ThemenBibelverständnis, Zeitgeist und Bibel

Die Vertrauenswürdigkeit der Bibel

Ist die Bibel wirklich völlig vertrauenswürdig? Können wir unseren Lebenskurs sicher an der Heiligen Schrift orientieren? Oder kann es sein, dass die Bibel doch irgendwo in ihrem Gehäuse einen kleinen Defekt hat?

Damit hatte keiner gerechnet. Vor der Küste Irlands sank plötzlich ein Schiff. Es hatte seinen Kurs verloren, war auf ein Riff gelaufen. Und niemand konnte erklären, warum das passiert war, bis dann ein Taucher den Kompass aus dem Wrack herausholte. Dieser Kompass wurde natürlich sorgfältig untersucht. Und dabei fand man dann ein kleines Stückchen Stahl. Wie kam es dahin? Wenige Stunden vorher hatte ein Matrose den Auftrag bekommen, diesen Kompass zu reinigen. Er hatte das mit seinem Taschenmesser versucht. Dabei war von der Klinge des Messers die Spitze abgebrochen und im Kompassgehäuse steckengeblieben. Dieses kleine Stückchen Stahl bewirkte, dass die Kompassnadel ein wenig aus der Richtung gezogen wurde, das Schiff seinen Kurs verlor und schließlich sank. Es kommt oft auf Kleinigkeiten an. Haben wir einen sicheren Kompass?

Das ist das große Thema dieser Konferenz: Ist die Bibel wirklich völlig vertrauenswürdig? Können wir unseren Lebenskurs sicher an der Heiligen Schrift orientieren? Oder kann es sein, dass die Bibel doch irgendwo in ihrem Gehäuse einen kleinen Defekt hat? Dass sie Irrtümer enthält? Wie vertrauenswürdig ist unser Kompass? Das Thema, was wir behandeln ist keine Schreibtischfrage, sondern eine Existenzfrage. Und deshalb ist die Diskussion um die Bibel innerhalb der christlichen Gemeinde durch alle Jahrhunderte hindurch ein Dauerbrenner geblieben, weil dabei einfach zu viel auf dem Spiel steht. Selbst bei denen, die erst einmal von der allgemeinen Vertrauenswürdigkeit der Bibel ausgehen, bleibt ja die Frage: Wie weit reicht nun diese Vertrauenswürdigkeit? Wie klar und eindeutig spricht die Bibel? Wie wörtlich ist sie denn nun zu nehmen? Ist sie wirklich ein intakter Kompass, der die Richtung genau vorgibt? Oder gleicht die Bibel eher einem Leuchtturm in der Ferne, den man durch den dichten Nebel hindurch noch gerade so erkennt?

In der Glaubensbasis der Evangelischen Allianz, die ja viele positive Feststellungen enthält, finden wir zur Bibelfrage eine interessante Formulierung. Da heißt es:

„Wir bekennen uns zur göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift, ihrer völligen Zuverlässigkeit und höchsten Autorität in allen Fragen des Glaubens und der Lebensführung.“

In dieser Formulierung steckt eine kleine Einschränkung. Die Zuverlässigkeit der Bibel wird behauptet „für alle Fragen des Glaubens (also: Wer ist Jesus Christus? Wie wird man Christ?), für alle Fragen der Lebensführung (Wie sollen wir als Christen unser Leben in dieser Welt und in der Gemeinde gestalten?). Die Zuverlässigkeit der Bibel wird nicht behauptet für alle historischen Aussagen der Bibel. Und damit bietet die Glaubensbasis der Evangelischen Allianz auch Unterschlupf für jene, die meinen, dass die Bibel etliche geschichtliche und naturkundliche Irrtümer enthält. Der Bibelparagraf der Evangelischen Allianz ist ein Beispiel für die Dringlichkeit unserer Frage. Wie weit reicht die Vertrauenswürdigkeit und Verbindlichkeit der Bibel?

Der äußere Zugang

Man kann sich diesem Thema nun auf sehr verschiedenen Wegen annähern. Es gibt einmal den Zugang von außen. Im Gespräch mit Nichtchristen und Skeptikern aller Art liegt es nahe, zunächst auf logische, auf historische Argumente hinzuweisen, die die Zuverlässigkeit der Bibel unterstreichen und bestätigen. Und die gibt es, Gott sei es gedankt, reichlich: Wenn wir über die Qualität der biblischen Manuskripte sprechen, die Entdeckungen der Archäologie untersuchen, die exakten Erfüllungen vieler biblischer Vorhersagen zur Kenntnis nehmen.

Historische, archäologische und naturwissenschaftliche Argumente können Vorurteile abbauen

Jeder, der an der Gemeindebasis oder an der missionarischen Front tätig ist, wird ständig mit diesen Fragen konfrontiert. Und zu all diesen Themen sind in den letzten 25 Jahren viele gute Bücher erschienen. Ich halte es für wichtig, dass wir Christen uns nicht zu fein sind, uns in einige dieser Argumente intensiv hineinzuarbeiten. Es ist wichtig für die Stärkung unseres eigenen Glaubens, und es ist ebenso wichtig für unsere missionarischen Gespräche mit den Skeptikern. Wenn jemand sich da persönlich überfordert sieht, sollte er wenigstens immer ein gutes Buch in der Tasche haben, das er dann weitergibt. Wir wissen, dass wir selbst mit den besten Argumenten niemanden zum Glauben bringen können. Aber historische, archäologische, naturwissenschaftliche Argumente können Vorurteile abbauen und bei vielen eine größere Offenheit für weiterführende geistliche Fragen bewirken. Außerdem sind wir auch hier dem Vorbild der Apostel verpflichtet, bei denen wir sehen, dass sie sich immer wieder auf apologetische Argumentationen eingelassen haben. Petrus fordert das ausdrücklich in l. Petrus 3, 15, der „Magna Charta“ aller Apologetik. Da schreibt er:

