Wenn es um die Frage der geschichtlichen Zuverlässigkeit der Apostelgeschichte geht, wird immer wieder ein Problem aufgeworfen: nämlich, wie sich der Bericht des Lukas in Apostelgeschichte 9-15 über die Jerusalembesuche des Paulus mit den eigenen Aussagen des Apostels in Galater 1 + 2 vereinbaren läßt. In der Regel wird angenommen, daß das in Galater 2 wiedergegebene Gespräch des Paulus mit den »Säulen-Aposteln« von Jerusalem über Fragen der Gesetzesverpflichtung der Heidenchristen das gleiche Ereignis schildert wie das in Apostelgeschichte 15 geschilderte »Apostelkonzil«. Nun gibt es zwischen diesen Berichten aber eine ganze Anzahl Unterschiede, was Lukas den Vorwurf einbrachte, er habe — verglichen mit Paulus (Gal. 2) — das Bild des Apostelkonzils verzeichnet. Weiter ergibt sich die Schwierigkeit, daß Paulus in Galater 1, 18 ff.; 2, 1 ff. ausdrücklich nur von zwei persönlichen Jerusalembesuchen schreibt, Lukas bis zu diesem Zeitpunkt aber von drei solchen Besuchen berichtet (Apg. 9, 26; 11, 30 + 12, 25; 15, 4). W. G. Kümmel, der hier für eine Mehrheit deutscher Neutestamentler schreibt, folgert:
»entweder ist das in Apostelgeschichte 15, 1 ff. (= Gal. 2, 1 ff.) berichtete Ereignis fälschlich hinter die Apostelgeschichte 13.14 erzählte Reise versetzt und fand in Wirklichkeit zur Zeit von Apostelgeschichte 11, 30; 12, 25 statt, dann ist die Apostelgeschichte 15, 1 ff. erwähnte Jerusalemreise eine fälschliche Verdoppelung; oder Apostelgeschichte 15, 1 ff. steht an der richtigen Stelle, dann beruht die Erwähnung einer Reise des Paulus nach Jerusalem in Apostelgeschichte 11, 30; 12, 25 zwischen den beiden Reisen Galater 1, 18 = Apostelgeschichte 9, 26 und Galater 2, 1 = Apostelgeschichte 15, 4 auf einem Irrtum. Ein Fehler im Bericht der Apostelgeschichte liegt in beiden Fällen vor«.1
Diese Schwierigkeit würde sich lösen, wenn der Galaterbrief noch vor dem Apostelkonzil (Apg. 15) geschrieben wäre, und folglich der in Galater 2 erwähnte Jerusalembesuch des Paulus mit der in Apostelgeschichte 11 geschilderten Reise gleichzusetzen ist. In diesem Fall wäre der Galaterbrief einige Zeit nach der ersten Missionsreise geschrieben, und die in Galater 1, 2; 3, 1 als »Galater« bezeichneten Empfänger wären nicht etwa Leute aus dem um Ankyra (= Ankara) in Nordgalatien ansässigen Keltenstamm (»Galatai« im Griech. = »Keltai«), sondern gläubig gewordene Einwohner der Gegend um Derbe, Lystra und lkonium im Süden der von den Römern geschaffenen Provinz Galatien. Daß diese Lösung möglich ist, wird von deutschen Neutestamentlern allerdings allgemein bestritten. Wir werden sie daher im folgenden überprüfen, indem wir nach einem kurzen Abriß der Geschichte Galatiens untersuchen, wer die Empfänger des Galaterbriefes waren und wie es um die chronologischen Beziehungen zwischen Galater 1 + 2 und den Berichten der Apostelgeschichte steht.
Die Geschichte Galatiens im Abriß
Zwischen dem 6.-4. Jahrhundert v. Chr. verließen die Kelten ihre Heimat im Donaubecken. Einige zogen westwärts nach Gallien und Britannien, andere südostwärts nach Kleinasien. Erstere wurden »Gallier« (lat. »Galli«) genannt, letztere »Keltai« oder »Galatai«.2
Im 3. Jahrhundert v. Chr. kamen diese »Galatai« nach Griechenland und Mazedonien, wo sie 279 v. Chr. in der Schlacht von Delphi gestoppt wurden. Drei ihrer Stämme (die Tolistobogen, Trocmen und Tectosagen) gelangten nach Kleinasien, wo König Nikodemes von Bithynien ihnen Siedlungsrecht in der Gegend von Ankyra einräumte. Von diesem Wohnsitz aus führten sie in der Folge manche Kriegszüge durch, bis König Attalus I. von Pergamon (241-197 v. Chr.) sie in verschiedenen Schlachten (zwischen 240-230 v. Chr.) besiegte und in ihr zugewiesenes Gebiet zurückverwies.
Im 2. Jahrhundert v. Chr. kamen sie unter römischen Einfluß, doch wurde ihnen viel Freiheit gewährt. Nachdem sie den Römern gar im 3. mithridatischen Krieg (74-64 v. Chr.) geholfen hatten, wurde ihr General Dejotaurus zum »König von Galatien« gemacht. Sein Nachfolger Amyntas vergrößerte in der Folge das nordgalatische Stammesgebiet durch Einnahme der südlichen Landschaften Pisidien, Isaurien, Lykaonien, Pamphylien, Phrygien und Zilizien. Als Amyntas 25 v. Chr. starb, verwandelte Kaiser Augustus dieses ganze Gebiet (mit Ausnahme Pamphyliens und Ziliziens an der Küste des Mittelmeers im Süden) in die neue römische Provinz »Galatien«, die nun nicht mehr nur das keltisch-galatische Stammesgebiet im Norden, sondern auch die verschiedenen Länder im Süden (= Südgalatien) einschloß.
Wo sind die »Gemeinden von Galatien« (Gal. 1, 2) zu suchen?
Durch die Jahrhunderte wurde allgemein angenommen, Paulus habe Gemeinden im keltischen Nordgalatien gegründet, und an diese sei der Galaterbrief geschrieben. Die Ursache für diese Annahme, die erstmals 1748 durch J. J. Schmidt infrage gestellt wurde,3 dürfte darin liegen, daß bereits den Kirchenvätern das südgalatische Land um Derbe, Lystra und Ikonium nicht mehr als »Galatien« bekannt war, weil diese Gebiete ab dem 2. Jahrhundert nicht mehr zur Provinz Galatien gehörten.4 Die Annahme, daß Paulus an die Gemeinden im nördlichen Keltenstammesgebiet geschrieben habe, bezeichnet man als Nordgalatientheorie, die Auffassung, daß er an die Gemeinden im Süden geschrieben habe, die er bei der ersten Missionsreise gründete, als Südgalatientheorie. Wir wollen die beiden Theorien einmal näher überprüfen.
