Mit dem Erscheinen des umstrittenen Buches des amerikanischen Politologen Daniel J. Goldhagen, Die katholische Kirche und der Holocaust (2002), kam die alte Frage nach dem Einfluss des Neuen Testamentes auf antisemitische1 bzw. antijudaistische Strömungen bis hin zum Holocaust wieder neu in die öffentliche Diskussion. Goldhagen attackiert in seinem Werk nicht nur die katholische Kirche, sondern auch das NT, das er als eine der Wurzeln des Holocaust versteht. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich also mit einem hochaktuellen Thema.
In der theologischen Forschung erschien nach dem Zweiten Weltkrieg (und vermehrt seit den 60er Jahren) eine kaum noch übersehbare Flut von Veröffentlichungen, die sich mit diesem Thema befassten.2 Das Johannesevangelium (JoEv) spielte dabei insofern eine besondere Rolle, als dort die Gegner Jesu oft pauschal als „die Juden“ angesprochen werden und die Spitzenaussage von Joh 8,44 „Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel“ eine besonders harte Auseinandersetzung erkennen lässt.3) Darauf Bezug nehmend erklärte z.B. R.Bultmann, dass für den Autor des JoEv die Distanz zum Judentum so groß sei, „dass in seiner Darstellung Jesus schon gar nicht mehr als Angehöriger des jüdischen Volkes… erscheint“ (1951: 357). A.Feuillet sah – wie viele andere – im ganzen JoEv „eine unübersehbare Polemik gegen das Judentum.“ (1964:609) und der Jude J.Isaac ging davon aus, dass das vierte Evangelium einzig deshalb geschrieben worden sei, um die ganze Verantwortung für die Kreuzigung Jesu auf die Juden abzuwälzen.4
Die vorliegende Untersuchung kommt demgegenüber zu der These, dass der Vorwurf des gezielten Antijudaismus unhaltbar, aber ein antisemitischer Missbrauch des JoEv möglich ist.
1 Eine antijudaistisch-polemische Schrift?
1.1 Der häufige Gebrauch des Begriffes „die Juden“
Im JoEv fällt gegenüber den Synoptikern auf, dass die Bezeichnung „die Juden“ sehr häufig und pauschal eingesetzt wird. Der Begriff begegnet uns im JoEv neunundsechzig mal, dagegen bei den Synoptikern insgesamt nur sechzehn mal (5mal bei Mt, 6mal bei Mk, 5mal bei Lk). An einigen Stellen im JoEv dient das Wort als Sammelbezeichnung der jüdischen Führungsschicht (1,19; 21,8 etc.), teilweise bezeichnet der Begriff aber auch das jüdische Volk in seiner Gesamtheit (2,6; 6,4 etc.).5 Doch besonders im Passionsbericht (Joh 18ff.) liegt auf der Formulierung „die Juden“ ein negativer Akzent. Sie bilden klar die Opposition gegen Jesus und fordern von Pilatus regelrecht die Kreuzigung heraus. Nach A.Feuillet erhält das Wort „Jude“ „einen abschätzigen Klang und wird fast gleichbedeutend mit ‚Ungläubiger‘.“ (1964:609).
Sicher ist die Annahme, dass es dem Verfasser an historischer Kenntnis fehle, eine schlechte Erklärung für die Verwendung des Pauschalbegriffs. Dagegen spricht vor allem die Tatsache, dass der Evangelist an manchen Stellen durchaus zwischen verschiedenen Gruppierungen im zeitgenössischen Judentum zu differenzieren weiß (1,19: Priester und Leviten; 7,26.48; 12,42: die Obersten; 9,13ff: die Pharisäer) und sich auch sonst durch gute Detailkenntnis auszeichnet (1,28; 2,6; 7,37f etc.).