„Seid allezeit bereit zur Verantwortung vor jedermann, der von euch Rechenschaft fordert über die Hoffnung, die in euch ist.“

Der innere Zugang

Der innere Zugang zu der Frage: „Wie vertrauenswürdig ist die Bibel?“ greift noch eine Schicht tiefer. Allerdings erfordert er die Zustimmung zu zwei Voraussetzungen. Wer sich in einem Vertrauensverhältnis zu Jesus Christus befindet, wer persönlich an ihn glaubt, der erfüllt die Voraussetzung eins. Und wer zugesteht, dass die Evangelien wenigstens im Großen und Ganzen einen echten Eindruck von Jesus vermitteln, erfüllt die zweite. Wer nun diese beiden Voraussetzungen teilt, findet bei Jesus selbst die entscheidende Antwort auf die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit der Bibel.

Der Neutestamentler John Wenham hat das so zugespitzt:

„Sogar für jenen Skeptiker, der viele Passagen der Evangelien für fragwürdig hält, bleiben noch genügend Aussagen von Jesus übrig in denen er sich zur Vertrauenswürdigkeit der Bibel äußert.“

Und dann fügt Wenham hinzu:

„Wenn wir zur Bibelfrage keine Lehre von Jesus erheben könnten, dann erst recht nicht zu irgend einem anderen Thema.“1

Mit anderen Worten: Wir finden in den Berichten über Jesus reichlich Material zur Vertrauenswürdigkeit der Bibel. Er hat sich nicht nur in einigen Schlüsselsätzen und besonders pointierten Statements dazu geäußert, sondern er hat immer wieder darüber geredet: in Predigten, in Gesprächen, in Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern. In der Zeit vor seiner Kreuzigung genauso wie in den 40 Tagen zwischen Auferstehung und Himmelfahrt. Mit welcher Stoßrichtung hat Jesus dieses Thema behandelt? Die vielen Äußerungen lassen sich in einer ersten These zusammenfassen.

l. These: Die Vertrauenswürdigkeit der Bibel wird von Jesus garantiert.

a) Jesus bestätigt die Autorität des alten Testaments

Jesus macht völlig klar, dass er alttestamentliche Geschichten nicht als Legenden oder Lehrerzählungen oder Symbole versteht, sondern immer als echte Geschichte

Zunächst die historische Zuverlässigkeit: Ob Jesus vom Brudermord des Kains spricht oder von der Sintflut, ob er an die Person des Abraham erinnert, oder sich auf die Zerstörung von Sodom und Gomorra bezieht, immer behandelt Jesus diese Personen und diese Ereignisse als reale Geschichte. Und er macht überhaupt keinen Unterschied zwischen den älteren und den jüngeren Passagen des Alten Testaments. Sie werden durchgängig behandelt als ernstzunehmende Berichte über echte Personen und wirkliche Ereignisse. Die Art und Weise wie Jesus alttestamentliche Geschichten einsetzt, macht völlig klar, dass er sie nicht als Legenden oder Lehrerzählungen oder Symbole versteht, sondern immer als echte Geschichte. Und dabei fällt auf, dass Jesus besonders gern jene Berichte anführt, an denen der sogenannte moderne Zeitgenosse besonderen Anstoß nimmt, zum Beispiel Jona im Bauch des großen Fisches. In Matthäus 12, 41 können Sie lesen, wie Jesus sagt:

„Die Leute von Ninive werden auftreten beim jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht (also mit seinen Zeitgenossen) und werden es verdammen. Denn sie taten Buße nach der Predigt des Jona. Und siehe, hier“ – und damit meint Jesus sich selbst – „hier ist mehr als Jona.“

Die Verwendung der Jonageschichte lässt keinen anderen Schluss zu, als dass Jesus sie für ein reales Ereignis hält. Er spricht vom jüngsten Gericht, in dem Jesus selbst als Richter auftreten wird. In diesem realen Gericht werden die Leute von Ninive als reale Zeugen erscheinen. Ein Ausleger, T.T. Perowne, hat dazu gesagt:

„Sollen wir wirklich annehmen, dass imaginäre Personen (also unwirkliche Personen) die durch die imaginäre Predigt eines imaginären Propheten eine imaginäre Umkehr vollzogen, sollen wir wirklich annehmen, dass die an jenem Gerichtstag auftreten werden, um die wirkliche Schuld von Jesu wirklichen Hörern zu verdammen?“2

Und dann sehen wir, wie Jesus im nächsten Vers noch eine weitere Person anführt, nämlich die Königin von Saba. Sie wird bei derselben Veranstaltung auftreten wie die Leute von Ninive (Mt 12,42):

„Die Königin vom Süden wird auftreten beim jüngsten Gericht mit diesem Geschlecht und wird es verdammen. Denn sie kam vom Ende der Erde, um Salomos Weisheit zu hören und siehe, hier ist mehr als Salomo.“

Sie sehen, Jesus behandelt die Königin von Saba und Salomo, an deren Existenz kaum einer zweifeln wird, genauso realistisch wie die Vorgänge um den Propheten Jona. Und wir könnten viele ähnliche Beispiele anführen, etwa Noah, oder den Schöpfungsbericht.

