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„Der Ehrliche ist immer der Dumme“ oder „Ehrlich währt am längsten“?

Lohnt es sich, ehrlich zu sein, oder zieht der Ehrliche letztlich doch immer den Kürzeren?

Ob er als Wüstensohn in der Sahara schwitzt oder mit der Machete durch den Amazonas-Dschungel robbt: der Deutsche ist Weltmeister im Reisen. Und weil er nie weiß, was ihm unterwegs widerfährt, schließt er eine Auslandskrankenversicherung für rund 10 Euro ab. Und dann sitzt der gesunde, versicherte Reisende an der Theke in Bangkok, wo ihm der Barkeeper, der seine „Experten“ aus Deutschland natürlich kennt, für 300,- Euro eine Arztrechnung anbietet. Diagnose: Magen-Darm-Infektion, Aufenthaltsdauer: 8 Tage, Ort: Thai-White-Star-Hospital, Gesamtbetrag: 2800,- Euro. Die Klinik ist genauso erfunden wie die Diagnose, aber solche Zettel werden trotzdem an die Versicherungen geschickt.

Der Sachbearbeiter einer Versicherung wurde stutzig, als ihm ein Ehepaar verklickern wollte, man habe sich zur gleichen Zeit in zwei verschiedenen Kliniken stationär behandeln lassen. Ein Blick auf die Landkarte von Thailand deckte den Schwindel auf: Die Hospitäler lagen Tausende Kilometer auseinander.

Kuriose Einzelfälle? Durchaus nicht! Jeder vierte Deutsche hat nach einer Statistik von 1994 seine Privathaftpflicht schon einmal betrogen. Das BKA in Wiesbaden schätzt den Anteil der vorgetäuschten Diebstähle auf 30–50 %!

Betrug als Gesellschaftsspiel

Das neue Gesellschaftsspiel heißt Betrug. Und man meint, niemandem dabei zu schaden. Irgendwer zahlt immer. Außerdem sagt man ja den Versicherungen ohnehin kriminelle Machenschaften nach. Warum soll man Betrüger nicht betrügen?

Obwohl Betrug in unserem Lande ein strafrechtlicher Tatbestand ist, kommen die meisten Versicherungsgangster nach aufgedecktem Schwindel ungeschoren davon. Welche Versicherungsgesellschaft will schon ihre Kunden vergraulen? Im übrigen zahlt die Agentur sowieso nie drauf, sondern der brave, ehrliche Versicherungsnehmer, der sich nichts zu schulden kommen läßt. Und wenns doch zu teuer wird, dann kann man ja die Beitragssätze erhöhen! … Also, wer zahlt den Betrug? Die Ehrlichen! Die Spielregel des neuen Gesellschaftsspiels heißt: Der Ehrliche ist der Dumme! (Ulrich Wickert, dessen lesenswertes Buch diesen Titel trägt, illustriert die Regeln des Gesellschaftsspiels mit vielen anderen Beispielen. Aber Vorsicht: Seine Analyse ist aufschlußreich, seine Antwort ist jedoch gründlich zu hinterfragen!)

Verlust der Werte

Was der einfache Mann mit dem Satz „Der Ehrliche ist der Dumme“ beschreibt, betiteln die Ethiker als „Werte-Erosion“. Gemeint ist, daß unsere Gesellschaft im Prinzip nicht mehr weiß, was gut und böse ist! Es fehlen die Maßstäbe, die Normen verantwortlichen Handelns. Die Vorbilder – oder die, die es sein sollten – die Politiker, sind oft keine Vorbilder mehr. Politiker, die unserer Gesellschaft klare ethische Normen vorleben, haben Seltenheitswert. Wir haben zwar noch ein Gesetz, das grobe moralische Vergehen abstraft (oft ungenügend, wie ich meine!), aber ein Gesetz ist ja auch immer nur der Ausdruck einer Moral, die vorher da sein muß. Wenn die Moral verloren geht, dann wird über kurz oder lang auch das Gesetz verändert (Beispiel: §218).

Auch der Verweis auf das Gewissen hilft hier nicht weiter: Das Gewissen ist mit Sicherheit keine normgebende Instanz; es orientiert sich vielmehr an Normen. Was ist aber, wenn eben diese Normen fehlen?

Geht einem Staat das Geld aus, dann gibt es immer noch die Möglichkeit, Kredite aufzunehmen. Aber wenn die ethischen Werte ausgehen, wenn man nicht mehr weiß, was gut und böse ist, dann wird’s schwierig!

