„Das ist der Originalschlüssel für die Kirche des Heiligen Grabes.“ Würdevoll präsentiert Abed Dschude vor dem Eingang der Grabeskirche in Jerusalem das Relikt. „Vor genau 842 Jahren“, da ist sich der ältere Herr ganz sicher, hat der Kurdensultan Saladin seinem Vorvater die Schlüsselgewalt über die heiligste Stätte der Christenheit anvertraut. Fünf christliche Denominationen beanspruchten damals das Recht, die heiligste Stätte der Christenheit, den Hügel Golgatha und das Grab Jesu, zu verwalten: Die römisch-katholischen Lateiner, die griechisch Orthodoxen, die armenisch Orthodoxen, die assyrisch Orthodoxen und die Kopten aus Ägypten. „Und die Orthodoxen wollten lieber Moslems im Besitz der Schlüsselgewalt sehen, als Katholiken aus Rom“, weiß Dschude. So wurde seine Familie zum „Bewahrer der Schlüssel vom Heiligen Grab“.
Weil sich die Christen nicht einigen konnten, haben Muslime seit Jahrhunderten die Schlüsselgewalt zur Grabeskirche. Und wenn heute zu alljährlichen Festzeiten Mönche und Priester gewalttätig werden, sind es israelische Soldaten, die mit List oder Gewalt Frieden stiften müssen. Mittlerweile machen vierzehn Denominationen ihre Ansprüche auf Teile des Areals geltend und es gibt fast nichts, worüber sich die Christen in den nahezu 17 Jahrhunderten Geschichte der Grabeskirche nicht gestritten hätten.
Eigentlich war es denn auch nichts Neues, was israelische Ingenieure mit der Feststellung auslösten, der bauliche Zustand des äthiopisch-orthodoxen Klosters Dir as-Sultan auf dem Dach der Kreuzauffindungskapelle der Heiligen Helena sei bedenklich. Sein Bericht bezeichnete die Bausubstanz als einsturzgefährdet und lebensgefährlich. Vom Vorhof der Grabeskirche steigt man durch zwei finstere Kapellen hinauf auf das Dach, wo die äthiopischen Mönche in Lehmhütten hausen. Die Außenmauern des Areals stammen aus dem 3. Jahrhundert von einer byzantinischen Basilika, die ungefähr doppelt so groß war, wie die heutige Grabeskirche aus dem Mittelalter. Schon im Jahr 2004 hatte sich das israelische Innenministerium bereiterklärt, die Renovierung des äthiopischen Lehmhüttenklosters zu finanzieren. Doch ein Jahrhunderte alter Streit zwischen Kopten und Äthiopiern verhindert das.
Die osmanische Obrigkeit hatte Anfang der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts im sogenannten Status-quo-Dokument genau geregelt, wer welche Kerzen anzünden darf, welche Denomination welche Riten zu welcher Zeit ausführen darf, wer welches Stück Boden wischt. Das bekannteste Symbol des Status quo ist die Leiter unter dem rechten Fenster auf dem Absatz über dem Eingangstor der Grabeskirche. Weil die Armenier ein Recht auf diese Leiter haben, kann sie nicht entfernt werden, obgleich sie keinerlei Funktion mehr hat. Somit sollte heute eigentlich alles peinlichst genau geregelt sein.
Doch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren alle äthiopisch-orthodoxen Mönche der Pest zum Opfer gefallen. Das hatten die Kopten genutzt, um von Dir as-Sultan Besitz zu ergreifen. Türken, Briten und Jordanier, die bis 1967 Jerusalem beherrschten, bevorzugten die ägyptischen Kopten, von denen sich die äthiopisch-orthodoxe Kirche irgendwann einmal abgespalten hat.
Doch am Osterfest 1970 – mittlerweile war Jerusalem unter israelischer Herrschaft – waren die koptischen Mönche zum Gebet in die Grabeskirche gegangen. Währenddessen nutzten ihre äthiopischen Glaubensbrüder die Gunst der Stunde und wechselten die Schlösser des Klosters aus. Israelische Polizisten, die auf dem Anwesen stationiert waren, um gewaltsame Zusammenstöße zu verhindern, ließen die Äthiopier gewähren. Politischer Hintergrund der israelischen Gleichgültigkeit war wohl der gleichzeitig stattfindende Zermürbungskrieg mit Ägypten und die freundschaftlichen Beziehungen des äthiopischen Kaisers Haile Selassi mit dem jüdischen Staat.
Der äthiopische Erzbischof Matthias will heute keinerlei Besitz- oder Nutzungsrechte der ägyptischen Kopten anerkennen und fordert von den Israelis als „neutraler Faktor“, die notwendigen Reparaturen durchzuführen. Eigentlich hatten die Israelis ja die Finanzierung der Klosterrenovierung angeboten, weil die Christen sich nicht einigen konnten. Doch jetzt will das Innenministerium in Jerusalem die Arbeiten erst vornehmen lassen, wenn sich die beiden afrikanischen Denominationen geeinigt haben. Möglicherweise hat der „neutrale Faktor“ in dem antiken Streit um das Grab Jesu jetzt auch die hochsensiblen diplomatischen Beziehungen mit Ägypten und Äthiopien im Auge zu behalten, die sich seit den 1970er Jahren entscheidend verändert haben. Deshalb bleibt abzuwarten, wie die Einsturzgefahr der heiligsten Stätte der Christenheit abgewendet wird. Aus dem Vatikan wird diese Gefahr ohnehin als bloße Farce abgetan.