Jesus bestätigt deutlich die historische Zuverlässigkeit des alttestamentlichen Befundes, und er bestätigt auch die Autorität der alttestamentlichen Lehre. Das ist ebenfalls sehr wichtig. Überlegen Sie: Als Jesus die Händler aus dem Tempelbezirk hinauswarf, begründet er es mit Worten aus dem Alten Testament! Mit den theologischen Experten seiner Zeit hat Jesus harte Kontroversen ausgetragen. Und nun dachten viele Zeitgenossen: „Nun, wenn er sich mit den Gesetzeslehrern so heftig auseinandersetzt, dann wird er wohl auch eine kritische Haltung gegenüber dem Gesetz, gegenüber dem Alten Testament haben.“ Aber genau das Gegenteil stimmt. Die theologischen Meinungsmacher hatten sich schon damals ziemlich weit vom Wort Gottes im Alten Testament entfernt. Sie hatten schon damals Gottes Wort mit menschlichen Meinungen und Traditionen vermischt. Und gegen diese Verfälschungen und Verzerrungen des Alten Testaments ist Jesus massiv angegangen. Eine klassische Passage finden Sie in Markus 7 von Vers 8 an. Da sagt Jesus:

„Ihr verlasst Gottes Gebot und haltet der Menschen Satzungen. Wie fein hebt ihr Gottes Gebot auf, damit ihr Eure Satzungen aufrichten könnt.“

Gottes Wort wird dem Menschenwort deutlich entgegengesetzt. Und auch an einer Schaltstelle der Bergpredigt, nämlich Matthäus 5,17, warnt Jesus ausdrücklich davor, die Lehre des Alten Testaments gegen seine eigene Lehre auszuspielen. Da sagt er diesen berühmten Satz:

„Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.“

Kein Gegensatz zwischen mir und dem Alten Testament, sagt Jesus. Und dann fährt er in Vers 18 fort:

„Wahrlich, ich sage euch, bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe, noch ein Tüpfelchen vom Gesetz, bis alles geschieht.“

Und erst, nachdem Jesus so die völlige Einheit zwischen seiner Lehre und der Lehre des Alten Testaments deutlich gemacht hat, folgen dann ab Vers 21 in Matthäus 5 die sogenannten Antithesen, wo Jesus sagt: „Ihr habt gehört, dass zu den Alten gesagt ist …“. Es folgt dann meistens ein Bibelzitat oder ein Teil eines Bibelzitats, dem sich die Antithese Jesu anschließt.

Wie sind diese Antithesen zu verstehen?

  1. Sie wenden sich gegen den Missbrauch und die Verdrehung des Alten Testaments durch die Pharisäer und Schriftgelehrten.
  2. Mit ihnen bringt Jesus die ursprüngliche Zielrichtung des alttestamentlichen Gebots wieder in Erinnerung.

In einigen Fällen gehen die Antithesen in der Tat über das alttestamentliche Gebot hinaus und schreiben es aufgrund der neuen heilsgeschichtlichen Epoche, die mit Jesus angebrochen ist, fort. Aber wo Jesus das Alte Testament autoritativ fortschreibt, da geschieht es nie als Kritik am Alten Testament. Ich habe einen fünfjährigen Sohn, der darf jetzt noch nicht alleine in die Innenstadt von Osnabrück fahren. Das werden Sie verstehen. In einigen Jahren werde ich dieses Verbot aufheben, weil dann eine neue Situation eingetreten sein wird. Und dann darf Lukas alleine in die City von Osnabrück. Wenn Jesus das alttestamentliche Gebot fortschreibt, dann nie, weil es vorher falsch war, sondern weil mit seinem Kommen eine neue Situation eingetreten ist.

Wenn Jesus das alttestamentliche Gebot fortschreibt, dann nie, weil es vorher falsch war, sondern weil mit seinem Kommen eine neue Situation eingetreten ist

Sie können sich das am Scheidungsrecht klarmachen. Ursprünglich hatte Gott die lebenslange Einheit der Ehe vorgesehen. Jesus zitiert in Matthäus 19 dazu den Schöpfungsbericht. Dann aber machte sich durch die Sünde der Menschen im Laufe der Jahre eine willkürliche Scheidungspraxis in Israel breit. Und dem begegnet Gott mit dem alttestamentlichen Scheidungsrecht, wo der Scheidebrief überreicht werden muss. Gott rechtfertigt die Scheidung nicht. Aber er will mit dieser Scheidungsordnung die menschliche Willkür eindämmen. Mit dem Kommen Jesu hat sich diese Situation wieder verändert. Und wer nun zu Jesus gehört, wer in Verbindung mit dem Weinstock (Joh 15) lebt, für den gilt wieder die Situation vom Anfang. Deswegen ist es für einen Christen von Jesus her nicht mehr erlaubt, sich von seinem Ehepartner scheiden zu lassen und dann erneut zu heiraten. So stellt Jesus den ursprünglichen Zustand wieder her und schreibt das alttestamentliche Gebot aufgrund der neuen heilsgeschichtlichen Situation fort.