1.2 Zeitgeschichtliche Begründung einer antijudaistischen Tendenz des JoEv
Gewichtiger ist die These derer, die das JoEv als eine Schrift mit antijüdisch-polemischen Charakter betrachten. Stellvertretend für eine Anzahl von Forschern sei hier H.W. Attridge zitiert, der zusammenfassend erklärt, dass „der Text eine deutlich feindliche Haltung gegenüber ‚den Juden‘ erkennen“ lässt, „die sich Jesus widersetzen, ihn verfolgen und schließlich für seinen Tod verantwortlich sind. Die Polemik erreicht in 8,44 ihren Höhepunkt mit der Jesus in den Mund gelegten Schmähung, dass die Juden Kinder des Teufels, eines Mörders von Anfang an, seien. Diese Schmähung findet einen dramatischen Ausdruck in der Passionserzählung, die nicht Pilatus für die Hinrichtung Jesu verantwortlich macht, sondern die Führung der Jerusalemer Autoritäten, die Jesu Ansprüche als gotteslästerlich zurückweisen (19,7).“ (:556f).
Antijüdische Polemik als Antwort auf die Ablehnung durch die jüdische Umgebung?
Wer dieses Erklärungsmodell vertritt, sucht die Gründe für eine antijüdische Tendenz des JoEv in der Situation der Adressaten (der sog. „Johanneischen Schule“)6 zur Zeit der Abfassung dieses Evangeliums und erklärt die antijüdische Polemik als Antwort auf die Ablehnung durch ihre jüdische Umgebung (vgl. Attridge 2001:557). Dabei wird vor allem der Einfluss des pharisäischen Rabbinats gesehen, das die Christusjünger nach den Wirren des Jüdischen Krieges verfolgte (vgl. Schnackenburg: 147). Die überwiegende Mehrheit der Ausleger sieht diese Sicht durch den Verweis auf die Erwähnung des Synagogenausschlusses (9,22; 12, 42 etc.) bestätigt (vgl. Gräßer: 148).
Während es solche Ausschlüsse zur Zeit Jesu kaum gegeben habe, könne – so R.Schnackenburg (:147) – aus der Einfügung der „Verfluchung der Ketzer“ (hebr. birkhat ha-minim; um 90 n.Chr.) in das Achtzehnbittengebet geschlussfolgert werden, dass Synagogenausschlüsse von Judenchristen nach 70 n.Chr. zur gängigen Praxis wurden.7 Als Fazit aus dieser Sicht entsteht also das Postulat eines „zeitgeschichtlich begründeten Antijudaismus“.
1.3 Erklärung einer antijudaistischen Absicht aus dem Zweck und Aufbau des JoEv
Die Frage nach einer antijüdischen Tendenz des JoEv ist gleichzeitig eine Frage nach der Absicht dieses Evangeliums.
Der Sinn des JoEv sei es, gegenüber dem widerstrebenden Judentum „den Absolutheitsanspruch des Christentums zu fixieren“.
Viele Forscher folgten W.Wrede, der das vierte Evangelium als „eine aus dem Kampf geborene und für den Kampf geschriebene Schrift“8 ansah (ähnlich W.Heithmüller, H. Windisch, L.Goppelt, R.M.Grant), oder maßender antijüdischen Polemik zumindest eine „Nebenfunktion“ im JoEv bei (A.Wikenhauser, R.Schnackenburg).
Erich Gräßer bemerkt in seinem Aufsatz „Die antijüdische Polemik im Johannesevangelium“, dass die Auseinandersetzung Jesu mit den Juden „sich als roter Faden durch das ganze Evangelium“ ziehe (1985:137). Er führt alle Konfrontationen mit „den Juden“ auf den Aufbau des Joh, auf „die eigentliche johanneische Antithese“ zurück (:140): jüdische Religion kontra christliche Religion (W.Wrede), bzw. Gesetz kontra Evangelium, Mose kontra Christus (vgl.:141). Diese Antithesen prallen – nach E.Gräßer – in Joh 8,12ff regelrecht aufeinander. Deshalb sieht er hier den „Schlüssel zum Verständnis der ganzen Auseinandersetzung“ (:147), die für ihn eine unwirkliche Konfrontation darstellt. „Die Juden“ seien lediglich „stilisierte Typen“, „ideelle Vertreter des Judentums, das aufgrund des Gesetzes Jesus ablehnt.“ (:145). Der Sinn des JoEv sei es, gegenüber dem widerstrebenden Judentum „den Absolutheitsanspruch des Christentums zu fixieren.“ (:153)
Während die meisten Forscher die Frage nach dem Antijudaismus des JoEv vom Vorkommen des Begriffes „die Juden“ her zu beantworten versuchen, bemüht sich E.Gräßer um die Einbettung der Fragestellung in eine theologische Gesamtaussage des 4. Evangeliums. Seine Beobachtung, dass häufige Konfrontationen mit „den Juden“ ein Merkmal des JoEv darstellen, kann zwar nicht bestritten werden, doch es ist zu fragen, ob die Feststellung des „Absolutheitsanspruches des Christentums“ gegenüber dem Judentum als Zweck dieses Evangeliums betrachtet werden kann. Aufgrund der Antithesen, die Gräßer im gesamten JoEv sieht, spricht er diesem Evangelium eine missionarische Zielrichtung ab:
„Missionarischen Zweck hat nun das vierte Evangelium ganz und gar nicht. Die scharfe Polemik steht dem stracks entgegen.“ (Gräßer 1985: 150).