Die »Nordgalatientheorie« auf dem Prüfstand.
Die Nordgalatientheorie steht im wesentlichen auf drei Beinen.
1. Zum einen auf der Annahme, Paulus habe in Nordgalatien Gemeinden gegründet. Nun fällt aber auf, daß Lukas in der Apostelgeschichte zwar ausführlich über Gemeinden in Südgalatien berichtet, über solche in Nordgalatien aber nichts zu sa-
gen hat. Verteidiger der Nordgalatientheorie weisen aber schnell darauf hin, daß Lukas ja auch nichts über Gemeindegründungen in Zilizien, Kolossä und Rom schreibt, obwohl solche ohne Zweifel erfolgten.5 Und zum anderen sei ja in Apostelgeschichte 16, 6 und 18, 23 angedeutet, daß Paulus auch nach Nordgalatien kam. Laut Apostelgeschichte 16, 6 durchzog er auf der 2. Missionsreise nach seinem Aufbruch von Derbe und Lystra »Phrygien und das galatische Land«. Und die gleiche Route habe er auf der 3. Missionsreise genommen, als er »durch das galatische Land und Phrygien« zog, »wobei er alle Jünger (die vermeintlich auf der 2. Missionsreise zum Glauben kamen) stärkte« (Apostelgeschichte 18, 23). Weil Lukas in der Regel geographische Bezeichnungen für Länder benutzt und möglichst nicht politische Provinznamen,6 wird angenommen, er wolle sagen, Paulus sei von Südgalatien aus nördlich durch Phrygien7 in die nordgalatische Region gereist.8 Diese beiden Reisen seien in Galater 4, 13 angedeutet.
Eines läßt uns allerdings stutzen. In Apostelgeschichte 16, 10 beginnt einer der »Wir-Berichte« der Apostelgeschichte, der zeigt, daß Lukas kurz nach der vermeintlichen Nordgalatienreise sich der Reisegesellschaft des Paulus anschloß. Wie könnte es angesichts dessen aber sein, daß er die gerade vorangegangene Gemeindegründungstätigkeit des Apostels im nordgalatischen Neuland unerwähnt ließ ? Vielleicht müssen Apostelgeschichte 16, 6 und 18, 23 doch anders erklärt werden, als oben beschrieben!
Das griechische Wort »phrygian« in Apostelgeschichte 16, 6 kann zwar »Phrygien « heißen, kann grammatisch gesehen aber auch »phrygisch« bedeuten, also Adjektiv sein.9 Und weil im Griechischen nur ein einziger Artikel steht, bietet es sich an, zu übersetzen: Sie durchzogen »das phrygisch-galatische Land«, d. h. jenen Teil der Landschaft Phrygien, der in der Provinz Galatien liegt. Dies fügt sich ausgezeichnet in die Reiseroute des Paulus. Der Plan des Apostels war nämlich, die auf der 1. Missionsreise erreichten Städte wieder zu besuchen (Apg. 15, 36), weshalb er von Antiochien aus durch Syrien und Zilizien reiste (15, 41) und zu den lykaonischen Städten Derbe und Lystra von Süden her gelangte (16, 1). Hier mußten sie Lykaonien verlassen und durch das galatisch-phrygische Gebiet reisen (16, 6), um über lkonium ins pisidische Antiochien zu kommen.10 Zu diesem Zeitpunkt war ihnen durch Offenbarung bereits klar geworden, daß sie von Antiochien aus nicht auf der augusteischen Heeresstraße weiter westwärts nach Ephesus reisen sollten, und so zogen sie nordwestwärts durch Mysien (16, 7-8). Auf dieser Route sind sie niemals nach Nordgalatien gekommen. Und wenn es in 16, 6 keinen Nordgalatienbesuch gab, dann auch nicht in 18, 23, denn hier reiste er durch eine Gegend, die er vorher bereits besucht hatte, denn »er stärkte die Jünger«.11 Vielmehr ging dort seine Reise zunächst durch Südgalatien und dann in den asiatischen Teil Phrygiens. Von nordgalatischen Gemeinden ist bei dieser Sachlage im NT nirgends die Rede.
2. Das zweite Argument für die Nordgalatientheorie hat nicht viel Gewicht. Es geht davon aus, daß nach Julius Caesar und anderen antiken Historikern die (keltischen) Gallier als wechselhaft, abergläubisch und ritualistisch bekannt waren. Weil nun die Empfänger des Galaterbriefes offenbar auch wechselhaft und ritualistisch waren, wird angenommen, daß sie ebenfalls Kelten waren und daher in Nordgalatien wohnten.
Dieses Argument steht aber auf schwachen Füßen, denn zum einen waren die gallischen und kleinasiatischen Kelten viel zu lang schon voneinander getrennt, als daß man von den einen auf die anderen schließen könnte, und zum andern sind Wechselhaftigkeit und Ritualismus solch weitverbreitete menschliche Eigenschaften, daß die Galater keineswegs auf Grund dieser Wesenszüge als nordgalatische Kelten bestimmt werden können.
3. Das dritte Argument hat mit der Abfassungszeit des Galaterbriefes zu tun. Waren die Empfänger des Briefes Nordgalater, dann kann der Galaterbrief kaum früher als auf der dritten Missionsreise geschrieben worden sein. Waren sie Südgalater also aus der Gegend, die Paulus auf der 1. Missionsreise besucht hatte -, dann stammt der Brief aus der Zeit der 2. Missionsreise oder sogar noch vorher. Für Lightfoot sprechen aber inhaltliche Gründe für eine Abfassung auf der 3. Missionsreise: vom persönlichen und polemischen Charakter her gleicht der Galaterbrief dem 2. Korintherbrief, vom Inhalt her dem Römerbrief. Er folgert, daß der Galaterbrief auf der 3. Missionsreise von Mazedonien oder Achaia aus geschrieben wurde und zwar zwischen der Abfassung des 2. Korintherbriefs und des Römerbriefs, und läßt diesen Brief daher an die (vermeintlich) zu Beginn der 3. Missionsreise besuchten Nordgalater (Apg. 18, 23!) geschrieben sein.12 Wie letzteres zeigt, setzt Lightfoot eine nordgalatische Adresse bei diesem Argument bereits auf Grund seiner Interpretation von Apostelgeschichte 16, 6 und 18, 23 voraus.
