1 Das Problem
Im Lukasevangelium wird hervorgehoben, dass Maria und Joseph vor ihrer Hochzeit in Nazareth wohnten, um sich erst auf die angeordnete Volkszählung hin nach Bethlehem zu begeben (Lk 1,26ff; 2,4f). Im Matthäusevangelium hingegen wird nur Bethlehem als Geburtsort Jesu genannt (Mt 2,1) und später darauf hingewiesen, dass Maria und Joseph sich lediglich in Nazareth niederließen, weil zwischenzeitlich Achelaus, ein Sohn von Herodes dem Großen über Judäa regierte, vor dem sie sich fürchteten (Mt 2,19-23).
2 Die Lösung
In der Zusammenschau beider Berichte aber entfaltet sich ein durchaus nachvollziehbares Szenario. Ein direkter Widerspruch zwischen den Evangelien findet sich nämlich nicht. Wir können eher davon ausgehen, dass sich beide Überlieferungen ergänzen. Matthäus erwähnt Bethlehem lediglich als Geburtsort, macht aber keine Angaben über den vorherigen Wohnort des Paares oder den Ort an dem Maria schwanger wurde.
Scheinbar war für Matthäus der Heimatort Maria und Josephs von untergeordneter Bedeutung. Bethlehem aber erwähnt er, weil sich mit diesem Ort die Erfüllung einer alttestamentlichen Prophetie verbindet, nach der hier der von Gott verheißene Messias geboren werden solle (Jer 23,5; Mi 5,1).
Der für ein jüdisches Publikum schreibende Matthäus nimmt immer wieder Bezug auf das Alte Testament, um deutlich zu machen, dass sich im Leben Jesu die Prophezeiungen und Hoffnungen Israels erfüllen. Da keine alttestamentliche Prophezeiung den Wohnort der Eltern des Messias vor dessen Geburt beschreibt, lässt Matthäus diesen als entbehrliche Information fallen.
Lukas hingegen, der für ein gebildetes nichtjüdisches Publikum schreibt, legt besonderen Wert auf genaue Orts-, Namens- und Datierungsangaben. Seine Informationen über das Leben Jesu sollen den Anforderungen antiker Geschichtsschreibung genügen (Lk 1, 1-4), so erwähnt er auch Orte, Herrscher und politische Verhältnisse jener Zeit (z.B. Lk 1,5; 2,1f; 3,1f), die nur wenig Bezug zur jüdisch-alttestamentlichen Welt haben.
Einig sind sich Matthäus und Lukas darin, dass Jesus seine Kindheit in Nazareth verbracht hat (Mt 2,19f; Lk 2,39). An dieser Stelle jedoch fasst Lukas die ersten zwölf Jahre Jesu mit zwei Versen zusammen, wobei er nur den Ort nennt, an dem die Familie die meiste Zeit verbrachte (Lk 2,39f).
Der an erfüllter Prophetie interessierte Matthäus erwähnt darüber hinaus noch ein kurzzeitiges Asyl der Familie in Ägypten (vgl. Hos 11,1; Jer 31,15). Auch geht Matthäus auf die Überlegungen von Maria und Joseph ein, die sich scheinbar noch unsicher sind, wo sie sich niederlassen sollen. Dabei ist es durchaus nicht selbstverständlich, dass sich die junge Familie wieder nach Nazareth begibt. Denn einerseits ist Judäa ihre erste Station auf dem Weg aus dem ägyptischen Exil, andererseits scheinen sie gute verwandtschaftliche und bekanntschaftliche Beziehungen nach Judäa zu haben.
