ThemenBibelverständnis

Müssen wir das „sola scriptura“- Prinzip aufgeben?

Anmerkungen zu Klaus Bergers Kritik an der reformatorischen Hermeneutik.

Klaus Berger ist überaus produktiv und gehört zum erlauchten Kreis jener universitären Gelehrten, der auch innerhalb der bekenntnisorientierten evangelischen und katholischen Gemeinschaft gern zitiert wird. Berger, der als Exil-Katholik1 an der evangelischen Fakultät in Heidelberg Neutestamentliche Theologie lehrt, stellt mit Vorliebe Fragen, die jenseits frommer Kreise kaum noch erörtert werden. Er diskutiert das Wunderproblem (1999a), den Absolutheitsanspruch des Christusglaubens (2000a), den historischen Jesus (1990 u. 1999c), die Theodizeefrage (1999d), die Mystik (2000b) oder die Herkunft des Bösen (2001a). Seine Ausführungen zeugen von Gelehrsamkeit und einem weiten Horizont sowie dem Anliegen, Antworten zu finden, die das aufgeklärte wissenschaftliche Denken mit bewährten jüdisch-christlichen Glaubensüberzeugungen versöhnen und dabei der Kirche helfen, ihre missionarische Ausstrahlung zurückzugewinnen. Beliebt in Bekennerkreisen sind seine kritischen Stellungnahmen zur Frauenordination und zur Schwulensegnung (z.B. 2004c). Bergers pointierter Protest erweckt vielfach den Eindruck, er fasse diese „heißen Eisen“ ungewohnt bibelorientiert an und lehne sich mutig gegen die liberalen Vorstellungen des Establishments auf. Berger möchte loyal sein, loyal gegenüber der Schrift und loyal gegenüber dem Hörer der Schrift. Gelingt ihm diese anspruchsvolle Synthese?

Kürzlich verfasste Klaus Berger eine scharfe Kritik am naiven Ökumenismus, die auch in evangelikalen Publikationen2 Beachtung fand (2004a). Er bekämpft dort die These, eine Wiedervereinigung der christlichen Konfessionen lasse sich durch die Rückkehr zur puren Heiligen Schrift beschleunigen. Es sei eine Lebenslüge zu behaupten, „die Bibel“ oder „allein die Schrift“ sei der Maßstab der Vereinigung, so Berger (2004a).3 Ein Gedanke, der recht naheliegt. Ohne weiteres4 kann das „sola scriptura“ den Kirchen bei diesem Prozess nicht helfen. Schließlich hat das Festhalten der Reformatoren an der „sola“-Formel5 zur konfessionellen Abspaltung geführt. Weshalb sollte man also nun erwarten, dass genau dieses Prinzip die christlichen Kirchen wieder zusammenführt?

Klaus Berger jedoch begründet seine Skepsis radikal anders. Er stellt nicht nur in Frage, dass das „sola scriptura“-Prinzip eine Ökumene fördert, er hinterfragt die Hermeneutik der Reformation insgesamt. Die Praxis habe gezeigt, so Berger, dass an dem „sola scriptura“-Prinzip „eigentlich keiner mehr festhalten kann“ (2004a). Biblische Texte ließen sich so „exegetisch verbiegen“ (2004a), bis sie das Wunschdenken eines Auslegers scheinbar bestätigten.

Die Feststellung, Bibeltexte ließen sich verbiegen oder ideologisch instrumentalisieren, ist nun eher banal. Dieses Phänomen begegnet uns schon im Sündenfallbericht (Gen 3) oder bei der Versuchung Jesu (vgl. Mt 4,1-11 u. Lk 4,1-13) und ist bis in unsere Tage hinein hinreichend dokumentiert. Was allerdings bewegt Berger, von dieser Beobachtung ausgehend zu behaupten, das „sola scriptura“-Prinzip sei nicht mehr haltbar? Erzwingen exegetische Blüten tatsächlich die Absage an das „allein die Schrift“? Ist Exegese de facto hochgradig der Willkür des Auslegers ausgesetzt? Müssen wir – im Sinne einer postmodernen Hermeneutik – davon ausgehen, dass jede Auslegung eines Bibeltextes nur den ‚Erkenntnishorizont’ ihres Exegeten widerspiegelt und für den Erhalt oder gar eine Ausdehnung von Machtansprüchen in den Dienst genommen wird?

Erzwingen exegetische Blüten tatsächlich die Absage an das „allein die Schrift“?

Bergers Auslegungspessimismus ist überzogen und ich möchte ihn zum Anlass nehmen, seine hermeneutischen Überlegungen etwas genauer zu beleuchten. Zunächst werde ich zeigen, dass es um die Bibelauslegung nicht ganz so tragisch bestellt ist, wie Bergers Stellungnahmen es vermuten lassen. Wir können – so meine Behauptung – exegetische Fehlleistungen vergleichsweise gelassen zur Kenntnis nehmen. Auf der anderen Seite bin ich jedoch der Auffassung, dass Bergers eigener hermeneutischer Ansatz berechtigten Anlass zur Besorgnis gibt und von reformatorisch gesinnten Christen zurückgewiesen werden muss. Wenden wir uns zunächst dem Phänomen zu, dass Bibeltexte mannigfaltig oder falsch interpretierbar sind.

II.

Exegetische Kuriositäten finden sich überall und immer wieder, nicht nur heute oder bloß in den Randzonen größerer christlicher Konfessionen. Um bei einer Bibelauslegung falsch zu liegen, bedarf es nicht einmal einer bösartigen Gesinnung. Auch als bewährt geltende Kirchenväter haben unglückliche Kommentare produziert.

