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Ethik: Wann ist der Mensch ein Mensch?

In der Diskussion um die Nutzung embryonaler Stammzellen stellt sich die Frage, ab wann der Mensch ein Mensch ist? Wie weit darf im Umgang mit embryonalen Stammzellen gegangen werden und wann ist eine Grenze erreicht?

Eines der brennendsten wissenschaftsethischen Themen ist momentan die Forschungen an embryonalen Stammzellen. Hirnzellen aus dem Reagenzglas für Parkinson-Kranke, eine Leber aus der Petrischale für Gewohnheitstrinker – so werden die therapeutischen Möglichkeiten von embryonalen Stammzellen in manchen Medien beschrieben. Stammzellen gelten als eine Art Alleskönner – wenn sich denn die Hoffnungen auf die Forschung erfüllen.

Gesetze regeln Embryonenforschung

Ende Oktober 2002 äußerte Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) während eines öffentlichen Vortrags die Meinung, dass man einem Embryo vor seiner Einnistung in die weibliche Gebärmutter kein grundgesetzlich gesichertes Recht auf Menschenwürde zusprechen solle. Die Äußerungen werfen erneut die Frage auf, die seit jeher im Zentrum der Gentechnikdebatte steht: Ab wann ist ein Mensch ein Mensch?

Gegenwärtig ist der Schutz und der Umgang mit Embryonen insbesondere durch zwei Gesetze geregelt. Das Embryonenschutzgesetz gilt seit 1991. Als einen Embryo definiert es die „menschliche Eizelle vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung an“. Es kann also von einem Menschen gesprochen werden, sobald die Eizelle befruchtet ist. Ein solcher Embryo darf nicht für einen „nicht seiner Erhaltung dienenden Zweck“ abgegeben, erworben oder verwendet werden. Wer es doch tut, dem drohen Haftstrafen von bis zu fünf Jahren.

Nach jahrelanger Debatte trat Mitte 2002 das Stammzellengesetz in Kraft, mit dem das Embryonenschutzgesetz ergänzt wird. In einem engen Rahmen sollte mit diesem Gesetz Forschern erlaubt werden, mit embryonalen Stammzellen zu experimentieren. Die Einfuhr embryonaler Stammzellen nach Deutschland ist seitdem erlaubt – aus Israel, Australien oder den USA, wo liberalere Gesetze gelten. Die Zellen müssen allerdings vor dem 1. Januar 2002 existiert haben. Sie müssen ferner aus einem Embryo gewonnen sein, der für eine Schwangerschaft gezeugt, aber nicht für diesen Zweck verwendet wurde. Der Embryo darf also nicht von vornherein zu Forschungszwecken erzeugt worden sein.1

Embryonen ohne Menschenwürde?

Schon damals ahnte beispielsweise der Sprecher der Evangelischen Kirche Präses Kock, dass es sich hierbei nur um eine vorläufige Zwischenlösung handeln würde:

„… das eigentliche Problem ist aber dieses, dass die Frage des Einstiegs in eine weitergehende Praxis, auch in eine Herstellung von Embryonen in unserem Land, die ja noch nach dem Embryonenschutzgesetz verboten ist, angestrebt wird von allen möglichen Forschern, die das jetzt sagen.“2

Ist die Menschenwürde eines Embryo daran gebunden, wo es sich gerade befindet?

Diese gesetzlichen Regelungen werden nun tatsächlich neu zur Disposition gestellt. Die Menschenwürde eines Embryo soll nach Auffassung der Bundesjustizministerin daran gebunden werden wo sich das menschliche Wesen befindet. Im Eileiter einer Frau, in der Gebärmutter oder in der Petrischale eines Wissenschaftlers handle es sich zwar um schützenswertes Leben jedoch ohne Anspruch auf die im Grundgesetz garantierte Würde menschlichen Lebens. Erst auf den in der Schleimhaut der Gebärmutter eingenisteten Embryo soll diese Würde anzuwenden sein. Medizinisch wie auch philosophisch ist diese Unterscheidung natürlich unsinnig. Frau Zypries konstruiert diesen Unterschied lediglich, um einen Freiraum zu schaffen, dem Embryo gesetzlichen Schutz zu entziehen, sodass er industriellen Forschungs- und Handelsinteressen ausgeliefert werden kann.