Jesus bestätigt – und wir könnten das an vielen anderen Punkten nachweisen – die Autorität der alttestamentlichen Lehre. Er hat das in dem Spitzensatz von Johannes 10,35 einmal zusammengefasst: „Die Schrift kann nicht gebrochen werden.“ Warum nicht? Weil die alttestamentlichen Schriften göttliche Qualität haben. Das ist das Nächste, was wir festhalten:

b) Jesus bestätigt die göttliche Inspiration des Alten Testaments

Jesus hat die göttliche Inspiration des Alten Testaments immer wieder betont. Das Grundprinzip finden Sie in Markus 12, 36: Da zitiert Jesus Psalm 110, einen Psalm Davids. Und er schickt dem folgende Einleitung voran: „David selbst hat durch den Heiligen Geist gesagt …“ Merken Sie: Jesus unterschlägt nicht den David. Er unterschlägt nicht die menschlichen Verfasser der Bibel. Jesus lehrt nirgendwo eine mechanistische Diktattheorie. Aber er macht zugleich deutlich: Der eigentliche Autor, der hinter allen biblischen Schriften steht, ist Gott selbst. Er leitet die Verfasser mit ihren Begabungen und Schreibstilen. Er gebraucht sie durch seinen heiligen Geist. Und diese göttliche Autorschaft ist es, die den Schriften der Bibel das Siegel der absoluten Vertrauenswürdigkeit aufdrückt.

Jesus macht deutlich: Der eigentliche Autor, der hinter allen biblischen Schriften steht, ist Gott selbst

Dabei müssen wir noch einen Schritt weitergehen: Wenn Jesus von der Sache der Inspiration redet, dann meint er nicht in erster Linie die Schreiber, wie wir vielleicht vermuten könnten. Nein, er meint in erster Linie die Schriften. Mose und David waren fehlerhafte Menschen. Sie haben möglicherweise auch andere Sachen geschrieben, die nicht in die Bibel kamen und nicht Heilige Schrift wurden. Aber was in die Bibel hineingekommen ist unter der providentia dei, das ist inspiriert, das trägt Gottes Siegel, das ist Gottes Wort. Jesus redet also in erster Linie nicht von der Inspiration der Schreiber, sondern von der Inspiration der Schriften. Jesus redet also letztlich von der Inspiration der Wörter. Denn die Schriften bestehen aus Wörtern. Und damit lehrt Jesus, auch wenn man es kaum auszusprechen wagt, die Wortinspiration. Und wenn Sie dann das Wort „Wort“ auch noch ins Lateinische übersetzen, kommen Sie eben zur Verbalinspiration. Es ist keine pietistische Erfindung. Es ist nicht eine übersteigerte Theorie der Orthodoxie. Sondern die Inspiration der Schriften – eben mit ihren Worten und Wörtern – wird von Jesus selbst gelehrt. Und das hat eine enorme Konsequenz, denn es bedeutet: Was die Schrift sagt, sagt Gott. So kann Jesus auch von der Schrift fast wie von einer Person reden. Er sagt einmal: „Wer an mich glaubt, wie die Schrift sagt …“ (Johannes 7,38).

Sehen Sie: Gott hat seinen eigenen Sohn als Mensch in die Welt gegeben. Und so hat Gott sein eigenes Wort als Schrift in die Welt gegeben. Wir dürfen Buchstaben und Geist nicht auseinander reißen. Und daher rührt die Kraft der Schrift. Damit wird die Schrift zur entscheidenden Waffe in der Wüstenschlacht gegen den Teufel. Dort begegnet Jesus dem Satan nicht mit einem spektakulären Wunder, sondern er hält ihm dreimal die Autorität der Bibel entgegen: „Es steht geschrieben … „

Wir haben also ein klares Zwischenergebnis. Kein anderer hat die göttliche Qualität der alttestamentlichen Schriften so eindeutig untermauert wie Jesus selbst. Die historische Zuverlässigkeit, die lehrmäßige Autorität, die göttliche Inspiration. Um noch ein letztes Mal John Wenham zu zitieren:

„Jesu Worte zum Thema bilden zusammen eine große Lawine von zunehmender Überzeugungskraft, der man auf ehrlichem Wege nicht mehr entkommen kann.“

Wohl gemerkt, Jesus hat die Schrift nicht um ihrer selbst willen verehrt, aber er hat ihren Autor geehrt. Und Jesus hat es nie zugelassen, dass ein Keil getrieben wurde zwischen den Autor und sein Produkt, zwischen die Heilige Schrift und den lebendigen Gott. Was die Schrift sagt, sagt Gott.

c) Jesus behauptet die göttliche Qualität seiner eigenen Worte

Wie aber steht es nun um die göttliche Qualität des Neuen Testamentes? Das Neue Testament war ja zur Erdenzeit Jesu noch nicht geschrieben. Was können wir, ausgehend von Jesus, zur Vertrauenswürdigkeit des Neuen Testaments sagen?

Das hat ja die Schriftgelehrten immer auf die Palme gebracht, dass Jesus für seine eigenen Worte göttliche Qualität beanspruchte. Dass er seine eigenen Worte gleichwertig neben die Heiligen Schriften des Alten Testaments stellte. Dass Jesus mit dem Anspruch auftrat: „Ich bringe die letztgültige Exegese des Alten Testaments. Amen, Ich sage euch …“ Das steht 31 mal bei Matthäus, 13 mal bei Markus, 6 mal bei Lukas, 25 mal bei Johannes. „Amen, ich sage euch …“ In unseren Ohren klingt das harmlos, in den Ohren eines Juden darf so nur Gott selbst reden. Und Jesus hat so gesprochen. Und in Matthäus 24, 35 hat er gesagt:

„Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte werden nicht vergehen.“

Ja, selbst im jüngsten Gericht (Johannes 12,48) werden die Worte Jesu das entscheidende Kriterium für das Urteil sein. Also, Jesus behauptet nicht nur die Autorität des Alten Testaments, sondern er behauptet die göttliche Qualität seiner eigenen Worte.