Auch bewährte Kirchenväter haben unglückliche Kommentare produziert

Aurelius Augustinus (354–430) gehört unbestreitbar zu den seriösen Gelehrten der Kirchengeschichte. Er wird von Katholiken und Protestanten gleichermaßen geschätzt und hat sich unter anderem durch seine Untersuchungen über Sprache und Bibelauslegung sehr hervorgetan. Dennoch begegnen uns bei ihm Kommentare, die sich so kaum noch nachvollziehen lassen. Die Perikope von 1Kor 13,8-10 zählt im Rahmen der Charismen-Debatten bekanntlich zu den derzeit inbrünstig diskutierten paulinischen Texten. Aber kaum ein Ausleger der Gegenwart wird in dieser Angelegenheit Augustinus verteidigen, der die Meinung vertrat, Paulus bezeichne dort die Zeitgenossen als ‚vollkommen‘, die sich so stark auf Glaube, Hoffnung und Liebe stützten, dass sie selbst der Heiligen Schrift gar nicht mehr bedürften, es sei denn, um andere zu unterweisen.6

Klaus Bergers eigene exegetische Untersuchungen zur Homosexualität illustrieren anschaulich, dass überdies ein Professor der Neutestamentlichen Theologie nicht selbstverständlich gegen unglückliche Bibelauslegung gefeit ist.7

Berger konstatiert in seiner „Stellungnahme zu praktizierter Homosexualität bei Amtsträgern in der Christlichen Gemeinde“ zunächst auf der Grundlage von Röm 1,26f, dass es sich bei Homosexualität um den „Inbegriff der menschlichen Verlorenheit“ (1996: 159) und einer suchtartigen Verkehrung der natürlichen Ordnung handle (Berger 1996: 159). Mit Hilfe eines radikal geschichtlichen Naturbegriffes und der behaupteten Uneindeutigkeit von Röm 1,26f delegiert er dann jedoch die aktuellen ethischen Problemstellungen in die Kompetenz der gelebten Gemeinschaft (Berger 1996: 160-161). Das Faktische des menschlichen Miteinanders sei der entscheidende Maßstab für die Beurteilung ethischer Fragen. Paulus würde – in diesem Sinn argumentiert Berger – auf einen objektiven Kodex für moralisches Verhalten verzichten und der Christengemeinschaft die Vollmacht zusprechen, ethische Urteile durch die Herbeiführung eines situationsbezogenen Konsensus herbeizuführen. Wahrheit – und damit auch Ethik – müsse „immer wieder neu applikativ ausgehandelt werden“ (Berger 1999b: 56), da es keine „überzeitliche Wahrheit“ gäbe (58). Dabei würden die Grenzen der Freiheit dort erreicht, wo das Verhalten einzelner öffentliches Ärgernis errege.8

Berger beruft sich in seiner Stellungnahme auf die paulinischen Ausführungen zu den Schwachen und Starken in der Gemeinde (1Kor 8 und Röm 14). Anliegen der Kirche müsse es sein, weder Gläubige mit einem starken Gewissen zu überfordern (gemeint sind emanzipierte und aufgeklärte bzw. gebildete Christen), noch Gläubige mit einem schwachen Gewissen zu irritieren (gemeint sind evangelikale oder bibeltreue Christen). Das hieße einerseits:

Homosexuelle tun nicht Unrecht, sondern ihnen wird Unrecht getan. Sie müssen vor kleinbürgerlichem Ordnungsdenken und einer in Zweifel gestellten Gleichberechtigung von Homo- und Heterosexualität durch die Schwachen geschützt werden. Das bedeutete andererseits: Die Starken sollen auf das öffentliche Provozieren der Schwachen verzichten, indem sie ihre gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften auf den privaten Bereich einschränken (Berger 1996: 166).

Bergers Exegese entspricht so ziemlich genau dem Gegenteil dessen, was die Paulustexte hergeben

Diese Exegese entspricht so ziemlich genau dem Gegenteil dessen, was die Paulustexte hergeben. Der Apostel fordert die Gewissensfreiheit dort, wo das moralische Gesetz den Menschen Freiheit zuspricht. Situationsethik hat durchaus ihre Berechtigung, nämlich genau dann, wenn es um die verantwortliche Lebensgestaltung im Rahmen der göttlichen Ordnungen geht.9 Selbstverständlich erfordert das Gespräch mit homoerotisch empfindenden Menschen in den Gemeinden Empathie, Demut und eine tiefgreifende Barmherzigkeit. Doch kann und darf weder innere Freiheit oder ein Gruppenkonsens Gebote Gottes ersetzen. Christen sind für Paulus dann stark, wenn sie ihr Gewissen gerade nicht an menschliche, sondern an göttliche Gebote binden (vgl. z.B. 1Tim 1,4-11; Tit 1,14).

Müssen uns nun ‚exegetische Verbiegungen‘ wie diese sonderlich beunruhigen? Die Antwort ist Nein!, die Begründung verblüffend schlicht: Gerade das Prinzip, das Berger auf der Grundlage einer möglichen exegetischen Variationsbreite gefährdet sieht, schützt uns vor der Macht des Irrtums oder Missbrauchs bei der Bibelauslegung. Um diesen ‚Schutzmechanismus’ zu verstehen, müssen wir uns kurz mit einigen Einsichten der reformatorischen Schriftauslegung vertraut machen.