Damit begibt er sich allerdings in Widerspruch zur Selbstaussage des Evangelisten: Nach Joh 20,31 liegt die Absicht des vierten Evangeliums darin, zum Glauben an den Messias Jesus zu führen. Deshalb scheint es mir angemessener, mit G.Maier (1989:14) und anderen davon auszugehen, dass das JoEv eine Missionsschrift darstellt, die sich in erster Linie an Diasporajuden richtet.
2 Argumente, die den Vorwurf des Antijudaismus entkräften
2.1 Die Bedeutung des Begriffes „die Juden“
Der Evangelist führt den Begriff „die Juden“ in 1,19 ein. Die geografische Angabe macht dabei deutlich, was gemeint ist: Es geht um „die Juden in Jerusalem“, genauer: um die Zentralbehörde des Judentums (den Sanhedrin), die über die Autorität verfügte, „Priester und Leviten“ als Boten zu Johannes dem Täufer zu senden. Damit erfährt der Begriff bereits am Anfang des Evangeliums „eine enorme Limitation“ (Mussner 1988:283), die eine Identifikation „der Juden“ mit dem gesamten Volk von vornherein verbietet. Denn der unvoreingenommene Leser betrachtet alle weiteren Erwähnungen dieses Begriffes im Lichte des ersten Vorkommens. Bereits in Kap. 2 wird es ihm leicht gemacht, zwischen „den Juden“ als völkische Gesamtheit (V.13) und einer bestimmten Jerusalemer Gruppe, die Verantwortung für den Tempel hatte (V.18ff), zu differenzieren.
„Die Juden“ meint nicht die gesamte jüdische Nation, sondern meist die Repräsentanten des Volkes.
In anderen Kontexten ist die semantische Bedeutung des Begriffes nicht klar oder unterschiedlich (Kap. 5; 7; 8). In 9,18 sind „die Juden“ eindeutig den Pharisäern zuzuordnen (vgl. 9,13ff). Kap. 10 lässt auf scharfe Gegner Jesu schließen.
Aufschlussreich ist auch die Untersuchung des Passionsberichts. Neben manchen Stellen, die Fragen aufwerfen, ist doch offensichtlich, dass „die Juden“, deren Knechte Jesus festnehmen (18,12), als „Hohepriester und Pharisäer“ (18,3) identifiziert werden müssen. Ebenso ist im Prozess vor Pilatus nicht pauschal an das jüdische Volk zu denken, das die Kreuzigung fordert (19,15f), sondern an „die Hohenpriester und die Diener“ (19,6). Wenn Pilatus in 18,35 zum Ausdruck bringt, „deine Nation und die Hohenpriester haben dich mir überliefert“, so ist auch hier nicht die gesamte jüdische Nation gemeint, sondern die Repräsentanten des Volkes: der Sanhedrin (vgl. Schnackenburg 1992:283). An die gleiche Gruppe haben wir auch in 19,21.31 zu denken. Und selbstverständlich fürchten sich der Jude Joseph von Arimathäa (19,38) oder die jüdischen Jünger (20,19) nicht vor dem jüdischen Volk an sich, sondern vor dessen politisch-religiöser Führung.