d) Jesus beglaubigt die Autorität der neutestamentlichen Schreiber

Selbst im jüngsten Gericht werden die Worte Jesu das entscheidende Kriterium für das Urteil sein

Er hat ja seine Worte nicht selbst aufgeschrieben, sondern sie seinen Jüngern eingeschärft. Und er hat angekündigt, dass seine Leute seine Worte und Werke zuverlässig weitergeben werden. Er beglaubigt die Autorität der neutestamentlichen Schreiber. Und er hat seinen Jüngern nun eine besondere Verantwortung als Zeugen aufgetragen. In Johannes 15, 27 nennt er sie in einem Atemzug mit dem Heiligen Geist:

„Und auch Ihr (genauso wie der Heilige Geist, von dem er vorher gesprochen hat), seid meine Zeugen, denn Ihr seid von Anfang an bei mir gewesen.“

Damit kündigt Jesus seinen Zeugen nicht nur ihre besondere Verantwortung, sondern auch ihre besondere Fähigkeit und Befähigung an. Im ganzen hohenpriesterlichen Gebet wird das deutlich, und zum Beispiel auch in Johannes 14, 26:

„Der Tröster, der Heilige Geist, den mein Vater senden wird in meinem Namen, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“

Und in Johannes 16,12–13 macht Jesus dann noch mal deutlich: Der Heilige Geist wird euch auch Neues lehren. Er wird euch Dinge klarmachen, die Ihr jetzt noch nicht fassen könnt. Und dieses Leiten, Lehren, Erinnern und Neuoffenbaren durch den Heiligen Geist kommt dadurch endgültig zum Ziel, dass die Schriften des Neuen Testaments geschrieben werden und den biblischen Kanon abschließen.

Die Apostel und ihre Mitarbeiter haben begriffen, was Jesus von ihnen wollte. Sie haben diese Aufgabe angenommen und sie waren sich immer ihrer besonderen Autorität bewusst. Und wenn wir nachprüfen wie sie über Inspiration gedacht haben, wird man sehen: sie waren gute Schüler ihres Meisters. Sie wussten, dass die alttestamentlichen Schriften von Gott selbst inspiriert waren. Und umso mehr muss es nun überraschen, dass die Apostel ihre eigenen Schriften gleichberechtigt neben die Schriften des Alten Testamentes stellen. Sie wussten genau: Unsere Schriften sind genauso inspiriert.

So kann Paulus in l. Korinther 2,13 sagen: „Wir sprechen mit Wörtern, die der heilige Geist lehrt.“ Paulus war ein großartiger Theologe. Paulus hat bewusst gedacht, geschrieben, argumentiert. Aber er sagt gleichzeitig: Wir sprechen mit Wörtern, die der Heilige Geist lehrt, nicht mit Wörtern, die menschliche Weisheit lehrt. Die Apostel und ihre engsten Mitarbeiter standen in einer einzigartigen Nähe zu Jesus, in einer einzigartigen Beauftragung durch ihn. Und sie bringen Gottes schriftliche Offenbarung zu ihrem endgültigen Abschluss. Der Abschluss des Kanons ist bereits im Neuen Testament angelegt und wird indirekt angekündigt. Die Apostel und ihre engsten Mitarbeiter hatten die Autorität, diese Überlieferung weiterzugeben. Und ihre Schriften haben sich Schritt für Schritt in der Gemeinde durchgesetzt. Ich möchte Sie nur auf eine Tatsache der Kanonsgeschichte aufmerksam machen: Schon die frühesten Kirchenväter, also bereits am Anfang des zweiten Jahrhunderts, sagen deutlich, dass sie die neutestamentlichen Schriften als ein göttliches Gegenüber betrachten. Dort die göttlichen Schriften der Apostel; hier wir, die Kirchenväter des zweiten Jahrhunderts, die keine vergleichbare Autorität beanspruchen können.

Die Apostel waren sich immer ihrer besonderen Autorität bewusst

Unsere Frage lautete: Was ist die entscheidende Begründung für die Vertrauenswürdigkeit der Bibel? Und die Antwort darauf haben wir zusammengefasst in einer ersten These: „Die Vertrauenswürdigkeit der Bibel wird von Jesus garantiert.“ Er bestätigt die Autorität des Alten Testaments. Er behauptet die göttliche Qualität seiner eigenen Worte. Er beglaubigt die Autorität der neutestamentlichen Schreiber. Das ganze Leben von Jesus war ein großes Plädoyer für die göttliche Autorität der Heiligen Schrift.

Deswegen ist es heute nicht konsequent, wenn wir sagen: „Ich glaube ja an Jesus. Ich halte mich an ihn, das zählt. Aber mit der Bibel muss ich es nicht so genau nehmen.“ Damit kommen wir zu einer zweiten These.

2. These: Die Vertrauenswürdigkeit der Bibel wird auch von Christen relativiert

Was sind die Ursachen dafür? Zunächst ist da die Schlangenfrage, die seit dem Sündenfall im Herzen jedes Menschen lauert: „Sollte Gott gesagt haben?“ In dem Augenblick, wo Gottes Wort meiner Bequemlichkeit widerspricht, neige ich dazu, der Bibel zu widersprechen. Wo die Bibel unsere Pläne in Frage stellt, neigen wir dazu, die Vertrauenswürdigkeit der Bibel in Frage zu stellen. Der erste Grund für diese Anmaßung liegt in unserem Herzen. Hinzu kommt nun ein starker Druck seitens der Gesellschaft. Biblische Positionen werden immer selbstverständlicher und frecher an den Pranger gestellt. Das biblische Eheverständnis, die biblischen Aussagen zur Homosexualität etwa, oder auch der Absolutheitsanspruch Jesu. Und wer mit den Leuten redet, der merkt, dass sich die Situation zuspitzt. Galten noch vor 10 bis 15 Jahren die biblischen Positionen zu diesen Fragen als veraltet, so gelten sie heute etwa in dem, was die Bibel über Homosexualität sagt, als menschenverachtend. Das ist ein Unterschied.