Gerade das Prinzip „sola scriptura“ schützt uns vor der Macht des Irrtums oder Missbrauchs bei der Bibelauslegung

Das „sola scriptura“ war ein zentrales Thema der Reformation.10 Die Kirche des Mittelalters litt darunter, dass die Schrift stark durch die normative Kraft der kirchlichen Lehrautorität zurückgedrängt worden war. Die Kirche war nicht mehr Gestaltwerdung des Wortes Gottes, sondern verdeckte und verdrängte dieses Wort immer mehr durch eine von der Bibel entfremdeten Lehr- und Lebenspraxis.

Martin Luther (1483–1546) und mit ihm andere Reformatoren entdeckten das „sola scriptura“-Prinzip quasi als einen hermeneutischen Schlüssel dafür, das befreiende Evangelium von Jesus Christus wieder aus dem Dunkel einer geistlich verkommenen Kirche hervorscheinen zu lassen. Nicht mehr kirchliche Tradition oder private Einsichten sollten für die Beziehung zwischen Gott und dem Gläubigen maßgebend sein, sondern allein die Heilige Schrift. Für die Reformatoren lag das Auslegungsmonopol nicht mehr bei der Kirche, sondern allein bei dem uns durch Gott geschenkten Wort. Die Bibelauslegung emanzipierte sich damit sehr grundsätzlich von den autoritativen Instanzen jenseits ihrer selbst. Nicht die Kirche oder ein Lehramt trägt nach dem Verständnis der Reformatoren die Bibel, es ist umgekehrt, die Gemeinschaft der Gläubigen wird durch die Schrift getragen und geformt. Die Bibel, und zwar nur die Bibel, ist für sie heilige, göttliche Schrift, eins mit dem Wort Gottes.11

Die Heilige Schrift ist der „einige Probierstein“ aller Lehre (Epitome: 769,24).

Andere Schriften aber der alten oder neuen Lehrer, wie sie Namen haben, sollen der Heiligen Schrift nicht gleich gehalten, sondern alle zumal miteinander derselben unterworfen und anders oder weiter nicht angenommen werden, dann als Zeugen, welchergestalt nach der Apostel Zeit und an welchen Orten solche Lehre der Propheten und Apostel erhalten worden. (Epitome: 767-768)

Dieses starke Bekenntnis zur Bibel als der „norma normans“ impliziert nun eine weitreichende Vorbedingung, nämlich die, dass die Heilige Schrift ihr eigener Interpret sein kann. Die Schrift, so heißt es z.B. in der Confessio Helvetica prior von 1536, soll nur „mit ihr selbst ausgelegt und erlernt werden“ (Müller: 101,16-18). Und die am 17. August 1560 vom schottischen Parlament fast einstimmig angenommene Confessio Scoticana schreibt (Jacobs: 141):

Über die Auslegung dieser Schrift hat kein Mensch zu bestimmen, weder das schlichte Gemeindeglied noch ein mit einem öffentlichen Amt Bekleideter; ebensowenig beruht das Recht der Auslegung bei irgendeiner Kirche, und wenn sie sich noch so großer örtlicher und persönlicher Vorrechte und Vorzüge rühmt, sondern bei dem Geist Gottes, dem die Schrift selbst ihr Dasein verdankt.

Auslegung besitzt nur Autorität, insofern sie Schriftinhalt und Schriftwahrheit bezeugt und für die Praxis kirchlicher Existenz aktiviert

Wie hier findet sich in zahlreichen anderen herausragenden reformatorischen Schriften diese wichtige Unterscheidung zwischen Schrift und Auslegung. Die Schrift allein („sola scriptura“) bleibt höchster Richter und letztgültiger Maßstab für Lehre und Leben. Andere „angezogene Schriften sind nicht Richter wie die Heilige Schrift, sondern allein Zeugnis und Erklärung des Glaubens“ (Epitome: 769,28-31). An der Schrift, dem „völlig gewissen prophetischen Wort“, halten Christen unumstößlich fest (2Petr 1,19). Auslegung besitzt nur Autorität, insofern sie Schriftinhalt und Schriftwahrheit bezeugt und für die Praxis kirchlicher Existenz aktiviert. Schriftgemäße Auslegung ist erkennbar daran, dass sie Bibeltexte gerade nicht eigenmächtig deutet, sondern unter der Führung des Heiligen Geistes und in Übereinstimmung mit dem „äußeren Schriftsinn“ das, was in ihnen gesagt ist, entfaltet (vgl. 2Petr 1,20-21). Nur deshalb konnte sich schon ein Petrus darüber beschweren, dass Leichtfertige die paulinischen Schriften – in denen auch seiner Meinung nach einige Dinge schwer zu verstehen sind – zu ihrer eigenen Verdammnis verdrehten (2Petr 3,16).

Was sind das doch für befreiende Einsichten! Sie sprechen unser Gewissen frei von Bindungen an außerbiblische Autoritäten, insofern diese selbst nicht durch die Bibel legitimiert sind. Christen, die an dieser Erkenntnis festhalten, ersetzen die Autorität der Schrift nicht durch andere Institutionen, sei es die oder eine Vernunft, das Kollektiv, die Tradition, die innere Erleuchtung oder irgend etwas anderes, sie beugen sich demütig unter Gottes Offenbarung, gelassen wissend um die möglichen Irrtümer bei der eigenen Interpretation. Sie betten ihre Auslegung ein in die gelebte Christusnachfolge und führen sie einem gottgewollten Läuterungsprozess zu (vgl. 1Thess 5,11; 2Petr 3,16; 1Joh 4,1; 1Kor 14,29). Sie sind bemüht, ihre Ergebnisse vor dem Gesamtzeugnis der Heiligen Schrift sowie dem Forum bewährter kirchengeschichtlicher Dokumente rückzuversichern. Sie vertrauen darauf, dass Gott durch seinen Geist Fehldeutungen in der Kirche aufdeckt. Das „sola-scriptura“-Prinzip, an dem nach Berger „eigentlich keiner mehr festhalten kann“ (2004a), schützt damit exzellent vor der normativen Kraft einer subjektivistischen oder kollektivistischen Fehlinterpretation.