U.Schnelle arbeitet heraus, dass sich in den Kap. 1-4 der Begriff „die Juden“ lediglich 9 mal von insgesamt 69 Stellen findet. Als Fazit dieses Befundes schlussfolgert er, dass die Konzentration auf Kap. 5-11 und auf den Passionsbericht deutlich zeigt, dass die Verwendung von „Jude/Juden“ im Johannesevangelium als „dramaturgisches Element“ verstanden werden will. „Während der Evangelist mit Kap. 1-4 in die Erzählwelt einführt und die wesentlichen Handlungsträger vorstellt, eskaliert der Konflikt mit den Ioudaioi in Kap. 5-11, um dann im Todesbeschluss (Joh 11,45-53) seinen Höhepunkt und in der Passionsgeschichte sein Ziel zu erreichen.“ (Schnelle 1998:165).
Die inhaltliche Untersuchung des Wortes „die Juden“ führt uns also zu dem Ergebnis, dass der Evangelist den Begriff nicht einheitlich, zumeist aber – und vor allem dort, wo ein negativer Akzent auf „die Juden“ liegt – für die jüdische Führungsgruppe verwendet. In nur etwa einem Drittel der Belege weist der Begriff eine „negative Konnotation“ auf (Schnelle 1998:164). Die Behauptung, dass im JoEv das jüdische Volk für den Prozess Jesu und seine Kreuzigung verantwortlich gemacht wird, lässt sich demnach nicht halten.
Im Johannes-Evangelium wird nicht das jüdische Volk für den Prozess und die Kreuzigung des Herrn verantwortlich gemacht.
Eine Parallele für einen eingegrenzten Gebrauch des Begriffes finden wir bei Josephus,9 der häufig solche als „die Juden“ bezeichnet, die gegen Rom kämpfen (vgl. Weatherly 1992:14). Und sicher wäre es falsch, Josephus, dessen Biografie und dessen Werke eine tiefe Verwurzelung im Judentum beweisen, als Gegner des jüdischen Volkes zu verstehen. Gleiches gilt auch für den Verfasser des JoEv und sein Werk.
Die Damaskusschrift aus Qumran zeigt noch eine weitere Parallele: Auch dort wird der Pauschalbegriff „Jude“ (oder auch „Land Juda“, „Haus Juda“) zur Bezeichnung der Gegner der Qumranessener gebraucht. Und auch hier meint die Polemik gegen „Juda“ nur einen Teil des jüdischen Volkes.
2.2 Zu der harten Aussage von Joh 8,44
H.W.Attridge wies in seinem Artikel zurecht auf die besondere Bedeutung dieses Verses für die Antisemitismusfrage hin. Dass hier ein „Höhepunkt der Polemik“ (Attridge: 557) vorliegt, ist offensichtlich. Doch wie ist die Aussage im Blick auf „die Juden“ zu bewerten?
Ein Blick auf den Kontext macht zunächst deutlich, dass die Aussage „Ihr seid aus dem Vater, dem Teufel, und die Begierden eures Vaters wollt ihr tun. Jener war ein Menschenmörder von Anfang an…“ als Teil einer außerordentlich hart geführten innerjüdischen Auseinandersetzung Jesu mit seinen Gegnern verstanden werden will, die ihn nach 8,37.40 zu töten versuchen. Jesus erklärt mit kaum zu überbietender Härte, dass diejenigen, die ihn umbringen wollen, Satans Kinder sind. Doch die Argumente seiner Gegner lassen ebenfalls nichts an Deutlichkeit und Polemik vermissen: Jesus wird zum Besessenen erklärt (8,52) und schließlich folgen Steine als „Argumente“ (8,59).
Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass dem Joh nicht an einer Pauschalverurteilung oder gar „Verteufelung“ der Juden gelegen ist: Wenige Verse zuvor (8,31) ist noch von „den Juden“ die Rede, „die ihm geglaubt hatten“. Auf diese bezieht sich die harte Verurteilung Jesu keinesfalls.
Parallelen einer so hart geführten theologischen Auseinandersetzung finden wir in den Qumranschriften, wo z.B. in 4Qflor 1,8 von den „Söhnen Belials“ die Rede ist, womit die Essener ihre Gegner betiteln (vgl. Mussner 1988:289f).