Und in sich ist seine Begründung auch nicht schlüssig, weil der in ruhigem Ton vorgetragene Römerbrief den Abschluß des galatischen Streits um ein gesetzesfreies Evangelium bereits voraussetzt, und sich nicht sagen läßt, wie lange die Klärung dieses Punktes schon zurücklag, als der Römerbrief geschrieben wurde; und weil – hinsichtlich der Parallelen in der »Tonart« zum 2. Korintherbrief – ganz allgemein festgestellt werden muß, daß die jeweilige polemische Situation unabhängig von der Abfassungszeit nach einer polemischen Stellungnahme rief.
Und was schließlich das »persönliche« Argumentieren im 2. Korintherbrief und Galaterbrief betrifft, auf das Lightfoot hingewiesen hat, zeigt schon die Tatsache, daß der eindeutig frühe 1. Thessalonicherbrief und der späte Philipperbrief gleichermaßen viel Persönliches enthalten, wie wenig dieses Argument für Datierungszwecke tauglich ist. Kann der Brief – wie wir später untersuchen wollen – mit anderen guten Gründen früher datiert werden, so wird Lightfoots Argument nicht sonderlich schwer dagegen wiegen.
Die »Südgalatientherorie« auf dem Prüfstand.
Wir wenden uns nun den Gründen zu, die zugunsten der Südgalatientheorie aufgeführt werden.
1. Eins der besten Argumente dafür ist die Tatsache, daß das NT ausführlich über Gemeindegründungen in Südgalatien anläßlich der 1. Missionsreise, sowie über die Beziehung des Paulus zu diesen Gemeinden berichtet (Apg. 13+ 14; 16, 1-6).
2. Zweitens waren südgalatische Gemeinden – geographisch gesehen – weit einfacher für palästinische Judaisten erreichbar, als nordgalatische Gebiete. Es ist kaum anzunehmen, daß diese Leute, gegen deren Theologie der Galaterbrief gerichtet ist, ohne einen uns bekanntgewordenen Schaden anzurichten, an den südgalatischen Gemeinden vorbeigezogen sein sollten, um — wie es die Nordgalatientheorie will — im schwer erreichbaren Keltengebiet unter Neubekehrten zu wirken.
3. Wie später noch im einzelnen gezeigt wird, läßt sich nur mit der Südgalatientheorie ein historisches Gesamtbild entwerfen, das sowohl dem Bericht der Apostelgeschichte (Kap. 9-15), als auch den Darlegungen des Galaterbriefs (Kap. 1 + 2) gerecht wird. Nach der Nordgalatientheorie schwindelt entweder Paulus, wenn er von nur zwei Jerusalembesuchen bis zur Abfassungszeit des Galaterbriefs schreibt, oder aber Lukas irrt sich, wenn er von drei Jerusalembesuchen berichtet.
4. Ein viertes Argument, das manchmal vorgebracht wird, ist, daß Paulus Provinznamen gegenüber Landschaftsnahmen bevorzugt, besonders wenn es um Bezeichnungen seiner Missionsfelder geht (vgl. Röm. 15, 26 den Provinznamen »Achaia« mit der von Lukas gebrauchten Landschaftsbezeichnung »Hellas« in Apg. 20, 2).13 Von diesem Sprachgebrauch her könnte es nicht als ungewöhnlich gelten, wenn er die (südgalatischen) Bewohner von Derbe, Lystra usw. als »Galater« (Gal. 3, 1) anspricht, obwohl diese völkisch gesehen gar keine »Galatai = Kelten« waren.14 Damit wird ein oftmals gegen die Südgalatientheorie vorgebrachter Einwand hinfällig. Die Südgalatientheorie beweisen kann dieses Argument allerdings nicht, denn selbstverständlich waren auch Nordgalater »Galater«. Doch zeigt es die Möglichkeit dieser Theorie, sobald sie sich auf Grund anderer Tatsachen empfiehlt.
5. Ein fünftes Argument für Südgalatien ist, daß Barnabas in Galater 2, 1 ff. erwähnt wird. Während er den .südgalatischen Gemeinden von der 1. Missionsreise selbstverständlich gut bekannt war, wäre er nordgalatischen Gemeinden gegenüber, die (vermeintlich) auf der 2. und 3. Missionsreise gegründet wurden, ein Unbekannter. Durchschlagend ist allerdings auch dieses Argument nicht, denn Barnabas ist auch in 1. Korinther 9, 6 erwähnt, obwohl er unseres Wissens nie in Korinth war.
6. Ein letztes Argument, das manchmal zu hören ist, ist dies, daß die Kollektendelegation, die nach Apostelgeschichte 20, 4 Paulus auf der 3. Missionsreise nach Jerusalem begleitete, keine Nordgalater, jedoch zwei Südgalater einschloß, nämlich Gajus von Derbe15 und Timotheus von Lystra. Dies könnte ein Argument gegen die Existenz von Gemeinden in Nordgalatien sein. Doch erwähnt Apostelgeschichte 20, 4 ja auch keinen Repräsentanten von Korinth, was zeigt, daß nicht alle von Paulus gegründeten Gemeinden in der Gesandtschaft vertreten sein mußten. Von daher läßt sich auch kein Schluß für oder gegen nordgalatische Gemeinden ziehen.
Obwohl also die Argumente 4-6 nicht schlüssig sind, ergibt sich von den Argumenten 1-3 her eine deutliche Empfehlung der Südgalatientheorie.
Daran ändern auch einige Gegengründe nichts, die wir im folgenden aufzählen wollen:
1. Ein erster Einwand ist, daß Paulus nach Galater 4, 13 als kranker Mann in Galatien evangelisierte,16 daß aber Apostelgeschichte 13 + 14 nichts von einer Krankheit des Apostels während der 1. Missionsreise berichten. Doch kann das Schweigen der Apostelgeschichte nichts beweisen. Man könnte ja auch fragen: Wo ist der Bericht von einer Erkrankung des Paulus in Nordgalatien?
