In einem der ursprünglich achtzig Eingänge des Kolosseums in Rom kommt der Besucher an einem beschädigten Steinblock vorbei. Eine lateinische Inschrift weist ihn – sofern er dieser Sprache mächtig ist – darauf hin, dass ein gewisser Lampadius das Gebäude im fünften Jahrhundert wieder instandsetzen ließ.
Gebaut wurde der Komplex, der einst mehr als fünfzigtausend Besuchern Platz bot, als Amphitheatrum Flavium unter der Herrschaft der Kaiser Vespasian, Titus und Domitian. Die offizielle Einweihung im Jahre 80 n.Chr. dauerte drei Monate. Neuntausend Tiere wurden niedergemacht, mehr als die Hälfte davon an nur einem Tag. Wegen einer Kolossalstatue Neros in seiner unmittelbaren Nachbarschaft wird das Bauwerk seit dem frühen Mittelalter als Kolosseum bezeichnet.
Was der Besucher auf dem Stein vermutlich übersieht, sind mehrere Reihen kleiner Löcher von wenigen Millimetern Tiefe, in denen ursprünglich Metallbuchstaben befestigt waren. Geza Alföldy, Professor an der Universität Heidelberg ist die Entzifferung dieser „Geisterschrift“ gelungen:
I[MP(ERATOR)] T(ITVS) CAES(AR) VESPASI[ANVS AVG(VSTVS)]/ AMPHITHEATRV[M NOVVM?] / [EX] MANVBI(I)S (vacat) [FIERI IVSSIT (?)], übersetzt: „Der Imperator Titus Caesar Vespasian Augustus gab das neue Amphitheater aus dem Erlös der Kriegsbeute in Auftrag.“
Um was für eine Beute kann es sich gehandelt haben? Vespasian hatte eine Legion in Germanien geführt und etwa dreißig Schlachten in Britannien geschlagen. Große Reichtümer ließen sich dabei jedoch nicht erwerben. Im Anschluss erhielt er den Befehl zur Niederschlagung des jüdischen Aufstandes (66–70 n.Chr.). Die Reichtümer, die den Römern vor allem in Jerusalem in die Hände fielen, waren nach dem Bericht des Josephus immens.
Insbesondere der herodianische Tempel, der bei seiner Zerstörung noch immer nicht ganz fertiggestellt war, soll an Pracht kaum zu überbieten gewesen sein.
„Der äußere Anblick des Tempels bot alles, was Auge und Herz entzücken konnte. Auf allen Seiten mit schweren goldenen Platten bekleidet, schimmerte er bei Sonnenaufgang in hellstem Glanz und blendete das Auge wie Sonnenstrahlen.“
Noch reicher als die äußere Fassade waren die Schatzkammern, in denen die Tempelsteuern von geschätzten vier bis acht Millionen Juden aus allen Teilen des Römischen Reiches und darüber hinaus aufbewahrt waren. Zwar wurden Stadt und Tempel bei der Einnahme weitgehend zerstört, dennoch machten Titus Legionäre reiche Beute.
„Von den ungeheuren Reichtümern der Stadt wurde in den Trümmern noch ein großer Teil gefunden. Das meiste gruben die Römer aus, doch führten die Angaben der Gefangenen immer wieder zur Entdeckung von Gold, Silber und anderen kostbaren Gegenständen, die von den Besitzern wegen der ungewissen Wechselfälle des Krieges in der Erde verborgen worden waren.“
Der Titusbogen in Rom legt beredtes Zeugnis von der Plünderung ab. Über den Triumphzug des siegreichen Feldherrn in Rom weiß Josephus zu berichten:
„Silber, Gold und Elfenbein in den verschiedensten Formen und Bearbeitungen sah man nicht so sehr als Prunkstücke eines Festzuges als vielmehr wie in einem Strom daherfließen … Beutestücke wurden in Mengen vorbeigetragen, unter denen besonders diejenigen Aufsehen erregten, die man aus dem Tempel von Jerusalem genommen hatte: ein goldener Tisch im Gewicht von mehreren Talenten und ein gleichfalls goldener Leuchter, …“
Allein diese beiden Gegenstände sollen an die dreißig Kilogramm gewogen haben.
Über den Verbleib der Reichtümer war bisher nur bekannt, dass die goldenen Kultgefäße in einem von Vespasian neu errichteten Tempel der Friedensgöttin aufgestellt wurden, und dass der Kaiser das Gesetz der Judäer und die purpurnen Vorhänge des Allerheiligsten in seinen eigenen Palast schaffen ließ. Nach der Entdeckung der Inschrift ist nun davon auszugehen, dass auch der Bau des Kolosseums, zwei Jahre nach dem Ende des judäischen Krieges begonnen, aus dieser Quelle finanziert wurde.
Quelle: Feldman LH (2001) Financing the Colosseum. Biblical Archaeology Review 27:4, 20-31 und 60-61. Mit freundlicher Genehmigung aus: „Studium Integrale Journal“, Mai 2002.