Das Handwerkszeug zur Zertrümmerung der Bibel haben tragischerweise die Theologen in Gestalt der historisch-kritischen Theologie selbst geliefert. Das ist die Theologie die in den letzten 250 Jahren die deutsche Szene beherrscht hat, deren Kernstück die sogenannte historisch kritische Methode ist. Diese Methode ist kein neutrales Instrument, sondern stellt in sich selbst eine geschlossene Weltanschauung dar, ein Glaubensbekenntnis. Dieses Glaubensbekenntnis hat zu Anfang des 20. Jahrhunderts Ernst Trölsch formuliert. Es hat drei Säulen.

  1. Säule: Der Mensch zitiert die Bibel vor seinen Richterstuhl. (prinzipielle Kritik)
  2. Säule: Wunder sind unmöglich. (Kriterium der Analogie)
  3. Säule: Gott kann oder Gott will nicht wirklich in diese Welt eingreifen. (Kriterium der Korrelation).

Das Glaubensbekenntnis der historisch–kritischen Methode steht gegen das Glaubensbekenntnis der Bibel

Der Mensch zitiert die Bibel vor seinen Richterstuhl. Wunder gibt es nicht. Gott greift nicht ein. So wird offenkundig: Das Glaubensbekenntnis der historisch-kritischen Methode steht gegen das Glaubensbekenntnis der Bibel. Und trotzdem hat die historisch-kritische Theologie nahezu das Monopol an den Universitäten erobert. Die Folgen wirken sich in unserer Gesellschaft bis hinein in die Schulen und Kindergärten aus. Wer an der Zuverlässigkeit der Bibel festhält, gerät unter Druck und wird als „Fundamentalist“ abgestempelt. Aber nicht als Fundamentalist im alten Sinne, sondern im neuen. Man rückt uns in der Gesellschaft Seite an Seite mit den gewalttätigen islamischen Fundamentalisten. Und sogar Bundespräsident Herzog hat vor kurzem sinngemäß behauptet, dass er jegliche Art von Fundamentalismus ablehne. Wer den Absolutheitsanspruch Jesu betont, kann also schnell zur Gefahr für den Tarum einer multikulturellen Gesellschaft werden.

Ich habe das vor kurzem [1995] selbst erlebt. Wir hatten eine Jubiläumsveranstaltung in unserer Gemeinde zum Gedenken an einen Pfarrer der Pauluskirche, der sich damals im Widerstand gegen die Nationalsozialisten mutig eingesetzt hatte. In der Predigt sprach ich nicht nur über den Kirchenkampf damals, sondern auch über den Kirchenkampf heute und betonte im Zuge der Schriftauslegung, dass Jesus Christus der einzige Weg zur Rettung sei und dass es für jeden Moslem, Buddhisten und Hinduisten und auch für jeden, der dort in der Kirche saß, darauf ankomme, sich persönlich zu Jesus Christus zu bekehren. Hinterher, beim Festakt in einem Seitengespräch, wurde ich vom Oberbürgermeister der Stadt Osnabrück massiv angegriffen:

„Wie können Sie so etwas behaupten?! Sie sind Vertreter einer öffentlichen Organisation! Sie haben eine Verantwortung für den öffentlichen Frieden!“

Da predigt ein Pastor über Johannes 14, 6 und er wird dafür vom Oberbürgermeister seiner Stadt angegriffen. Ich habe dem Oberbürgermeister daraufhin sinngemäß gesagt:

„Wenn das, was Sie hier sagen, Praxis in unserer Stadt wird, dann ist das das Ende der Gewissensfreiheit und der Verkündigungsfreiheit der Kirche.“

Wer an der Vertrauenswürdigkeit der Bibel festhält, gerät unter Druck auch innerhalb der Kirche. Der Präses der Rheinischen Kirche – das ist so etwas wie ein Bischof – hat vor einigen Monaten sinngemäß geschrieben:

Wer Lektor in der Rheinischen Landeskirche werden will, darf nicht davon ausgehen, dass die ganze Bibel Gottes verbindliches Wort ist

„Wer Lektor in der Rheinischen Landeskirche werden will, darf nicht davon ausgehen, dass die ganze Bibel Gottes verbindliches Wort ist.“

Also, Sie können alle möglichen Dinge denken und behaupten, um in der Rheinischen Landeskirche Lektor zu werden, nur dürfen Sie nicht offen sagen, dass die Bibel Gottes verbindliches Wort sei. Eine bedrückende Bilanz. Sie macht deutlich: den bibeltreuen Christen weht in unserer Gesellschaft der Wind zunehmend schärfer ins Gesicht. Und da ist die Versuchung groß, unsere Treue zur Bibel ein bisschen zurückzunehmen, ein wenig zu relativieren. Wie schnell setzt da die Schere an: entweder im Kopf oder im Kehlkopf. Entweder wir denken bestimmte Dinge gar nicht mehr oder wir sagen sie zumindest nicht mehr.