2. Moffatt bringt einen zweiten Einwand vor, indem er feststellt, im Galaterbrief gebe es keinerlei Hinweis auf eine Verfolgung des Apostels während seiner Missionstätigkeit unter den Briefempfängern, während es bei der südgalatischen Missionstätigkeit doch »extrem stürmisch« zugegangen sei.17 Dagegen läßt sich aber geltend machen, daß die in Galater 6, 17 erwähnten »Wundmale (griech. ,stigmata`) Jesu«, die der Apostel an seinem Leibe trägt, durchaus eine Anspielung auf seine Steinigung in Lystra sein könnten.
3. Ein letzter Einwand, den wir hier erwähnen wollen, ist, daß Paulus, wenn er wirklich an die Gemeinden in Südgalatien geschrieben hätte, in seinem Brief unbedingt die von ihm vollzogene Beschneidung des Timotheus (Apg. 16, 3) hätte rechtfertigen müssen, da er den Galatern ja das Beschneiden verbietet. Doch wird dieser Einwand hinfällig, sobald wir sehen (siehe unten), daß Paulus den Galaterbrief noch vor jenem Ereignis schrieb.
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß sich die Südgalatientheorie, für die sich gewichtige Gründe anführen lassen, der Nordgalatientheorie überlegen erweist. Während es keinen sicheren Nachweis für die Existenz von christlichen Gemeinden zu dieser Frühzeit in Nordgalatien gibt, wissen wir durch die Apostelgeschichte über das Dasein der südgalatischen Gemeinden (Antiochien, Derbe, Lystra, Ikonium) gut Bescheid. An diese ist der Galaterbrief geschrieben.
Eine Untersuchung der früh-paulinischen Chronologie (= Zeitrechnung) wird dies weiter untermauern.
Die früh-paulinische Chronologie nach Galater 1-2 und der Apostelgeschichte
Die Jerusalembesuche des Paulus
Die Apostelgeschichte erwähnt fünf Jerusalembesuche des Paulus nach seiner Bekehrung: Apostelgeschichte 9, 26-30;11, 27-30 u. 12, 25; 15, 1-30; 18, 22; 21, 15-23, 31. Davon sind lediglich die drei erstgenannten wichtig für unseren chronologischen Vergleich mit den in Galater 1 + 2 erwähnten Jerusalembesuchen des Apostels.
Es ist nahezu unbestritten, daß Apostelgeschichte 9, 26-30 und Galater 1, 18-24 den gleichen – und zwar ersten – Jerusalembesuch des Paulus beschreiben.18 Allerdings möchten manche Ausleger Widersprüche zwischen den beiden Berichten nachweisen. Einer von ihnen, der hier ein Beispiel für »historische Irrtümer« in der Bibel sieht, stellt die Frage:
»Ist Paulus nun bei seinem ersten Jerusalembesuch als Christ bei den Aposteln aus- und eingegangen (so Apg. 9, 27 f.) oder hat er nur Petrus besucht und keinen anderen Apostel gesehen, sondern nur noch Jakobus, den Bruder des Herrn (so Gal. 1, 18 f.) ?«.19
Die Antwort ist, daß sich die beiden Berichte in der Sache gar nicht widersprechen, daß vielmehr Paulus und Lukas aus bestimmten Gründen unterschiedliche Wahrheiten betonen.
Paulus geht es in Galater 1 + 2 um den Nachweis seiner Unabhängigkeit von den Aposteln hinsichtlich des Empfangs seiner Botschaft. Er zählt darum genau auf, daß er bei seinem ersten Besuch nur Petrus und Jakobus (der zur Zeit des Lukas als Führer der Jerusalemer Gemeinde selbstverständlich als »Apostel« im weiteren Sinne galt) sah. Lukas, der lediglich den ersten Kontakt des Paulus mit den »Jerusalemern« schildern will, spricht mehr allgemein davon, daß Paulus zu den »Aposteln« kam. Hier ist kein Widerspruch. Die unterschiedliche Absicht führt zu verschiedener Betonung und Wortwahl. Doch geht es sachlich um das gleiche.
Umstritten ist nun aber, ob Galater 2 den »Hunger-Hilfe-Besuch« (Apg. 11, 27 ff. und 12, 25) oder den Besuch anläßlich des Apostelkonzils (Apg. 15, 1-30) schildern will.
Zumindest fünf Gründe werden für die Gleichsetzung von Galater 2 und Apostelgeschichte 15 genannt.20
1. In beiden Fällen wird über die gleiche Angelegenheit gesprochen (nämlich Heidenchristen u. Gesetz).
2. In beiden Fällen sind die gleichen Männer beteiligt.
3. Antiochien und Jerusalem sind sowohl in Galater 2 als auch in Apostelgeschichte 15 erwähnt.
4. Wenn sich Galater 2 auf das Apostelkonzil bezieht, bleibt genügend Zeit für die 3 und die 14 Jahre (Gal. 1, 18 u. 2, 1) zwischen der Bekehrung des Paulus und seinen zwei folgenden Jerusalembesuchen.
5. Wenn Galater 2 und Apostelgeschichte 15 das gleiche Ereignis beschreiben, kann der Galaterbrief erst später, nämlich auf der 2. oder 3. Missionsreise geschrieben worden sein, was ihn zeitlich in die Nähe des Römerbriefs sowie des 1.+ 2. Korintherbriefs rücken würde, mit denen er ja (wie oben erwähnt) gewisse Gemeinsamkeiten hat.