Ein Blick in die Geschichte

Das Wort „Geschichte“ sorgt bei vielen Zeitgenossen erfahrungsgemäß für gelangweiltes Gähnen. Aber es ist unmöglich, die Gegenwart zu verstehen, wenn man die Vergangenheit nicht kennt!

Der Werteverfall, von dem man heute sprechen muß, kam nicht mit einem Schlag, sondern vollzog sich nach und nach in vielen Schritten. Die vier wesentlichsten Schritte sollen hier kurz beleuchtet werden:

Aufklärung – Verstand statt Glaube

Der erste große Meilenstein auf dem Weg zum Werteverfall war die Aufklärung (ca. 1650–1750). Mit der Parole „Cogito ergo sum“ („Ich denke, darum bin ich“) erhoben große Denker wie Descartes, Lessing und Kant die Vernunft an die Stelle, die vorher Gott und sein Wort einnahmen. Auch auf die Frage, wonach man dann sein Verhalten richten sollte, wenn nicht nach dem Wort Gottes, fand man schnell eine Antwort: Mit Hilfe der Vernunft sollte man zum richtigen Handeln kommen. „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann“, so lautete der bekannte „kategorische Imperativ“ von Immanuel Kant. Zu deutsch: „Überleg dir, ob das, was du tun oder lassen willst, zum Gesetz werden könnte. Wenn ja, dann handelst du richtig.“

Logisch ist das schon! Aber wer handelt schon immer logisch?! Vernünftig ist das auch, aber wer handelt schon immer vernünftig? Hand aufs Herz: Wer murmelt den Satz vor sich her, wenn er vor der Frage steht, ob er die Versicherung betrügen oder doch lieber ehrlich bleiben sollte? Wo es um „Cash“ geht, wird der Mensch unvernünftig. Die Vernunftethik der Aufklärung scheitert offensichtlich in der Praxis! Wozu taugt eine Ethik, die im Alltag ihren Dienst versagt?!

Werteverfall im Dritten Reich

Bis zum Anfang unseres Jahrhunderts war Europa – trotz Aufklärung – noch ziemlich „christlich“. Und „christlich“ heißt in dem Zusammenhang: Man hatte noch eine relativ klare Vorstellung davon, was gut und böse ist. Daß z. B. Geschlechtsverkehr in die Ehe gehört, war keine Frage.

Der erste starke Einbruch der Werte im 20. Jh. kam mit dem Dritten Reich. Die obersten ethischen Werte waren jetzt nicht mehr Erbarmen, Mitmenschlichkeit und Güte, sondern die Reinerhaltung der arischen Rasse. „Gut“ war jetzt, was den Zielen der Nazis diente und „böse“, was sich gegen die arische Rasse und deren Ausbreitung richtete. Und durch die von Hitler, Goebbels & Co. angestrebte „Gleichschaltung“ wurde fast das ganze deutsche Volk von diesen „neuen ethischen Werten“ infiziert. Der Werteverfall bekam einen starken Schub.

Das Jahr 1968

Im Ostblock wurde das kleine demokratische Pflänzlein „Prager Frühling“ von sowjetischen Panzern brutal niedergewalzt.

Aber auch im Westen ging es 1968 heiß her: Die Studentenrevolte begann. Ihr Auslöser war die überaus negative Reaktion einiger Professoren auf die Frage nach ihrer Rolle im Dritten Reich. Manche Dozenten drohten ihren Studenten sogar mit KZ! Das Faß lief über. Alles, was irgendwie Autorität war oder sein wollte, wurde hinterfragt. Anarchie, antiautoritäre Erziehung usw. griffen um sich. Pfarrer, Kirche und Bibel wurden abgelehnt. Ein bekanntes 68er Plakat trug die Aufschrift: „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren.“ … Das Jahr 1968 war eine „Aufklärung im Kleinformat“. Wieder ging das deutsche Volk einen Schritt in Richtung Gottlosigkeit und damit zum Werteverfall.

Die Wende in Osteuropa

Den Menschen in der DDR wurde durch die SED-Diktatur recht deutlich vorgeschrieben, was für sie als „gut“ und „böse“ zu gelten hatte. „Gut“ war der Sozialismus auf dem Weg zum Kommunismus, „gut“ war der „große Bruder Sowjetunion“. „Böse“ war der westliche Kapitalismus, Imperialismus, die BRD, die USA, eben der „Klassenfeind“. Diese Einteilung der Welt in „gutes System“ und „böses System“ war reine Schwarz-Weiß-Malerei. Aber man hatte ein klares Feindbild. Man hatte klare, wenn auch falsche Vorstellungen von gut und böse.