In der Gemeinderegel der Qumranessener heißt es:
„Die Leviten sollen verfluchen alle Männer des Loses Belials, sie sollen anheben und sprechen: Verflucht seist du in allen gottlosen Werken deiner Schuld! … Verflucht seist du ohne Erbarmen entsprechend der Finsternis deiner Taten, und verdammt seist du in Finsternis ewigen Feuers. Gott sei dir nicht gnädig, wenn du ihn anrufst, und vergebe nicht, deine Sünden zu sühnen…“ (1QSII, 5-6)10
Solche Belege beweisen die Existenz einer „innerjüdischen Streitkultur“ (Thiede/Stingelin 2002: 104) , bei der es verfehlt wäre, sie als „Antijudaismus“ zu verstehen: Es handelt sich um Juden im verbalen Kampf mit anderen Juden.
In diesem Sinn erklären sich auch die harten Aussagen des Juden Paulus gegen „die Juden“ in 1Thess 2,13-16 oder die Gerichtsandrohung gegen Irrlehrer in 2Petr 2,1ff.
2.3 Zur Rolle „der Juden“ im Prozess Jesu
Gerade Johannes schildert auch das Versagen des Präfekten Pilatus ausführlich.
Wir hatten oben bereits gesehen, dass der Begriff „die Juden“ im Prozess Jesu vornehmlich die jüdische Führungsschicht in Gestalt der Hohenpriester, des Sanhedrin sowie der Pharisäer im Blick hat. Darüber hinaus muss aber gefragt werden, ob die Einschätzung, die wir bei H.W. Attridge und anderen finden, dass das JoEv „nicht Pilatus für die Hinrichtung Jesu verantwortlich“ mache, „sondern die Führung der Jerusalemer Autoritäten“ (2001: 557), zutreffend ist.
Es kann nicht bezweifelt werden, dass der genannte jüdische Personenkreis wesentlich an der Hinrichtung Jesu beteiligt war, doch gerade im JoEv, das den Prozess (18,28-19, 16) so ausführlich schildert, wird auch das Versagen des römischen Präfekten Pilatus klar aufgezeigt. Er erscheint als ein kaltschnäuziger Politiker, der bei jedem „Schachzug“ erkennen lässt, dass es ihm keineswegs um das Recht des Angeklagten geht, sondern lediglich um die eigene politische Karriere (vgl. Riesner 199: 1212ff).11 Nur so ist seine „Furcht“ (19,8) erklärbar. Weil die jüdischen Ankläger das wissen, gelingt es ihnen, Pilatus unter Druck zu setzen (19,7f.12). Obwohl er von der Unschuld Jesu überzeugt ist (19,6) und die Entscheidungsgewalt hat (19, 10), lässt er ihn kreuzigen. Wenn auch diejenigen, die Jesus überlieferten, die „größere Sünde“ tragen (19,11), so ist doch festzuhalten: Es war ein Römer, der Jesus verurteilte.
Damit wird die Schuld derjenigen Juden, die Jesus am Kreuz sehen wollten, nicht relativiert. Aber sie allein des „Gottesmordes“ zu bezichtigen, entspricht nicht der Intention des Johannesevangeliums und bedeutet eine Vergewaltigung des Textes.
2.4 Positive Aussagen über Juden und Israel
Wer dem JoEv eine antijudaistische Tendenz vorwirft, übersieht wesentliche Inhalte dieses Evangeliums.
Wer dem JoEv eine antijudaistische Tendenz vorwirft, übersieht wesentliche Inhalte dieses Evangeliums:
- Wenn die Gegner Jesu vorwiegend Juden waren, so gilt das gleiche auch von Jesus selbst12 und von seinen Anhängern. Jesus ist der „König der Juden“ (19,3.21) und alle seine Jünger gehörten dem jüdischen Volk an. Wir finden in 3,1 und 11,37 Juden, die für Jesus offen waren, und in 9,38 (Blindgeborener) begegnen wir einem Juden, der sich explizit zu ihm bekannte.
- Wenn wir oben festgestellt hatten, dass vor allem die jüdische Führung im JoEv in ein negatives Licht gestellt wird, so ist gleichzeitig zu bedenken, dass nur das JoEv von dem Ratsmitglied Nikodemus berichtet. Der Evangelist widmet einen längeren Abschnitt (3,1ff) dem fairen theologischen Gespräch mit diesem Pharisäer, würdigt seine Rolle als Fürsprecher Jesu (7,50) und erwähnt ausdrücklich, dass Nikodemus für die Spezereien zur Bestattung Jesu aufkam (19,39).