Doch gibt es auch wenigstens drei Gründe gegen diese Gleichsetzung von Galater 2 und Apostelgeschichte 15:
1. Der erste Gegengrund ist dieser: Es ist höchst unwahrscheinlich, daß Paulus in der Aufzählung seiner Jerusalembesuche in Galater 1 + 2 den »Hunger-HilfeBesuch« (Apg. 11) übersprungen und im Anschluß an den Besuch von Apostelgeschichte 9 sofort den Apostelkonzilsbesuch von Apostelgeschichte 15 erwähnt hat; denn seine Argumentation in Galater 1 + 2 baut ja auf einer sorgfältigen Aufzählung all seiner Begegnungen mit den Jerusalemer Gemeindeführern auf! Vertreter der Gleichsetzung von Galater 2 und Apostelgeschichte 15 möchten sich hier mit zweierlei Erklärungen helfen. Zum einen durch eine Trennung von Galater 1 u. 2. In Galater 1 sei es die Absicht des Paulus, seine Unabhängigkeit von den anderen Aposteln zu beweisen, weshalb er auf seinen einzigen kurzen Jerusalembesuch als junger Christ hinweise; in Galater 2 dagegen habe er die ganz andere Absicht, zu zeigen, daß seine Heidenmission von den Jerusalemer Führern befürwortet wurde.21
Doch ist diese Auslegung unglaubwürdig, weil ja schon die Erwähnung der 14 Jahre in Galater 2, 1 (vgl. 1, 18) zeigt, daß die Argumentation von Kap. 1 weitergeht. — Zum andern wird gesagt, Paulus habe den »Hunger-Hilfe-Besuch« deshalb nicht erwähnt, weil die Apostel damals nicht in Jerusalem gewesen seien, nachdem sie infolge der herodianischen Verfolgung geflohen waren (s. Apg. 12, 1-19).22 Doch ist auch dies unwahrscheinlich, denn einerseits erwähnt Lukas die Apostel in Apostelgeschichte 11 wohl deswegen nicht, weil es nicht ihre, sondern die Pflicht der Diakone war, die überbrachte Nahrungsmittelspende zu verwalten (vgl. Apg. 6, 2); und zum anderen ist angesichts von Apostelgeschichte 8, 1 kaum anzunehmen, daß die Apostel aufgrund der Verfolgung Jerusalem verließen, denn dort setzten sich alle Christen von Jerusalem ab, aber die Apostel blieben da! Und selbst wenn sich Petrus zur Zeit der herodianischen Verfolgung vorübergehend aus der Stadt entfernt haben sollte — was man aus Apostelgeschichte 12, 17 schließen könnte, obwohl hier auch ein Ortswechsel innerhalb Jerusalems gemeint sein kann! —, könnte er zur Zeit des »Hunger-Hilfe-Besuchs« von Paulus und seinen Begleitern längst zurückgekehrt sein.23 Wir können aus all dem zusammenfassend schließen, daß im Fall einer Gleichsetzung von Galater 2 und Apostelgeschichte 15 die Auslassung des »Hunger-Hilfe-Besuches« von Apostelgeschichte 11 nicht überzeugend begründet werden kann.
2. Ein zweiter Grund gegen die Gleichsetzung von Galater 2 und Apostelgeschichte 15 ist, daß Paulus nach der in Galater 2 beschriebenen Unterredung keinerlei Verpflichtungen seitens der Apostel auferlegt wurden (Gal. 2, 6), während auf dem Apostelkonzil vier Verpflichtungen für den Vollzug der Heidenmission genannt werden (Apg. 15, 28 ff.). Wie könnte Paulus, wenn er in Galater 2 über das Apostelkonzil schreiben würde, es verfehlen, den Beschluß des Apostelkollegiums an dieser Stelle zu nennen! Wenn man — wie Harrison24 — dagegen einwendet, beim Beschluß des Apostelkollegiums gehe es um kirchliche Fragen (die Lukas interessieren), während Paulus nur an den theologischen Ergebnissen der Beratungen interessiert sei, so ist dies ein recht schwaches Argument, denn in der Tat ist ja das Aposteldekret das zusammengefaßte Endergebnis der theologischen Beratungen des Apostelkonzils.
3. Ein dritter Gegengrund gegen die genannte Gleichsetzung ist, daß Galater 2 von einem eher privaten Gespräch zwischen Paulus und den drei führenden Aposteln von Jerusalem spricht, während Apostelgeschichte 15 eine offizielle Zusammenkunft beschreibt, die von vielen besucht war.
Es mag von daher geschlossen werden, daß eine Gleichsetzung von Galater 2 und Apostelgeschichte 15 nicht unmöglich, aber doch sehr unwahrscheinlich ist.
Wir wenden uns nun der Frage nach der möglichen Gleichsetzung des in Galater 2 beschiebenen Jerusalembesuches von Paulus mit dem in Apostelgeschichte 11 geschilderten »Hunger-Hilfe-Besuch« zu.
Sechs Überlegungen lassen sich zugunsten dieser Gleichsetzung namhaft machen.
1. Als erstes ist zu beachten, daß es Paulus in Galater 1 + 2 darauf ankommt, keinen seiner Jerusalembesuche unaufgezählt zu lassen. Folglich muß Galater 2,1-10 – wenn es in Galater 1, 18-24 um den Jerusalembesuch von Apostelgeschichte 9, 21-29 geht – identisch sein mit dem in Apostelgeschichte 11, 27-30 und 12, 25 geschilderten »Hunger-Hilfe-Besuch«.
2. Der Besuch von Galater 2 wurde – wie Paulus ausdrücklich vermerkt – durch eine Vision angeregt (Gal. 2, 2), was ja für den »Hunger-Hilfe-Besuch« zutrifft (Apg. 11, 27ff.).
3. Paulus wurde anläßlich des in Galater 2 beschriebenen Gesprächs mit den Aposteln keinerlei Verpflichtung hinsichtlich irgendwelcher Gesetzesrücksichten auferlegt (Gal. 2, 6), was man vom Apostelkonzil nicht sagen könnte (Apg. 15, 20+ 28).
4. Paulus wurde im Anschluß an den Besuch in Galater 2 nur gebeten, künftig der Armen eingedenk zu bleiben (Gal. 2, 10), was ausgezeichnet zum » Hunger-HilfeBesuch « paßt. In Apostelgeschichte 15 dagegen ging es um ganz andere Fragen!
5. Das Fehlverhalten des Petrus in Antiochien (Gal. 2, 11-14) wäre leichter zu verstehen, wenn es nach einer lediglich privaten Absprache zwischen den Aposteln und Paulus unterlief und nicht nach dem offiziellen Jerusalemer Konzil.
6. In Galater 2 scheint es sich um eine Absprache im kleinen Kreis zu handeln, während Apostelgeschichte 15 eine Konferenz in größerem Rahmen schildert. Solch eine private Unterredung könnte gut am Rande des »Hunger-Hilfe-Besuches« (Apg. 11) in Jerusalem stattgefunden haben.
Diese Gründe lassen eine Gleichsetzung von Galater 2 mit Apostelgeschichte 11 wahrscheinlicher erscheinen als mit Apostelgeschichte 15.