Christen vertrauen darauf, dass Gott durch seinen Geist Fehldeutungen in der Kirche aufdeckt

Insofern können wir mit unvollkommenen Bibelauslegungen recht gelassen umgehen. ‚Blüten‘ wird es immer geben, wir alle sind zu ihnen fähig. Aber die Gemeinde als Wohnsitz des Heiligen Geistes wird, wenn sie wachsam ist, darauf achten, dass sie keine allzu ansteckende Wirkung entfalten. Sie besitzt ja eine „norma normans“, eine ultimative Richtschnur, die eine Prüfung auf Passgenauigkeit erlaubt.

Dieses Urteil mag beruhigend wirken. Leider geben Bergers Ausführungen trotzdem Anlass zur Besorgnis. Warum das so ist, möchte ich abschließend veranschaulichen.

III.

Wir haben gesehen, dass es schon immer eine von Irrtümern behaftete Bibelauslegung gab. Christen aller Generationen waren sich dieser Tatsache bewusst. Und doch fällt die Diagnose dieses Sachverhalts bei reformatorisch gesinnten Christen grundsätzlich anders aus als bei Berger (und mit ihm bei vielen anderen Hermeneutikern).

Um besser zu verstehen, wie weit Berger von der Betrachtungsweise der Apostel oder der reformatorischen Christen abrückt, wollen wir zunächst an Sören Kierkegaards Auslegung über Jak 1,22-25 anknüpfen (Kierkegaard: 45-88).12

Jakobus appelliert in der Perikope Jak 1,22-25 an seine Leser, sie sollen nicht nur Hörer des Wortes sein, sondern auch Täter. Wer das Wort nur hört, der gleicht einem Mann, der im Spiegel sein Angesicht betrachtet, davonläuft und anschließend vergisst, wie er aussieht. Wer dagegen vor dem „Spiegel“ (eine Metapher für das vollkommene Gesetzt der Freiheit bzw. Gottes Gebote, vgl. V. 25 u. Ps 19,8-9) bleibt und hineinschaut, ist wirklich Täter des Wortes und sein Tun ist gesegnet.

Kierkegaard fragt nun, was für eine Art des Hörens gefordert ist, um als Hörer ein Gesegneter zu sein? Man müsse, so die Meinung des dänischen Philosophen, von der Untersuchung des Spiegels auch irgendwann dazu übergehen, sich selbst zu sehen, denn

Zum ersten wird gefordert, dass du nicht auf den Spiegel sehest, nicht den Spiegel beschauest, sondern dich selbst im Spiegel sehest (Kierkegaard: 60).

Tatsächlich können wir beim Betrachten des Spiegels zwei verhängnisvolle Fehler machen. Wir können entweder unsere eigenen Bilder auf den Spiegel projizieren oder aber uns auf die Inspizierung des Spiegels selbst beschränken. Der Gesegnete dagegen schaut in den Spiegel, um zu sehen, was dieser ihm über ihn zeigt. Wer recht hört, können wir folgern, interpretiert die Texte der Heiligen Schrift im Sinne ihrer Autoren, zieht jedoch aus den gewonnenen Ergebnissen angemessene persönliche Konsequenzen. Wer recht liest, denkt in einem fort daran, dass er es ist, „zu dem da gesprochen wird“ (Kierkegaard: 71).

Überträgt man die Metapher vom Spiegel auf Bergers hermeneutische Thesen, ergibt sich folgender Sachverhalt: Dass ein Betrachter nicht sieht, was der Spiegel zeigt, ist ein Problem des Spiegels. Er ist so verschwommen, dass der Betrachter nicht erkennen kann, was er zeigt.13

Während innerhalb der refomatorischen Hermeneutik die Ursache für irrtumsbehaftete Bibelauslegungen beim Ausleger zu suchen ist, verlagert Berger die Problematik in die uns überlieferten kanonischen Schriften selbst. Das Problem liegt nicht (nur) beim Exegeten, sondern ist in nuce ein Problem der Bibel. Wir können die Schrift nicht eindeutig und nachvollziehbar auslegen, weil es ihr an der dafür nötigen Klarheit und Einheitlichkeit fehlt. Nur so kann Berger zu dem Urteil kommen, das Neue Testament allein enthalte „etwa dreizehn verschiedene Theologien“ oder ehrliche Leute gäben zu, dass ein „sola scriptura“ „gar nicht zu realisieren“ sei (2004a). Schon „rein philologisch gesehen ist ohnehin eine Wiederaufnahme des ursprünglichen Sinnes der Schrift bei der Applikation unmöglich“, schreibt Berger (1999b: 58). Nach ihm gilt: „Um heute zu sagen, was Wahrheit ist, genügt die Schrift nicht“ (Berger 2004d).