Der Heimatort Josephs ist Bethlehem (Lk 2,4). Dabei wird uns nicht gesagt, seit wie vielen Generationen Joseph und seine Vorfahren sich in Nazareth niedergelassen haben. Auch Maria verfügte über enge verwandtschaftliche Verbindungen nach Judäa, wie wir an ihrem ausgedehnten Besuch bei Elisabeth feststellen können (Lk 1,36.39ff). Falls sie darüber hinaus noch Angst vor weiterer staatlicher Verfolgung gehabt haben sollten, wie es durchaus verständlich wäre, spräche einiges dafür sich nicht sofort zu ihrem früheren Wohnsitz zu begeben, wo sie leichter auffindbar wären. Außerdem werden Maria und Joseph wahrscheinlich über keine großen materiellen Werte verfügt haben, die sie nach Nazareth zogen, beide sind eher arm (Lk 2,23f; vgl. 3Mo 12,1-8). Zudem hatten beide erst wenige Monate vor ihrer Reise nach Bethlehem geheiratet (Mt 1,24f; Lk 1,26f; 2,5), verfügten also wahrscheinlich noch über kein eigenes Haus, da es üblich war, bis zur Gründung eines eigenen Hausstandes unter einem Dach mit den Eltern zu wohnen. Vor diesem Hintergrund scheinen sich für Maria und Joseph die Argumente für eine Existenzgründung in Nazareth oder in Judäa durchaus die Wage gehalten zu haben, wie Matthäus berichtet (Mt 2,22f).
Da Joseph in Ägypten jedoch nur vom Tod des Herodes erfahren hat, wird er zurück in Israel davon überrascht, dass das Land unter den Söhnen des Tyrannen aufgeteilt worden ist. Nach der schlechten Erfahrung mit Herodes dem Großen, zieht Joseph die menschenfreundlichere Regierung von Herodes Antipas (Lk 3,1) der des Archelaus vor und begibt sich deshalb nach Galiläa. Dass Joseph mit seiner politischen Einschätzung durchaus richtig lag, bestätigt uns die Geschichte. Demnach bemühte sich Archelaos redlich sein Volk zu unterdrücken und auszubeuten. In seiner Regierungszeit, die sich bis 33 n.Chr. ausdehnte, fanden in seinem Regierungsgebiet zahlreiche Aufstände und Rebellionen statt. Nach dessen Tod unterstellen die genervten Römer diese Landesteile vorläufig einer direkten römischen Verwaltung.
Nicht zuletzt erwähnt Matthäus einen heilsgeschichtlichen Grund, warum sich Maria und Joseph in Nazareth niederlassen. Damit solle sich eine Prophetie erfüllen, nach der der Messias ‘Nazarener’ genannt werden würde (Mt 2,23). Da im Alten Testament keine Prophetie dieses Inhalts erwähnt wird, wäre es möglich, dass sich Matthäus auf eine damals noch bekannte mündliche Überlieferung prophetischer Aussagen aus alttestamentlicher Zeit bezieht. Einige Ausleger sehen eine sprachliche Verbindung zwischen ‘Nazarener’ und dem hebräischen Wort für ‘Spross’ aus Jesaja 11,1. Andere meinen ‘Nazarener’ stünde lediglich als Synonym für eine verachtete, verabscheuungswürdige Person. Als solche wurden die Bewohner von Galiläa immer wieder bezeichnet (Joh 1,46). Sollte der Namen ‘Nazarener’ für den verheißenen Messias nicht wörtlich zu verstehen sein, könnte man die Aussage des Matthäus auf Prophetien wie Ps 22,7-9 oder Jes 49,7 und 53,3 beziehen. Wieder andere Exegeten sehen eine Verwandtschaft zu einem lautlich ähnlichen griechischen Begriff (‘nadziraios’), der mit ‘rein’ und ‘heilig’ übersetzt werden kann. Dann wäre der hier erwähnte prophetische Hinweis ein Bekenntnis zur göttlichen Herkunft Jesu.
3 Das Ergebnis
Wie hoffentlich deutlich geworden ist, können wir schlussendlich festhalten, dass sich die Berichte beider Evangelisten durchaus nicht widersprechen, sondern aus verschiedenen Blickwinkeln sich ergänzende Angaben über die Wohnorte Maria und Josephs zwischen Empfängnis, Geburt und Aufwachsen Jesu machen.