Doch werden gegen diese Gleichsetzung von Galater 2 und Apostelgeschichte 11 auch gewisse Einwände erhoben. Wir nennen im folgenden vier davon.
1. Zum einen wird auf Galater 2, 5 hingewiesen, wo Paulus im Blick auf jenen Jerusalembesuch schreibt, er habe damals »Für euch« – d. h., so wird gesagt, »für die Galater« – gekämpft. In diesem Fall könnte der Besuch von Galater 2 erst nach der 1. Missionsreise anzusetzen sein und nicht zur Zeit von Apostelgeschichte 11. Doch wird sich das »Für euch« nicht speziell auf die Galater, sondern auf die Heidenchristen allgemein beziehen.
2. Der zweite Einwand geht von Galater 4, 13 aus, wo das griechische »to pröteron« oft mit »das erste Mal» übersetzt wird. Nach dieser Übersetzung muß Paulus bis zur Abfassung des Galaterbriefes mindestens zweimal in Galatien gewesen sein (1. und 2. Missionsreise), und zu diesem späten Zeitpunkt hätte das Apostelkonzil (Apg. 15) natürlich schon stattgefunden und würde nun von Paulus erwähnt.25 Doch kann »to pröteron« adverbiell genommen auch einfach »einst«, »früher«, »vorher« bedeuten (vgl. Joh. 6, 62; 9, 8; Eph. 4, 22; 1. Tim. 1, 12 f.).26 Und selbst wenn der erste von zwei Besuchen gemeint sein sollte, könnte dabei immer noch auf die beiden Besuche der südgalatischen Städte anläßlich der 1. Missionsreise angespielt sein (Apg. 14, 20 b-21).
3. Es wird manchmal als Einwand angeführt, daß das Problem der Beschneidung von Heidenchristen ja schon vor der 1. Missionsreise bestanden haben müßte, wenn Galater 2 wirklich mit dem Besuch von Apostelgeschichte 11 gleichzusetzen wäre.27 Nun, daß das tatsächlich der Fall gewesen sein kann, geht aus der Tatsache hervor, daß sich Heiden ja schon vor der 1. Missionsreise bekehrten (vgl. Apg.10; und 11, 19 f.)!
4. Ein vierter gewichtiger Einwand besagt, daß eine Gleichsetzung von Galater 2 und Apostelgeschichte 11 mit der früh-paulinischen Chronologie unvereinbar sei.28 Mit dieser Angelegenheit müssen wir uns im folgenden noch etwas genauer beschäftigen.
Daten im Leben des frühen Paulus
Nehmen wir den 14. Nisan (etwa April) des Jahres 33 als das wahrscheinlichste Datum der Kreuzigung Jesu,29 so wäre es angesichts all der Ereignisse von Apostelgeschichte 1-8 wohl zu früh, die Bekehrung des Paulus schon im Jahr 34 anzusetzen. Hier ist auch mit zu bedenken, daß Paulus später von Damaskus zu einem Zeitpunkt floh (Apg. 9, 23 ff.), als Aretas diese Stadt regierte (2. Kor. 11, 32). Diese Position hatte Aretas aber vor 34 noch nicht inne, ja, vermutlich gewann er sie erst im Jahr 37, als Caligula Kaiser wurde.30 In diesem Fall war die Bekehrung des Paulus frühestens 35 n. Chr., d. h. drei Jahre vor seiner Flucht aus Damaskus (vgl. Gal. 1, 17 f.; Apg. 9, 23 ff.).31 War seine Bekehrung aber 35 n. Chr. und sein zweiter Jerusalembesuch (nach Gal. 2, 1 ff.) 14 Jahre danach,32 so stellt sich die Frage, ob dieser Jerusalemaufenthalt chronologisch gesehen tatsächlich noch der »Hunger-Hilfe-Besuch« gewesen sein kann. Wir meinen, ja!
Fand das lebensverändernde Damaskuserlebnis des Paulus im Sommer 35 statt, und zwar vor dem Monat Tischri (September/Oktober), mit dem das zivile jüdische Jahr begann, und ist der »Hunger-Hilfe-Besuch« im Herbst 47 (nach Tischri) anzusetzen, so liegt zwischen beiden Ereignissen nach der jüdischen Zeitrechnungsart, nach der angebrochene Jahre als ganze zählen, ein Zeitraum von 14 Jahren! Und tatsächlich weisen auch alle bekannten Tatsachen darauf hin, daß der »HungerHilfe-Besuch« im Herbst 47 stattfand.
Nach Josephus (Ant. 20, 2.5/51) ereignete sich die große Hungersnot in Palästina zur Zeit der Prokuratoren C. Cuspius Fadus und Tiberius Alexander, von denen soweit uns bekannt ist — der erste sein Amt 44 n. Chr. antrat und 45 noch inne hatte, der zweite aber bis 48 n. Chr. regierte.33 Der Amtswechsel fand also irgendwann 46-47 n. Chr. statt, und nach Josephus ist der Beginn der Hungersnot in diese Zeit zu legen. Wichtig ist weiter, daß das jüdische Jahr 47/48 (ab Tischri 47 n. Chr.) ein Sabbatjahr war, währenddessen ja weder gesät noch geerntet werden durfte.34 Die Ereignisse lassen sich von da aus wie folgt rekonstruieren: Im Sommer 47 gab es in Judäa eine Mißernte. Die Christen in Antiochien, die durch eine Prophetie bereits über die kommende Hungersnot informiert waren (Apg. 11, 27 ff.), sandten, als sie von der Mißernte hörten und angesichts des beginnenden Sabbatjahres, im Herbst 47 n. Chr. durch eine Gesandtschaft um Paulus Hilfe für die hungernden palästinischen Christen. Die Tatsache, daß in Judäa angesichts des Sabbatjahrs vor dem Frühjahr 49 keine Ernte zu erwarten war, deckt sich übrigens aufs beste mit der Prophetie des Agabus bezüglich eines weltweiten Hungers unter dem Kaiser Claudius (Apg. 11, 28): in Griechenland fand die Hungersnot nämlich im Jahr 48/49 statt (Eusebius), in Rom 50/51 (Orosius; Tacitus; Suetonius), so daß sich eine weltweite Hungerbewegung zeigte, die 47 in Palästina begann und sich bis 51 in westlicher Richtung nach Rom ausbreitete.35
Ergebnis
Es zeigt sich also: Die Gleichsetzung von Galater 2 mit dem »Hunger-HilfeBesuch« von Apostelgeschichte 11 ist in bester Harmonie mit allen bekannten Tatsachen. Hier gibt es keinerlei »Widersprüche« zwischen Lukas und Paulus. Die Aussagen der beiden fügen sich mit allen bekannten geschichtlichen Daten gleich Mosaiksteinen zu einem harmonischen Bild. Die bei diesem Besuch getroffene private Abmachung zwischen Paulus, Barnabas und den drei Jerusalemer »Säulenaposteln« konnte die Frage nach der Gesetzesfreiheit oder Gesetzesverpflichtung der Heidenchristen in der jungen Kirche noch nicht allgemein klären. Vielmehr folgten Jerusalemer Judaisten dem Paulus nach Antiochien, stifteten dort Unruhe an (vgl. Gal. 2, 11-14; Apg. 15, 1) und reisten ihm offenbar auch auf der 1. Missionsreise nach, was in der Folge eine Verwirrung der jungen Galaterchristen in der Gesetzesfrage bewirkte. Kurz nach seiner Rückkehr nach Antiochien36 hörte Paulus von der Verwirrung, die in den südgalatischen Gemeinden entstanden war. Doch konnte er nicht sogleich selbst wieder nach Galatien reisen, weil angesichts der auch in Antiochien aufgetretenen Probleme zunächst die Reise zum Jerusalemer Apostelkonzil (Apg. 15, 2) nötig wurde, wo die Frage nach dem Stellenwert des Gesetzes geklärt werden sollte.