Die westliche Gemeinschaft schützte sich in dieser Zeit u.a. durch die COCOM-Liste gegen den Osten. Diese Liste enthielt zahlreiche Artikel (z. B. Computer), die nicht in den Ostblock ausgeführt werden durften. Mit der Wende verlor die Liste ihre Bedeutung. Wenn ein Unternehmer aus Köln heute nach Kiew und Moskau Computer vertreibt, dann macht er Gewinne und sichert Arbeitsplätze, und das ist gut! Heute ist also für den westlichen Unternehmer gut, was wenige Jahre zuvor böse war!

Es gibt plötzlich kein Feindbild mehr. Das Wertechaos ist perfekt!

Am deutlichsten kann man diesen Werteverlust an Teenagern und Jugendlichen ablesen. Die Gesellschaft kann ihnen keine Werte geben, weil sie selber keine hat. Tante Auguste mit ihren mittelalterlichen Vorstellungen kommt für den Teenager auch nicht als Quelle ethischer Werte in Frage. Folglich macht er sich selber auf die Suche nach Werten und er findet auch welche: leider nicht selten die verkehrten – beispielsweise die des Dritten Reiches … Und schon hat man einen Neonazi!

Der Schrei nach ethischen Werten

Reinhard Mey beschreibt in seinem Lied „Sei wachsam“ das Wertechaos unserer Gesellschaft mit starken Worten:

„Ich hab‘ Sehnsucht nach Leuten, die mich nicht betrügen,
Die mir nicht mit jeder Festrede die Hucke voll lügen.
Und verschon mich mit den falschen Ehrlichen,
Die falschen Ehrlichen, die wahren Gefährlichen!
Ich hab‘ Sehnsucht nach einem Stück Wahrhaftigkeit,
Nach ‚nem bißchen Rückgrat in dieser verkrümmten Zeit …“

Hier formuliert ein zeitgenössischer Denker, was die meisten Leute nur in Auswirkungen wahrnehmen: Unsere Gesellschaft schreit nach ethischen Werten! Sie schreit nach Menschen, die es wert sind, sie zum Vorbild zu nehmen!

Wo ist die Antwort der Christen auf diesen Schrei? Liegt der Kern des Werteverfalls seit der Aufklärung in einer Von-Gott-weg-Bewegung, dann kann die Therapie nur eine Zu-Gott-hin-Bewegung sein. Nichts hat unsere Gesellschaft nötiger als die Rückbesinnung auf das Ethos des göttlichen Willens: Die einzigartigen Gebote Gottes (vgl. 5Mo 4,1–9!), die Klaus Bockmühl nicht zu unrecht als „ethische Grammatik der Schöpfung, die Grammatik der sozialen Welt“ bezeichnet. Das Gesetz Gottes bewahrt die von Sünde und Rebellion gezeichnete Menschheit vor dem Chaos wie das grammatische Regelwerk eine Sprache vor dem Kauderwelsch schützt. Anders formuliert: „Die Gebote Gottes sind Gottes Kampf um die Schöpfung in der sündigen Zerfallenheit der Welt, Licht gegen Finsternis, Sein gegen Nihilismus.“ Martin Luther drückt die Schlußfolgerung aus diesem Sachverhalt etwas rustikaler aus:

„Denn wiewohl man niemand zwingen kann noch soll zum Glauben, so soll man doch den Haufen dahin halten und treiben, daß sie wissen was Recht und Unrecht ist…“

Hier ist das Engagement derer gefragt, die Gott kennen! Aber leider gibt es unter Christen nicht wenige Beispiele, die verdeutlichen, daß das Motto „Der Ehrliche ist der Dumme“ auch ein Teil ihrer Lebensphilosophie ist! Es ist immer leichter, im Strom der Masse zu schwimmen. Aber wäre es nicht angebracht, sich wieder neu auf das Motto „Ehrlich währt am längsten“ zu besinnen?

Wer soll der Gesellschaft lohnende ethische Werte vorleben, wenn nicht wir?! Wir sind es doch, die (hoffentlich!) Mi 6,8 kennen:

„Man hat dir mitgeteilt, o Mensch, was gut ist.“

Ob wir Christen vielleicht manchmal gar nicht ahnen, was das für ein Vorrecht ist, den schriftlich formulierten Willen des Schöpfers in den Händen zu halten?