Wenn die Schrift tatsächlich oberster Richter in allen Fragen des Glaubens und Lebens ist, wird eine grundsätzliche Verstehbarkeit vorausgesetzt

Wie anders dachten doch die Reformatoren über diesen Punkt. Nur, weil sie von einer grundsätzlichen Verstehbarkeit der Schrift ausgingen, konnten sie es sich selbst und anderen zumuten, der Herrschaft Roms zu widerstehen und ein Leben in völlig anderen Bahnen zu wagen. Ohne die tiefe Überzeugung und Erfahrung, dass Gottes Worte verständlich und operabel sind, hätte es weder ein Urchristentum noch eine Reformation gegeben. Wer wäre schon bereit, sein Leben auf der Grundlage von vielfach deutbaren Anweisungen aufzugeben? Tendierten nicht auch wir in solchen Fällen zur bequemsten Lesart?

Rechtmäßige Schriftauslegung unterscheidet sich von willkürlicher Interpretation dadurch, dass sie zur Sprache bringt, was im Text schon gesagt ist

Wenn die Schrift tatsächlich oberster Richter in allen Fragen des Glaubens und Lebens ist, wird eine grundsätzliche Verstehbarkeit vorausgesetzt. Die Schrift ist uns mit einer inneren Klarheit gegeben, welche sie fähig macht, sich selbständig auszulegen. Eine Rekonstruktion des von den geistgeleiteten Autoren ursprünglich intendierten literarischen Sinnes wird grundsätzlich für möglich gehalten und angestrebt. Rechtmäßige Schriftauslegung unterscheidet sich von willkürlicher Interpretation ja gerade dadurch, dass sie zur Sprache bringt, was im Text schon gesagt ist. Deshalb schrieb Heinrich Bullinger (1504-1575) in der Confessio Helvetica posterior von 1566 (Jacobs: 179):

Dagegen erkennen wir nur die Schriftauslegung als rechtmäßig und ursprünglich an, die aus den Schriften selbst erarbeitet ist, d.h. aus dem Geist der Sprache gewonnen ist, in der sie geschrieben sind, und zwar dem Zusammenhang gemäß und nach dem Verständnis ähnlicher und ungleicher, vor allem aber deutlicher Stellen – was denn ja auch mit der Glaubensregel und der Liebe übereinkommt und besonders zu Gottes Ehre und der Menschen Heil gereicht.

Die Existenz dunkler und unverständlicher Abschnitte wird durchaus anerkannt. Aber man erwartet, dass sich diese durch ‚helle’ Texte auslegen lassen und Verständlichkeit in allen heilsnotwendigen Sachverhalten (in den Ursprachen) erreichbar ist.14 Ja, einige Ausleger gingen sogar davon aus, dass Gott ‚dunkle’ Texte intendiert hat, um uns vor einer Übersättigung zu bewahren. Um noch einmal den kurz zuvor kritisierten Augustinus zu zitieren (DdC II,VI.7.15):

Denn prächtig und heilsam hat der Hl. Geist die Hl. Schrift so umgeformt, dass er mit klareren Stellen dem Hunger begegnet, mit den dunkleren aber den Überdruss vertreibt. Fast nichts nämlich wird in jenen dunklen Stellen aufgestöbert, was nicht anderswo in klarster Weise ausgedrückt gefunden werden kann.15

Nur auf der Basis ihrer Klarheit konnten sich Christen im Anschluss an die Reformation zur Allgenügsamkeit oder Suffiziens der Schrift bekennen. Damit ist angesprochen, dass der ganze Ratschluss Gottes in Bezug auf alles, was zum Glauben und zum Leben des Menschen nötig ist, entweder in der Schrift ausdrücklich niedergelegt ist oder durch Schlussfolgerungen aus der Schrift hergeleitet werden kann. Zu diesem Sachverhalt heißt es beispielsweise im Artikel 1.6 des Westminster Bekenntnisses von 1647 (Müller: 545, 11-25):

Der ganze Ratschluss Gottes in bezug auf alles, was zu seiner eigenen Ehre und zum Heil, zum Glauben und zum Leben des Menschen nötig ist, ist entweder in der Schrift ausdrücklich niedergelegt oder kann durch gute und notwendige Schlussfolgerungen aus der Schrift hergeleitet werden. Zu ihr darf zu keiner Zeit etwas hinzugefügt werden, sei es durch neue Offenbarungen des Geistes oder durch menschliche Überlieferungen.

Der ganze Ratschluss Gottes ist entweder in der Schrift ausdrücklich niedergelegt oder kann durch gute und notwendige Schlussfolgerungen aus der Schrift hergeleitet werden

Dieser Artikel ist Ausdruck eines tiefen Vertrauens in die Klarheit und Genügsamkeit der Schrift. Er bietet aber auch Schutz vor den zerstörerischen Einflüssen einer kirchlichen Tradition oder eines ‚geistgelehrten’ Spiritualismus. Denn auf der einen Seite gab es diejenigen, die behaupteten, dass die Autorität des Wortes Gottes jenseits der Schrift durch die „heilige Mutter“ Kirche gestiftet werde.16 Auf der anderen Seite gab es das Schwärmertum, das ebenfalls mit dem Anspruch auftrat, die Autorität des göttlichen Wortes werde durch die unmittelbare Geisterfahrung konstituiert.17

Die Reformatoren verwarfen entschieden die Abhängigkeit von einer der Schrift ebenbürtigen Offenbarungsinstanz. Weder akzeptierten sie die von den Spiritualisten kommenden besonderen Geistoffenbarungen noch irgendwelche anderen lehrmäßigen Ergänzungen. Die Schrift ist nicht ergänzungsbedürftig. In dem Maß, wie Gottes Wort „die Richtschnur aller Wahrheiten ist, alles enthaltend, was für den Dienst Gottes und unser Heil notwendig ist (Joh 15,11), ist es den Menschen nicht erlaubt, ja nicht einmal den Engeln, etwas dazuzutun, abzutrennen oder zu verändern“, schreibt das Hugenottische Glaubensbekenntnis von 1559 (Jacobs 112).