So schrieb der Apostel den Galaterbrief statt eines persönlichen Besuches direkt vor seiner Abreise nach Jerusalem im Spätsommer 49 n. Chr. — ein Manifest für gesetzesfreies Evangelium, das über die Reformationszeit hin bis heute eine deutliche Sprache redet und uns zeigt, daß sowohl die Errettung als auch die Heiligung des Menschen kein Werk des Gesetzes sein kann! Dieses Evangelium hat der Apostel also von seinem ersten (!) Brief an verkündigt.
W. G. Kümmel, Einleitung in das NT, Heidelberg : Quelle & Meyer, 1973, p. 264. ↩
Zur Geschichte Galatiens s. P. W. Schmiedel, »Galatia«, Encyclopedia Biblica, 1901; sowie W. Michaelis, Einleitung in das NT, 3. Aufl. Bern: B. Haller Verlag, 1961, p. 184. ↩
Johann Joachim Schmidt in seiner Praelusio autumnalis de Galatis ad quos Paulus Litteras misit. ↩
S. dazu W. M. Ramsay, The Church in the Roman Empire before AD 170, London: Hodder & Stoughton, 19006, p. 111; und F. F. Bruce, »Galatian Problems II: North or South Galatians«, Bulletin of the John Rylands Library 52 (1970): 247. ↩
P. W. Schmiedel, a.a.O., col. 1607. ↩
Z. B. Apg. 13, 13: Pamphylien; 13, 14: Pisidien; 14, 6: Lykaonien. ↩
Das griech. Wort »phrygiam< in 16, 6 wird dabei als Hauptwort aufgefaßt. ↩
Einige Bestreiter der Nordgalatientheorie haben fälschlich behauptet, das keltische Stammesgebiet sei von Süden her nicht zu erreichen ; s. dazu J. Moffatt, An Introduction to the Literature of the NT, Edinburgh: T. & T. Clark, 19113, p. 97. Doch war es lediglich schwierig, nicht aber unmöglich, Ankyra und Tavium von Süden anzugehen. ↩
S. dazu C. Hemer, »The Adjective ,Phrygia’«, Journal of Theological Studies 27 (1976): 122-126; und id., »Acts and Galatians Reconsidered«, Themelios 2 (1977): 84 f. ↩
Daß Derbe und Lystra in Lykaonien liegen, lkonium aber nicht, geht aus dem Vergleich von Apostelgeschichte 14, 1 +6 hervor. ↩
Diese Ansicht vertritt z. B. J. B. Lightfoot, The Epistle of St. Paul to the Galatians, London: Macmillan & Co, 1865, pp. 14 ff. (Nachdruck Grand Rapids: Zondervan, 1957); dagegen: F. F. Bruce, aaO, p. 250. ↩
J. B. Lightfoot, aaO, pp. 40 ff. Viele »Nordgalatien-Anhänger« lassen den Gal. aber schon etwas früher aus Ephesus geschrieben sein (s. J. Moffatt, aaO, pp. 101 f.), was Lightfoots Argumentation schwächen würde. ↩
Hierzu s. W. Michaelis, aaO, p. 185. Wo es nicht um seine Missionsfelder geht, kann Paulus auch einmal geographische Bezeichnungen verwenden ; so Galater 1, 21 »Syrien«, oder auch 1. Thessalonicher 2, 14; 2. Korinther 1, 16. ↩
Es ist übrigens inschriftlich belegt, daß sich Einwohner der verschiedenen Südgalatischen Landschaften als »Galater« bezeichneten; s. dazu W. M. Ramsay, The First Christian Century, London: Hodder & Stoughton, 1911, pp. 172-174, sowie C. Hemer, Themelios 2, p.84. ↩
Das griech. Manuskript D hat statt »Derbe« den Namen »Douberios«, was ihn als Einwohner einer mazedonischen Stadt ausweisen würde. Doch ist diese Lesart fragwürdig. ↩
Die Luther- und Elberfelder Übersetzung geben in Galater 4, 13 das griech. »di‘ astheneian« so wieder: Paulus habe den Galatern »in Schwachheit« des Fleisches das erste Mal das Evangelium verkündet. Nach dieser Wiedergabe gibt der Apostel die gesundheitlichen Begleitumstände bei seiner Missionstätigkeit in Galatien an, wobei entweder auf sein dauerndes Gesundheitsproblem angespielt ist (vgl. 2. Kor. 12, 7), oder auf die Folgen der Mißhandlung während der 1. Missionsreise (vgl. Apg. 14, 19 ff.; 2. Tim. 3, 11); so H. Ridderbos, The Epistle of Paul to the Churches of Galatia, Grand Rapids: Eerdmans, 1953, pp. 166 f. — Doch nach Blass/Debrunner, Grammatik des nt-lichen Griechisch, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 197013, § 223.3, gibt »diä« mit dem Akkusativ im Griech. nicht die Begleitumstände, sondern die Ursache an. Es wäre also mit Menge zu übersetzen: »Ihr wißt vielmehr, daß ich euch das erste Mal (?), veranlaßt durch leibliche Schwäche, die Heilsbotschaft verkündigt habe.« Falls diese Übersetzung wirklich unausweichlich sein sollte, und die Krankheit des Apostels den Grund seiner Missionstätigkeit (in Südgalatien) bilden sollte, wäre — im Rahmen der Südgalatientheorie — die Erklärung von W. M. Ramsay, St. Paul the Traveller and Roman Citizen, London: Hodder & Stoughton, 1897, pp. 89-94, möglich, nach der Paulus auf der 1. Missionsreise im Küstenland Pamphylien (Apg. 13, 13 f.) eine ernste Erkrankung erlitt (Malaria?) und deshalb ins Hochland um das pisidische Antiochien zog, von wo aus dann die Evangelisierung Südgalatiens begann. ↩