Aber nicht nur die Gesellschaft macht uns zu schaffen. Auch in den eigenen Reihen breitet sich unverhohlen eine Form von Subjektivismus aus. Je nach Geschmack, Vorliebe und persönlicher Erfahrung werden bestimmte Aussagen der Bibel akzeptiert und andere für zeitbedingt oder unwichtig erklärt, also relativiert:

  • etwa Jesu Aussagen über die Zuverlässigkeit der biblischen Anfangsgeschichte.
  • etwa die biblische Auffassung, dass der Geschlechtsverkehr seinen Platz nur in der Ehe hat (Gilt das noch in allen unseren Jugendbibelkreisen?);
  • die biblische Aussage, dass ein Christ nur einen Christen heiraten soll (Wir sollten nicht am fremden Joch ziehen mit den Ungläubigen, 2Kor 6,14);
  • oder die neutestamentliche Lehre, dass der Mann in der Ehe eine liebevolle Führungsverantwortung wahrzunehmen hat;
  • oder die Betonung des Apostel Paulus, dass die Hauptverantwortung für die Gemeindeleitung, wenn es um gemeindeleitende Lehre geht, nur von Männern wahrgenommen werden soll.

Diese und andere Punkte sind in der Bibel klar beschrieben. Sie werden dort eindeutig gelehrt. Aber ihre Verbindlichkeit wird auch von manchen Evangelikalen relativiert oder einfach nicht zur Kenntnis genommen.

Evangelikaler Pragmatismus

Eine weitere Tendenz, die die Vertrauenswürdigkeit der Bibel relativiert, ist das, was ich den „Evangelikalen Pragmatismus“ nenne. Dieser evangelikale Pragmatismus verfolgt meist sehr ehrenwerte und gute Ziele, aber zur Erreichung dieser Ziele nimmt er Wege und Methoden in Kauf, die von der Bibel oft nicht abgedeckt sind, oder ihr sogar widersprechen.

Nehmen wir das Beispiel Evangelisation: Wir haben einen klaren biblischen Auftrag. Und nun werden immer wieder Stimmen laut, die sagen: „Lasst uns doch mit der Römisch-Katholischen Kirche zusammenarbeiten“, ich vergröbere jetzt diese Voten, „dann erreichen wir mehr Leute. Lasst uns doch ruhig liberale Kirchenführer in unsere Komitees mit aufnehmen, dann bekommen wir mehr Anerkennung in der Gesellschaft und man kann uns nicht so schnell den Sektenvorwurf anhängen.“ Das ist Pragmatismus. Er sucht den kürzesten Weg zum Ziel. Er ist gut gemeint, aber er hat einen großen Fehler. Der Pragmatismus setzt beim Menschen an, bei dem, was jetzt in dieser Situation menschlich gesprochen dem Evangelium nützlich sein könnte. Der Pragmatismus setzt nicht bei der Heiligkeit Gottes und seiner Gebote an.

Das Neue Testament warnt uns eindrücklich davor, gemeinsame Sache mit Irrlehrern zu machen. Und die Römisch-Katholische Kirche – auch wenn es in ihren Reihen echte, aufrechte Christen geben mag – ist als Institution von ihren Bekenntnissen her eine Institution der Irrlehre. Und deshalb, denke ich, dürfen wir hier keinen Schulterschluss vornehmen. Pragmatismus setzt sich schnell über solche Warnungen hinweg, da es ja um ein gutes Ziel geht. Pragmatismus bildet sich ein, in manchen Situationen eben doch etwas klüger zu sein, als die Bibel. Man solle sich doch nicht so gesetzlich an den Buchstaben klammern! Wie schnell können wir in diesen Pragmatismus hineinrutschen!

Ein in christlichen Kreisen bekannter Psychologe hat vor einiger Zeit in einer christlichen Zeitschrift einen Aufsatz zum Thema Scheidung veröffentlicht. Und da betont er:

„Jesus hat das zwar gesagt, – das sehe ich auch – aber angesichts der Umstände müssen wir aus christlicher Nächstenliebe manchmal doch bewusst von dem abweichen, was Jesus gesagt hat.”

„Jesus hat die Scheidung für Christen untersagt. Aber: da es so viele schwierige Fälle gibt, rate ich als Psychologe und als Seelsorger in bestimmten Fällen trotzdem zur Scheidung. Und ich lehre auch die Seelsorger so und schule sie entsprechend.“

Er hat das bestimmt gut gemeint. Aber: Was ist hier abgelaufen? Jesus selbst, die Bibel stellt ein Gebot auf und sagt: „Im Reich Gottes gibt es für Christen ein neues Scheidungsrecht.“ Und der christliche Psychologieprofessor schreibt: „Jesus hat das zwar gesagt, – das sehe ich auch – aber angesichts der Umstände müssen wir aus christlicher Nächstenliebe manchmal doch bewusst von dem abweichen, was Jesus gesagt hat.“ Das ist evangelikaler Pragmatismus. Gut gemeint, aber er setzt beim Menschen an, bei seinen Bedürfnissen, und relativiert damit letztlich die Vertrauenswürdigkeit der Bibel. Dieser Pragmatismus und Subjektivismus konnte sich in den letzten Jahren ausbreiten und das Denken vieler Christen prägen, weil die Vertrauenswürdigkeit der Bibel noch von einer letzten Tendenz angenagt wird, die ich hier nennen möchte, und das ist die Lehrmüdigkeit.

Lehrmüdigkeit

Ach, was sollen wir uns ständig um lehrmäßige Fragen streiten! Wozu brauchen wir immer diese langen Bibelarbeiten? Was sollen die vielen Worte? Hauptsache, wir haben die dogmatischen Grundbegriffe drauf und sind evangelistisch durch die „Vier geistlichen Gesetze“ ausgerüstet. Das müsste doch reichen!