- Wenn wir neben dem Begriff „die Juden“ auch „Israel“ als Bezeichnungen für das jüdische Volk in Betracht ziehen, können wir mit D.Moody Smith konstatieren: „Obwohl ‚Juden‘ (Ioudaioi), wenn auch nicht überall, im vierten Evangelium ein charakteristischer Ausdruck der Schande ist, so erscheint ‚Israel‘ and ‚Israelit‘ einheitlich in positivem Sinn. Nathanael, der Jesu Jünger wurde, ist ‚wahrhaftig ein Israelit‘ (1:47) und die Mission von Johannes dem Täufer ist es, Jesus als Messias für Israel zu offenbaren (1:31). Jesus selbst ist der König Israels (1:49; 12:13).“ (1995:172)13
- Den Höhepunkt der positiven Aussagen über das Volk der Juden finden wir eindeutig in Joh 4,22: „das Heil ist aus den Juden“. Ein solcher Satz hätte in einer gezielt antijudaistisch-polemischen Schrift sicher keinen Platz.
3 Fazit
Das Postulat eines gezielt antisemitischen bzw. antijudaistischen Johannesevangeliums kann aufgrund der oben dargestellten Sachlage nicht gehalten werden. Mehr noch: Wer dem JoEv Judenfeindschaft, Antijudaismus oder Antisemitismus vorwirft, geht historisch gesehen anachronistisch vor (vgl. Schaller 1998:558), weil er eine moderne Fragestellung in den Text hineinträgt. Der moderne Antisemitismus ist rassistisch gefärbt, aber eine rassistische Fragestellung ist im JoEv nicht erkennbar. Es geht nur um eine religiöse Fragestellung, um die Entscheidung für oder gegen den Messias Jesus, an dem sich „die Geister scheiden“.
Wer dem JoEv Judenfeindschaft, Antijudaismus oder Antisemitismus vorwirft, trägt eine moderne rassistische Fragestellung erst in den Text hinein.
Jedoch müssen wir auch festhalten, dass ein antijüdischer Missbrauch des JoEv (wie auch anderer biblischer Texte!) ohne große Mühe möglich ist. Auch können wir nicht leugnen, dass das JoEv als „Sprungbrett“ zur Rechtfertigung eines „christlichen Antisemitismus“ missbraucht wurde.14
Eine nähere Untersuchung des JoEv ergab etliche stichhaltige Argumente, die gegen einen gezielten, polemischen Antijudaismus sprechen. Diejenigen Stellen, die Teile des Judentums hart verurteilen, sind vor dem Hintergrund einer scharf geführten Auseinandersetzungen zwischen Jesus und seinen Jüngern einerseits und einem Großteil der jüdischen Führung andererseits zu verstehen15, die bis zum Synagogenausschluss führte.
4 Literaturangabe
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- DAN, J. 1998. „Antisemitismus / Antijudaismus, Definitionen und Probleme.“ in: RGG 4.Aufl. Bd. 1. Sp. 556-557. Tübingen: Mohr Siebeck
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- FEUILLET, A. 1964. Einleitung in die Heiulge Schrift. Bd. II Neues Testament. Hrsg. A.Robert, A.Feuillet. Wien, Freiburg, Basel: Herder
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- MAIER, G. 1989. Johannes-Evangeulum. 1.Teil. Neuhausen-Stuttgart: Hänssler
- MAIER, J. 1982. Jüdische Auseinandersetzung mit dem Christentum in der Antike. Darmstaul: Wissenschaftulche Buchgesellschaft
- MUSSNER, F. (2) 1988. Traktat über die Juden. München: Kösel
- RIESNER, R. (2) 1990. „Pilatus“ in: Das große Bibellexikon. Bd. 3. Wuppertal, Gießen: Brockhaus und Brunnen
- SCHALLER, B. 1998. „Antisemitismus / Antijudaismus, Neues Testament (Ur- und Frühchristentum)“ in: RGG 4.Aufl. Bd. 1. Sp. 558-559. Tübingen: Mohr Siebeck
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- SCHNELLE, U. 1998. Das Evangeulum nach Johannes. ThHKNT. Leipzig: Evangeulsche Verlagsanstalt