IV.

Bergers hermeneutische Überlegungen demonstrieren einen völligen Bruch mit dem Schriftverständnis der Reformation

Schade! Klaus Berger fehlt nicht der Mut, sich von den Positionen des universitären oder kirchlichen Establishments abzusetzen. Aber sein vermeintlicher Versuch, den Protestanten ein Protestant, den Katholiken ein Katholik oder den Evangelikalen ein Evangelikaler zu sein, geht nicht auf. Seine hermeneutische Überlegungen demonstrieren einen völligen Bruch mit dem Schriftverständnis der Reformation. Berger hat diesen Bruch nicht vollzogen, er hat ihn aufgenommen und steht nun trotz seines Konservatismus gemeinsam mit den Gegnern der Reformation auf der Seite derer, die die Vollmacht der Schrift durch andere Autoritäten zu ersetzen versuchen. Die von ihm geforderte Preisgabe des „sola scriptura“-Prinzips ist unbegründet. Vielmehr spricht einiges dafür, dass die Kraft- und Überzeugungslosigkeit der Kirche – die Berger selbst beklagt – aus einer aufgeweichten Hermeneutik resultiert und nicht ohne Rückkehr zum vollkommenen und allgenügsamen Wort Gottes überwunden werden kann. Denn wie sagte schon Augustinus?

„Es wird der Glaube nicht auf festen Füßen stehen, wenn die Autorität der göttlichen Schriften wankt“ (DdC I,XXXVII.89).

Literaturverzeichnis

  • Berger, Klaus
    • (2004a): „Bis der Notarzt kommt: Zurück zur Bibel? Der Ökumenismus treibt neue, welke Blüten“. In: FAZ 214, 14. September 2004, 33.
    • (2004b): „Die Heilige Schrift ‚pur’ – das gibt es nicht: Zu den Lesungen des siebten Sonntags der Osterzeit“. Katholische Zeitung für Politik. Gesellschaft und Kultur. URL: www.die-tagespost.de/Archiv/sonntagslesung_anzeige.asp?ID=174 [Stand: 5. Oktober 2004].
    • (2004c): „Sackgassen des Ökumenismus“, Schweizerische Kirchenzeitung. 36/2004, 2. September, 172 Jg. http://www.kath.ch/skz/skz 36- 04.htm [Stand: 05. Oktober 2004].
    • (2004d): „Die Bibel – kein Steinbruch zur Selbstbedienung. Was heißt „schriftgemäß“ im ökumenischen Diskurs? – Ein Beitrag zum fünften Jahrestag der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“, Die Tagespost. http://www.die-tagespost.de/Archiv/titel_anzeige.asp-?ID=115188 [Stand: 31. Oktober 2004].
    • (2003): „Protestanten, rettet die Katholiken!“, FAZ 119, 23. Mai 2003, 35.
    • (2002a): Sind die Berichte des Neuen Testaments wahr?: ein Weg zum Verstehen der Bibel. München: Chr. Kaiser, Gütersloher Verl.- Haus, ISBN: 3-579-05193 -8.
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    • (2001a): Wozu ist der Teufel da? Gütersloh: ISBN: 3-579-01454-4.
    • (2001b): Wozu ist Jesus am Kreuz gestorben? Gütersloh: Gütersloher Verl.- Haus, ISBN: 3-579-01452-8.
    • (2000a): Ist Christsein der einzige Weg? Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus, ISBN: 3-579-01453-6.
    • (2000b): Was ist biblische Spiritualität? Gütersloh: Quell, ISBN: 3-579- 03308-5.
    • (1999a): Darf man an Wunder glauben? Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus, ISBN: 3-579-01450-1.
    • (1999b): Hermeneutik des Neuen Testaments. Gütersloh: Gütersloher Verl.- Haus Mohn, ISBN: 3-7720-2263-4.
    • (1999c): Wer war Jesus wirklich? Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus, ISBN: 3-579-01448-X.
    • (1999d): Wie kann Gott Leid und Katastrophen zulassen? Gütersloh: Gütersloher Verl.-Haus, ISBN: 3-579-01449-8.
    • (1990): Der verkehrte Jesus: Ansichten über Jesus in unserer Zeit. Wuppertal: Verl. und Schr.-Mission d. Evang. Ges. f.D., ISBN: 3-87857- 249-2.
    • (1996): „Praktizierte Homosexualität bei Amtsträgern in der christlichen Gemeinde aus Sicht eines Neutestamentlers“. In: Schwule, Lesben … – Kirche: Homosexualität und kirchliches Handeln. Vorgelegt vom Leitenden Geistlichen Amt der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. EKHN-Dokumentation Bd. 2. Frankfurt am Main: Spener Verlagsbuchhandlung, 159-172.
  • Brunstäd, Friedrich (1951): Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften. Gütersloh: Bertelsmann.
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  • [Epitome]. „Epitome Articulorum“ in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch- lutherischen Kirche (1992). 11. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Fritsch, Friedemann (2004): „Sola scriptura? Zur ‚Theologischen Erklärung’ und den Reaktionen darauf“. Publiziert vom Netzwerk bekennender Christen – Pfalz: http://www.nbc-pfalz.de/pdf/diskussion-evkipfalz/ vppp200404/ vppp-fritsch-200404.pdf [Stand: 11. Oktober 2004].
  • Haas, Alois M. (1997): Der Kampf um den Heiligen Geist: Luther und die Schwärmer. Freiburg, Schweiz: Univ.-Verl., ISBN: 3-7278-1114-5.
  • Jakobs, Paul (Hg.) (1949): Reformierte Bekenntnisschriften und Kirchenordnungen in deutscher Übersetzung. Neukirchen: Buchhandlung des Erziehungsvereins.
  • Kierkegaard, Sören (1953): Zur Selbstprüfung der Gegenwart anbefohlen. Düsseldorf: Eugen Diederichs Verlag.
  • Müller, Karl E.F. (Hg.) (1903): Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche: in authentischen Texten mit geschichtlicher Einleitung und Register. Leipzig: A. Deichert’sche Verlagsbuchhandlung.
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  • Rohls, Jan (1987): Theologie reformierter Bekenntnisschriften: Von Zürich bis Barmen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
  • Vanhoozer, Kevin J. (1998): Is there a meaning in this text? Grand Rapids, Mich: Zondervan, ISBN: 0310211565.