J. Moffatt, aaO, p. 99. ↩
Nur wenige Kritiker haben behauptet, Apostelgeschichte 9 beschreibe in Wirklichkeit denselben Besuch wie Apostelgeschichte 11, 27 ff. (»Hunger-Hilfe-Besuch«), nur habe Lukas das nicht gemerkt und fälschlich zwei Besuche daraus gemacht! S. dazu den Bericht bei
G. Ogg, The Chronology of the Life of Paul, London: Epworth Press. 1968, pp. 32 f. ↩K. Haacker, Neutestamentliche Wissenschaft, Wuppertal: TVG R. Brockhaus, 1981. S. 20. ↩
dazu St. D. Toussaint, »The Chronological Problem of Galatians 2:1-10«, Bibliotheca Sacra 120 (1963): 335f. ↩
So G. Ogg, aaO, p. 57. ↩
Dieses Argument erwähnt R. G. Hoerber, »Galatians 2:1-10 and the Acts of the Apostles«, Concordia Theological Monthly 31 (1960): 482. ↩
Der »Hunger-Hilfe-Besuch« (Apg. 11, 27-30 + 12, 25) fand etwa 3 Jahre nach der herodianischen Verfolgung (ca. 44 n. Chr.) statt, wie wir weiter unten zeigen wollen. Lukas fügt den Verfolgungsbericht (Apg. 12, 1-24) lediglich deshalb an dieser Stelle ein, weil er nach seinem Bericht über die Vorgänge in der Gemeinde von Antiochien (Apg. 11, 19-30) nun seine Schilderung der Ereignisse in Jerusalem wieder »up to date« (also auf den neuesten Stand) bringen will. Das »Zu jener Zeit« in Apostelgeschichte 12, 1 ist ein ziemlich dehnbarer und relativer Begriff. ↩
E. F. Harrison, Introduction to the NT, Grand Rapids: Eerdmans, 1971, pp. 237 f. ↩
So W. G. Kümmel, aaO, pp. 263 f. ↩
dazu R. G. Hoerber, aaO, p. 488. ↩
J. Moffatt, aaO, p. 92. ↩
So E. F. Harrison, aaO, p. 277. ↩
H. W. Hoehner, »The Significance of the Year of Our Lord’s Crucifixion for NT Interpretation«, in R. N. Longenecker u. M. C. Tenney, Hrg., New Dimensions in NT Study, Grand Rapids: Zondervan, 1974, pp. 115-126. ↩
D. Guthrie, NT Introduction, Downers Grove: IVP, 19703, p. 665. Im einzelnen s. dazu G. Ogg, aaO, pp. 19-23. ↩
Von manchen wird behauptet, seine Bekehrung könne frühestens 36 n. Chr. gewesen sein, weil die Steinigung des Stephanus (Apg. 7), bei der Saulus anwesend war, erst in diesem Jahr stattgefunden haben könnte, in dem es gerade keinen römischen Prokurator in Judäa gab und die Juden somit selbst Todesurteile vollstrecken konnten. Doch könnte die Steinigung des Stephanus als spontaner Ausbruch von Fanatismus seitens der jüdischen Autoritäten und ihrer Helfershelfer auch schon früher stattgefunden haben. Zur Diskussion s. G. Ogg, aaO, pp. 11 f. ↩
Wir gehen davon aus, daß die »14 Jahre« in Galater 2, 1 genau wie die »3 Jahre« in Galater 1, 18 von der Bekehrung an gerechnet werden müssen und nicht erst vom Ende der zunächst genannten Dreijahresperiode; gegen Th. Zahn, Einleitung in das NT, Leipzig: A. Deichert, 1900, Bd. 2, p. 630. ↩
J. Jeremias, »Sabbatjahr und neutestamentliche Chronologie«, in ABBA. Studien zur ntlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, pp. 234 f. ↩
dazu J. Jeremias, aaO, pp. 233-235, der diese Zusammenhänge aufzeigt. Leider meint Jeremias, wie so manche Bibelkritiker, Apostelgeschichte 11 und 15 beschrieben das gleiche Ereignis, und Lukas habe sich geirrt, wenn er zwei Jerusalembesuche daraus »machte«. Er müsse nun von seinen modernen Kritikern korrigiert werden! Jeremias datiert seinen kombinierten »Hunger- und Apostelkonzilsbesuch« ins Jahr 48 n. Chr. ↩
Zur Hungersnot s. auch K. S. Gapp, »The Universal Famine under Claudius«, Harvard Theological Review 28 (1935): 258-265. ↩
Vgl. dazu das »So bald« (griech. »tacheos«) in Galater 1, 6. — Die Aussage des Lukas in Apostelgeschichte 14, 28, daß Paulus und Barnabas »eine nicht geringe Zeit« in Antiochien waren, bezieht sich nicht auf die Zeitspanne zwischen dem Ende der 1. Missionsreise und dem Apostelkonzil, sondern auf den gesamten Aufenthalt in der Heimatgemeinde Antiochien zwischen der ersten und zweiten Missionsreise. So gesehen ergibt sich kein Widerspruch zwischen Galater 1, 6 und Apostelgeschichte 14, 28. ↩