Die Verbindlichkeit der Bibel wird zwar behauptet, aber die praktische Gemeindearbeit wird längst von anderen Faktoren bestimmt

Der amerikanische Theologe David F. Wells hat die Situation der Evangelikalen in Amerika untersucht. Und als ich das las, hat es mich aufgeschreckt, weil ich immer dachte: Das trifft fast genauso auf unsere deutsche Situation zu! Wells hat einen Aufsatz geschrieben unter dem Titel „The Bleeding of the Evangelical Church.“ Das heißt: „Das Ausbluten der Evangelikalen Kirche.“

Wells hat beobachtet, dass die Verbindlichkeit der Bibel zwar behauptet wird, wie ein Etikett Aber die praktische Gemeindearbeit wird in vielen evangelikalen Kirchen längst von anderen Faktoren bestimmt. Die Seelsorge wird weitgehend von der Psychologie dominiert, natürlich unter Einbeziehung der Bibel, aber die gibt nicht mehr den Ton an. Der Gemeindeaufbau orientiert sich immer stärker an Management-Konzepten und Erkenntnissen der Kommunikationswissenschaft, natürlich unter Einbeziehung der Bibel, aber sie gibt nicht mehr den Ton an. Aber das ist gerade die entscheidende Frage: Wer gibt den Ton an? Wells schreibt dann weiter, und ich zitiere wörtlich:

„Unsere Techniken für Gemeindewachstum, Techniken für Seelsorge, für die Predigt, all dieses wird weitgehend entwickelt ohne die Heilige Schrift zu befragen, so als wäre die Bibel allein nicht in der Lage, die Gemeinde des 20. Jahrhunderts zu ernähren und zu führen. Wir müssen es wieder entdecken, was es bedeutet, sich von der Welt zu unterscheiden. Und wir müssen uns selbst wieder zu Gefangenen von Gottes biblischer Wahrheit machen. Selbst, wenn wir damit quer zur Kultur unserer Zeit stehen sollten.“

Ich komme zum Schluss. Die Vertrauenswürdigkeit der Bibel war unser Thema. Sie wird garantiert von Jesus selbst. Und doch stellen wir immer wieder bei uns selbst und bei anderen Christen mit Erschrecken fest, dass das, was Jesus festschreibt, in unserer Lebens- und Gemeindepraxis allzu oft relativiert wird, missachtet, vergessen, untergraben, eingeschränkt.

Wie kommen wir da heraus? Wie kommen wir aus unserem praktizierten Misstrauen gegenüber der Bibel heraus? Ich sehe nur einen Weg: Wir müssen uns das Schriftverständnis Jesu zu eigen machen. Wir müssen uns auch bezüglich des Schriftverständnisses in die Nachfolge Jesu begeben. Wir müssen die Vertrauenswürdigkeit, Verbindlichkeit und Autorität der ganzen Bibel akzeptieren. Das ist nicht in erster Linie eine intellektuelle Frage, sondern es ist in erster Linie eine Frage des Gehorsams. Und das hat dann natürlich massive Folgen für unser Denken. Wenn unser Leben Jesus gehören soll, dann will er unser Denken immer umfassender unter seine Regie bringen (vgl. 2Kor 10,5). Und je stärker unser Denken von ihm geprägt ist, umso deutlicher wird sich das in unserem praktischen Gehorsam widerspiegeln. Spurgeon hat seine Leute geradezu beschworen, als er sagte:

„Glauben Sie durch und durch an das von Gott eingegebene Buch! Glauben Sie alles darin! Glauben Sie es völlig! Glauben Sie es mit der ganzen Kraft ihres Wesens.“

Die geistliche Gesundheit und Lebendigkeit der Evangelikalen hängt am täglichen Gehorsam gegenüber jener Bibel, für deren absolute Verlässlichkeit Jesus selbst sich verbürgt hat

Wenn wir uns das zu Herzen nehmen, dann heißt das: Die geistliche Gesundheit und Lebendigkeit der Evangelikalen in Deutschland entscheidet sich nicht an neuen Programmen für Gemeindeaufbau und Gottesdienstgestaltung. Sie entscheidet auch nicht sich an den Strategien unserer Evangelisationen. So wichtig das alles ist, aber die geistliche Gesundheit unserer Gemeinden entscheidet sich an unserer Hingabe an Jesus, und das heißt praktisch: an unserem alltäglichen Gehorsam gegenüber jener Bibel, für deren absolute Verlässlichkeit Jesus sich verbürgt hat. Und wenn das Markenzeichen „bibeltreu“ unser Leben wirklich prägt, dann wird alles andere, was wir sonst noch tun, einen neuen Glanz bekommen, eine neue Vollmacht und gewiss auch eine neue Durchschlagskraft.

So lassen Sie mich schließen mit dem klassischen Vers des Apostel Paulus, in dem er die Würde und Vertrauenswürdigkeit der Bibel zusammengefasst hat. Da schreibt er an seinen Schüler Timotheus in 2Timotheus 3, 16: „Die ganze Schrift ist von Gott eingegeben und nütze zur Lehre, zur Überführung von Schuld, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes vollkommen sei, zu jedem guten Werk völlig ausgerüstet.“

Der Kompass ist intakt. Wir müssen uns nur danach richten. Amen.


  1. John Wenham, Christ and The Bible, Surrey 1993. 

  2. Zitiert bei Wenham, op. cit., S. 19f.