  1. Siehe dazu das Interview mit Klaus Berger in: idea-Spektrum Nr. 52/53 2004. S. 18. 

  2. Vgl. „Bringt Rückkehr zur Bibel Konfessionen einander näher? Theologe Berger: Neues Testament empfiehlt weder Homo-Segnung noch Ohrenbeichte“ in idea-Spektrum, Nr. 39, 6, einsehbar z.B. unter http://www.nbc-pfalz.de/ pdf/presse/idea-0407-berger.pdf [Stand: 12. Oktober 2004]. 

  3. Klaus Berger nimmt hier Argumente Ernst Käsemanns auf (vgl. 2004c), der schrieb: „Der neutestamentliche Kanon begründet als solcher nicht die Einheit der Kirche. Er begründet als solcher, d.h. in seiner dem Historiker zugänglichen Vorfindlichkeit dagegen die Vielzahl der Konfessionen.“ Aus: E. Käsemann, „Begründet der neutestamentliche Kanon die Einheit der Kirche?“, in: Exegetische Versuche und Besinnungen I, 1960, 223. 

  4. Dies kann man durchaus wörtlich verstehen: Nicht ohne weitere Instanzen, Autoritäten, Lehrentscheidungen etc. 

  5. Gemeint ist damit: „sola gratia“ – allein aus Gnade, „sola fide“ – allein aus Glauben, „solus Christus“ – allein Jesus Christus und eben „sola scriptura“ – allein die Schrift. 

  6. Augustinus schreibt: „Deshalb wird der Mensch, der sich auf Glauben und Hoffnung und Liebe stützt und an diesen unerschütterlich festhält, nicht der Hl. Schriften bedürfen, es sei denn, um andere zu unterweisen. Daher leben auch viele, gestützt auf diese drei, in der Einsamkeit ohne Schriftrollen. Von daher glaube ich, daß bei jenen schon erfüllt ist, was gesagt worden ist: ‚Die Weissagungen werden vergehen, Sprachen werden weichen, Wissen wird vergehen‘ [IKor 13,8]“ (DdC, I, XXXIX.43.93). 

  7. Ich betrachte hier nur Bergers Ausführungen zur Homosexualität ausführlich. Allerdings hinterlassen Bergers Interpretationen anderer neutestamentlicher Texte ebenfalls zwiespältige Eindrücke. Siehe z.B.: „Jesus rechnet schon schlichte Sympathie der Menschen als Zustimmung, die er gern aufnimmt. … Es geht also weniger um den großen Glauben, sondern darum, dass man nicht gegen Jesus ist, dass man mit ihm zusammen sein will, mit dem, der doch so merkwürdige, unbürgerliche Ansichten hat.“ (Berger 2002b); „Das eigentlich Schlimme aus christlicher Sicht ist nicht der biologische Tod, sondern der Tod vor dem Tode, nämlich Verzweiflung, Einsamkeit, die Sinnlosigkeit und ihre Folgen, sich selbst nicht finden können und auf eine heillose Weise umherirren zu müssen. Das ist der eigentliche Tod.“ (Berger 2002b);

    „Hölle ist ein Stück Wahrheit, sie bezieht sich auf das, was wir uns schon gegenseitig machen. … Die christlichen Aussagen über die Hölle sind eine einzige Anfrage in dem Sinne: ‚Wollt ihr, dass das immer so bleibt? Wenn ihr das nicht wollt, dann ergreift die frohe Botschaft, die euch ja geschenkt wird‘.“ (Berger 2002b). 

  8. M.E. eine recht kleinbürgerliche Vorstellung. Wäre sie berechtigt, müßten wir folgende Maxime formulieren: „Handle stets so, daß niemand durch dich irritiert oder verärgert wird!“. Es entspricht zweifelsohne der neutestamentlichen Botschaft, nicht unnötig Ärgernis zu erregen (vgl. Röm 14,3; 1Kor 8,13). Aber das bedeutet nicht, daß man aufgrund möglichen Anstoßes Gebote Gottes übertreten sollte. Das Gegenteil ist der Fall. Paulus hat seinen Mitchristen unzweideutig vermittelt, daß Nachfolge Jesu Ärgernis auslösen kann (vgl. 1Kor 1,23 u. Gal 5,11 siehe ebenso 1Petr 2,11-17). 