- SCHNELLE, U. 2002. Einleitung in das Neue Testament. Stuttgart: UTB
- SMITH, D.M. 1995. The Theology of the Gospel of John. New Testament Theology. Cambridge: CUP
- STUHLMACHER, P. 1999. Bibulsche Theologie des Neuen Testaments. Band 2. Von der Paulusschule zur Johannesoffenbarung. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht
- THIEDE, C.P. / STINGEulN, U. 2002. Die Wurzeln des Antisemitismus: Judenfeindschaft in der Antike, im frühen Christentum und im Koran. Basel: Brunnen
- WEATHERLY, J.A. 1992. „ANTI-SEMITISM“. in: Dictionary of Jesus and the Gospels. S.13ff. Editors: J.B. Green, S.McKnight, I.H.Marshall. Leicester, Ilulnois: IVP
Der Begriff „Antisemitismus“ wird von unterschiedlichen Autoren unterschiedlich genutzt. Wir beziehen ihn hier im „heute gebräuchlichen, weiteren Sinn… auf den Judenhaß“ (Dan 1998:556) und verwenden die Definition nach Weatherly: „Der Begriff Antisemitismus bezieht sich auf Voreingenommenheit, Feindseligkeit und Hass gegen jüdische Menschen.“ (1992:13 Übersetzung durch den Verfasser.). Demgemäß werden die Bezeichnungen „antisemitisch“ und „antijudaistisch“ als Synonyme betrachtet. ↩
Vgl. die Bibliografien bei Schaller (1998:559) und de Kruijf (1978:127f). ↩
Dieser Text wurde im Lauf der Geschichte immer wieder als Begründung der „Verteufelung“ von Juden herangezogen (vgl. Thiede/Stingelin 2002:103 ↩
Isaac, Jules. 1956. Genèse de l´Antisémitisme. Paris. (vgl. Gräßer 1985:135). ↩
Mehr zu Benutzung des Wortes „die Juden“ unter Punkt 4.1. ↩
Mehr zur sog. „Johanneischen Schule“ bei Schnelle 2002:495ff und Stuhlmacher 1999:203ff. ↩
Dieses Erklärungsmuster ist also zwangsläufig an eine (relativ späte) Datierung des JoEv am Ende des 1.Jh. n.Chr. geknüpft und betrachtet die Erwähnungen des Synagogenausschlusses im JoEv als anachronistisch eingefügte Widerspiegelung der Auseinandersetzung zwischen Synagoge und Gemeinde. ↩
Wrede, W. 1903. „Charakter und Tendenz des Johannesevangeliums“ S.G.V. XXXVII. S.40. zit. bei Gräßer 1985:149. ↩
Vgl. Josephus, Jüd.Krieg 2,466; 5,109f etc. ↩
Übersetzt von Eduard Lohse. Lohse, E. 1981. Die Texte aus Qumran. Hebräisch und Deutsch. Darmstadt. zit. bei Thiede/Stingelin: 95. Weitere Beispiele einer überaus hart geführten Polemik gegen Angehörige des eigenen Volkes bieten die Habakuk-Pescher (1QpHab XI,2-XII,4) und andere Stellen in den Qumranschriften. ↩
Dies wird deutlich sichtbar, als Pilatus „den Fall Jesus“ loswerden will (19,6). ↩
Auffallend ist, dass in Joh 4,9 ausdrücklich auf die jüdische Identität Jesu verwiesen wird. Deshalb ist R.Bultmann zu widersprechen, der im Blick auf 8,17 und 10,34 („euer Gesetz“) eine Distanz zum Judentum in der Darstellung Jesu durch den Evangelisten sieht (siehe Punkt 1). ↩
Übersetzung durch den Verfasser. ↩
Hier zeigt sich übrigens, welche üblen Folgen ein unkritisches Hineintragen moderner Fragen in den Text der Bibel haben kann. Gleichzeitig wird damit die wichtige Aufgabe der Bibelwissenschaft deutlich, die – um die ursprüngliche Intention der Texte ringend – auf die Unrechtmäßigkeit anachronistischer oder gar dem Text widersprechender – Anwendungen hinweist und sich ihnen als Anwalt der Bibeltexte in den Weg stellt. ↩
Insofern liegt hier eine Parallele zu synoptischen Texten wie Mt 23,1ff, Mk 12,38ff und Lk 20,45ff vor. ↩