, „Erzählkunst:“ 152. ↩
Im Hebräischen klingen beide Satzteile ganz ähnlich. ↩
Es kann durchaus sein, dass die Diener Ehud hinausgehen sahen. Doch da an Ehuds Kleidung keinerlei Blutspuren zu sehen waren, weil er das Schwert nicht mehr aus dem König herauszog, schöpften sie keinen Verdacht. ↩
Das Kunstwort hitmahmehâm“bringt Bestürzung und Verwirrung sowie Zögern zum Ausdruck“ (Robert G. Boling, Judges: Introduction, Translation, and Commentary, The Anchor Bible [Garden City, New York: Doubleday, 1975], 87). ↩
Sind die Diener noch immer konsterniert und hilflos – nach dem, was abschließend über sie gesagt wurde (V. 26)? Unterlassen sie es so, das Volk zusammenzurufen? Wir können nur mutmaßen, was inzwischen in Moab geschieht. ↩