  9. Vgl. dazu Thomas Schirrmacher, „Die Väter der Situationsethik“, Bibel und Gemeinde 3/2004, Berlin: Bibelbund, 11-22. 

  10. Es ist heute auch in Bekenntniskreisen populär geworden, das „sola scriptura“ gegen das „solus Christus“ auszuspielen. Die Schrift sei Christus untertan, nicht Christus der Schrift. Die Formel „sola scriptura“ ist „nicht genuin reformatorisch, sie verdankt sich der lutherischen Orthodoxie“, schreibt beispielsweise Friedemann Fritsch (Fritsch 2004). Demgegenüber läßt sich jedoch anhand reformatorischer Texte leicht nachweisen, daß sich für die Reformatoren „sola scriptura“ und „solus Christus“ nicht nur ergänzen, sondern einander bedingen. Um deutlich zu machen, daß das „sola scriptura“ ein zentrales Thema der Reformation war, untermauere ich die Argumentation im Folgenden durch lutherische und reformierte Texte aus der Reformationszeit. 

  11. So sagt z.B. die Confessio helvetica prior : „Die heilige, gütliche, Byblische gschrifft, die da ist das wort gottes, von dem heilgen geist ingebenn, und durch die propheten und apostlen der wellt fürgetragen, ist die aller eltiste volkomniste, und höchste leer, begrifft allein alles das, das zu warer Erkantnus, liebe und Ere gottes, zu rechter warer fromkeyt und anrichtung eines frommen, Erbaren, und gottseligen lebens dienet“ (Müller: 101,9- 14).  

  12. Den Hinweis auf diese Schrift (in diesem Zusammenhang) verdanke ich dem Buch Is There a Meaning in This Text? von Kevin J. Vanhoozer, 15-16. Dieses umfangreiche Werk (486 S.) ist eine ausgezeichnete Apologetik literarisch-historischer Hermeneutik angesichts sprachphilosphischer und postmoderner Infragestellungen. 

  13. Das von dem Apostel Paulus in 1Kor 13,12 entworfene Bild vom Spiegel signalisiert zwar, daß – im Gegensatz zu den Erwartungen der Gnosis – diesseitige menschliche Erkenntnis fragmentarisch bleibt, aber dieses Bild relativiert nicht die grundsätzliche Verstehbarkeit der uns überlieferten Texte. Der Apostel selbst fordert ein, daß die von ihm geschriebenen Anweisungen „Gebote des Herrn“ sind und ihre Mißachtung verhängnisvolle Konsequenzen haben wird (vgl. 1Kor 14,37-38).  

  14. Gute Ausleger wissen, daß die Schrift nicht über alles in der gleichen Klarheit lehrt und unterscheiden deshalb zwischen fundamentalen und nichtfundamentalen Lehren, wobei alle Fragen im Zusammenhang des errettenden Glaubens zu den ersteren gehören. Daneben hat ein guter Theologe auch das Schweigen zu lernen.

    „Er soll reden, wo und soweit Gottes Wort redet, aber auch schweigen, wo Gottes Wort schweigt, das ist, keinen Aufschluss gibt (Jer 23,16; 1Tim 6,3ff.)“ (Pieper: 38).

    Das „sola scriptura“-Prinzip verteidigt ja die Schrift als letzte Autorität, gerade nicht unsere Schrifterkenntnis. Wir können die Schrift verstehen, auch wenn wir sie nicht vollständig verstehen. Ein für Theologen sehr herausforderndes und beflügelndes Bekenntnis, denn es impliziert, daß wir jederzeit, also auch noch heute, Fortschritte beim ‚Herausarbeiten‘ des Schriftsinns machen können. 

  15. Daß für Augustinus das „Erarbeiten“ dunkler Stellen eine durchaus spannende Angelegenheit war, kann man diesem – mit köstlichem Humor gewürzten – Zitat entnehmen: „Dann aber, wenn eine gewisse Vertrautheit mit der Ausdrucksweise der Hl. Schrift erreicht ist, muß man zur Öffnung und Entfaltung der dunklen Bibelstellen fortschreiten. Dabei sollte so vorgegangen werden, daß, um die dunkleren Stellen zu erhellen, von offensichtlicheren Stellen Beispiele genommen werden, die als gewisse Zeugnisse sicherer Aussagen die Zweifelhaftigkeit der ungewissen Passagen beseitigen. Dabei vermag das Gedächtnis eine sehr große Hilfe zu sein; wenn man kein gutes Gedächtnis hat, kann dies nicht durch meine Vorschriften verliehen werden“ (DdC II,IX.14.31). 

  16. „Niemand soll es wagen, in Sachen des Glaubens und der Sitten, die zum Aufbau christlicher Lehre gehören, die Heilige Schrift im Vertrauen auf eigene Klugheit nach seinem eigenen Sinn zu drehen, gegen den Sinn, den die heilige Mutter die Kirche hielt und hält – ihr steht das Urteil über den wahren Sinn und die Erklärung der heiligen Schriften zu“ (DS 1507-Nr. 93, zitiert nach Rohls 1987: 46-47). 

  17. Die Spiritualisten, auch „radikale Reformer“, „linker Flügel der Reformation“, „Schwärmer“ oder „Geistler“ genannt, stellten neben das äußerliche Zeugnis der Schrift noch ein über dieses hinausgehendes und von ihr gelöstes inneres Geistzeugnis. Karlstadt, der eigentlich Andreas Bodenstein hieß und zunächst mit Luther gegen Eck kämpfte, forderte beispielsweise Karlstadt (zitiert nach Haas 1997: 23): „Meyner person halben dorfftet ich des eüsserlichen zeugnüß nicht nits. Ich wil meyn zeugnüß vom geyst / in meyner inwendigkeyt haben / das Christus verheyssen hat“.