Wir sollen die heilige Passion täglich vor Augen haben und immer gründlicher erforschen. Es heißt (Lk 18,31): „Jesus nahm zu sich die Zwölfe und sprach zu ihnen: Sehet wir gehen hinauf gen Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, das geschrieben ist durch die Propheten von des Menschen Sohn”. Mit dem Worte: „es wird vollendet werden” weist der Herr auf die Weissagungen der Propheten von dem Leiden und Sterben des Heilandes hin. Es haben ja die heiligen Propheten vor allem geweissagt, was unsern Herrn Jesum betrifft. Sie haben geweissagt von Seiner Geburt, von Seinen Wundern, von Seiner Lehre, auch von den einzelnen Umständen Seines Lebens. Aber vor allem ist es Sein Leiden und Sterben, von welchem die Propheten weissagen, und zwar so genau, so vollständig, so ausführlich, dass man diese Weissagungen liest, als ob man unter dem Kreuz des Herrn stände. Und eben deshalb sind die Weissagungen so vollständig und ausführlich, weil das Leiden und Sterben des Herrn das Allerwichtigste für uns ist, denn dadurch sind wir Sünder versöhnt worden mit Gott.
Es ist eine meiner größten Freuden, diese Weissagungen von dem Leiden und Sterben meines lieben Herrn Jesus im Alten Testament zu lesen und auf das gründlichste und sorgfältigste zu erforschen, dann Wort für Wort die Erfüllung im Neuen Testament damit zu vergleichen. Wenn ich das tue, ist meine Seele voll Staunens, Wunderns und Anbetens und es zieht mich unwillkürlich auf die Knie nieder, Gott anzubeten und Ihn zu preisen für dies Wunder Seiner Gnade, dass Er Jahrhunderte und Jahrtausende vorher das ganze Leiden und Sterben des Herrn, ebensowohl das größte als das kleinste darin durch den Heiligen Geist von Seinen Propheten vorhersagen lässt, und dann nach Jahrhunderten auch nicht das geringste ausbleibt, was geweissagt war, sondern alles pünktlich und buchstäblich in Erfüllung geht.
Darum sind die Weissagungen von dem Leiden und Sterben Christi die rechte Krone und Vollendung aller Weissagungen, sowohl der Zeit nach, weil sie das Ende der Weissagungen sind von Christi Versöhnungswerk und Erdenwandel, als auch der Wichtigkeit nach, weil sie die ganze Fülle göttlichen Liebesrats offenbaren. Und es wird auch durch nichts mein Glaube so gestärkt, als durch diese Erforschung der Weissagungen und die Betrachtung ihrer Erfüllung. Da steht das Alte und Neue Testament als ein großes Werk des Heiligen Geistes vor meiner Seele, das gar kein Menschenwerk sein kann, sondern ein Gotteswerk sein muss, und ich erkenne daraus recht die Wahrheit jenes trefflichen Spruches des alten Kirchenvaters Augustin: „Das Alte Testament ist im Neuen Testament offenbar, und das Neue Testament ist im Alten Testament verborgen”. Je mehr ich die Weissagungen des Alten Testaments erforsche und ihre Erfüllung im Neuen Testament wahrnehme, desto unerschütterlicher wird der Glaube an Gottes wahrhaftiges Wort, und ich wüsste fast gar nicht mehr, wie ich es machen sollte, an der Wahrheit, der untrüglichen Wahrheit des göttlichen Wortes zu zweifeln.
Da steht meine liebe Bibel als ein großes, herrliches Gebäude von zwei Stockwerken, das untere Stockwerk ist das Alte Testament, das obere Stockwerk ist das Neue Testament. Ich kann in das obere nicht hineinkommen ohne durch das untere, und ohne das obere Stockwerk wäre das untere ein Ruine, das heißt ein verwitterter Trümmerhaufen. So unauflöslich gehört Altes und Neues Testament zusammen. Und so weißt du nun auch, was du von denen zu halten hast, die das Alte Testament verachten; sie haben, weil sie das Alte Testament verachten auch das Neue nicht. Beide zusammen sind das untrügliche, gewisse, ewige Wort Gottes. Und will ich allen unter euch, die ihr unsern Herrn Jesus Christus lieb habt, allen, denen wirklich das Leiden und Sterben des Herrn in das innerste Herz eingedrungen ist und die es erfahren haben, dass Christ Blut sie ausgesöhnt hat mit Gott, ich will euch allen einen Vorschlag machen, aus dem ihr tausend Freuden und tausend Glaubensstärkungen haben sollt in dieser Passionszeit, wenn ihr ihn befolgt. Ich habe selber schon seit vielen Jahren die Erfahrung gemacht, und mache sie noch immer.
„… leset jeden Morgen in eurer Morgenandacht eine Weissagung von Jesu Leiden und Sterben aus dem Alten Testament, und jeden Abend in eurer Abendandacht die entsprechende Stelle aus dem Neuen Testament.“
Es kann ja nicht fehlen, dass ihr als rechtschaffene Christen eure täglichen Morgen- und Abendandachten haltet, denn sie können und dürfen nicht fehlen in einem Christenhause. Da mache ich es immer so, dass ich in den Morgenandachten ein Kapitel aus dem Alten Testament und in den Abendandachten ein Kapitel aus dem Neuen Testament mit meinen Hausgenossen lese und kurz erkläre und zwar die ganze Bibel der Reihe nach, denn die ganze Bibel ist Gottes Wort und soll den Christen bekannt sein. Aber wenn die Passionszeit kommt, dann verlasse ich für diese Zeit die gewöhnliche Ordnung und lese Morgens eine Weissagung des Alten Testaments von der Passion und Abends die Erfüllung dieser Weissagung im Neuen Testament vor, und das durch die ganze Fastenzeit hindurch. Und daraus erkennt recht den Reichtum dieser Weissagungen, sie halten für die ganze Passionszeit vor, und bleibt noch übrig. So haben es einst unsere Vorfahren gemacht, und nicht bloß die Pastoren, sondern auch die Bauern; denn damals war jeder Bauer in der Bibel so bewandert, dass er manchen der jetzigen Pastoren beschämt haben würde.
Ich könnte euch hier das ganze Verzeichnis solcher Weissagungen, die von des Herrn Jesus Leiden und Sterben handeln, anführen, von 1Mo 3,15 bis Sach 13,6+7, und dazu zugleich die Stellen der Erfüllung aus dem Neuen Testament, aber ich will euch die Freude nicht rauben, diese Stellen selbst aufzusuchen.
Mein Vorschlag ist nun der: macht es auch so, und vom Aschermittwoch an, oder meinetwegen auch von morgen an, leset jeden Morgen in eurer Morgenandacht eine Weissagung von Jesu Leiden und Sterben aus dem Alten Testament, und jeden Abend in eurer Abendandacht die entsprechende Stelle aus dem Neuen Testament. Und ich weiß, ihr werdet mir dafür danken, dass ich euch diesen Vorschlag gemacht habe, so viel Freude, so viel Glaubensstärkung und so herrliche Schätze der Erkenntnis werdet ihr dadurch bekommen, und der liebe Gott und Sein teures Wort wird euch noch zehnmal so lieb werden.
(Aus Evangeliumspredigten, Hermannsburg 1860)