Bei der Nidation des Embryos findet nur eine Ortsverlagerung statt, an dem Wesen selbst, über dessen Würde entschieden wird, ändert sich dadurch nichts. Lediglich die Ernährungslage wird dadurch neu geregelt, wie das auch nach der Geburt, bei der Entwöhnung eines Säuglings oder der künstlichen Ernährung bei schwer Erkrankten der Fall ist. Menschenwürde darf allerdings genauso wenig vom Ort oder dem Entwicklungsstand des menschlichen Wesens abhängig gemacht werden, weil hier nur Umweltbedingungen bzw. Qualitäten verändert werden, aber keine prinzipiellen Unterschiede bei dem betreffenden Embryo erkennbar sind. Zur Rechtfertigung der vorgenommenen Degradierung des Embryos, wird gelegentlich auf die frühabtreibende Wirkung von Pille und Spirale als Mittel der Empfängnisverhütung und die straffreie Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche hingewiesen. Werner Gehring von der Fortpflanzungsklinik Bad Münder: „Der Embryo im Reagenzglas ist mehr geschützt als der Embryo im Bauch einer Schwangeren.“3 Doch statt die Tötung menschlichen Lebens noch weiter auszudehnen, sollte das medizinische Wissen eher zu einer neuen Sensibilisierung bezüglich des Einsatzes betreffender Verhütungsmethoden führen.

Bei der vorgeschlagenen Neuzuordnung der Menschenwürde spielen ebenso wie bei der Neuformulierung der Todesdefinition noch vorhandene wissenschaftliche Unklarheiten keine Rolle. In beiden Fällen geht es nicht um die ‘Sache’, den lebenden Menschen in seiner frühsten Form, sondern um sachfremde Interessen, einmal um die Ermöglichung der Organtransplantation, andererseits um die Erweiterung bisheriger Forschungsmöglichkeiten an embryonalen Stammzellen.

Der Bundesjustizministerin Zypries schlug denn auch schon herbe Kritik aus verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Lagern entgegen. Reinhard Loske, Gentechnikexperte der Grünen wies zu Recht darauf hin, dass die Überlegungen von Zypries, das Stammzellengesetz möglicherweise zu lockern, „weder verfassungs- noch forschungspolitisch notwendig“ seien. Volker Beck warf Zypries vor, ein „sonderbares Abwägungskonzept des menschenwürdelosen Lebens“ entworfen zu haben. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde sei ein verfassungsrechtliches Postulat und müsse bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnen.

Der Vorsitzende der Bundestags-Enquetekommission zur Bioethik, René Röspel (SPD), kritisierte die Auffassung der Ministerin, dass im Reagenzglas erzeugte Embryonen vor Einpflanzung in den Mutterleib nach dem Grundgesetz nicht zwingend die Menschenwürde zugebilligt werden müsse. Die bayerische Justizministerin Beate Merk (CSU) forderte, dass es beim Schutz der Menschenwürde keinen Spielraum für Abwägungen oder Relativierungen geben dürfe.

„Wenn wir anfangen, diesen Schutz ohne Not aufzuweichen, öffnen wir der Willkür Tür und Tor.“4

Bei der Stammzelltechnologie geht es neben moralischen Einwänden um viel Geld

Offensichtlich geht es vor allem um finanzielle Interessen, denn die Gentechnik-Unternehmen, die Rechte auf bisherige Stammzelllinien haben, wollen sich ihre Lieferungen teuer bezahlen lassen. „Bei der Stammzelltechnologie geht es neben moralischen Einwänden um viel Geld. Denn wenn deutsche Forscher Stammzellen importierten – was wiederum nach dem Embryonenschutzgesetz erlaubt, bisher aber noch nicht geschehen ist – könnte das teuer werden.“5 Darüber hinaus geht es um möglicherweise große Absatzmärkte der Zukunft.Bei diesen Technologien ist es zudem üblich, „dass die Forscher sich ihre Verfahrensweisen patentieren lassen – wer sie nutzt, muss Lizenzgebühren zahlen. Sollten die Stammzelltherapien zur klinischen Anwendung kommen, werden sie entsprechend teuer und vermutlich nur Privatpatienten zugänglich sein. Für die embryonalen Stammzellen bedeutet das außerdem, dass der Embryo so zur Ware in kapitalistischen Marktstrukturen wird.“6

Es ist völlig unbewiesen, ob mit Hilfe der tammzellenforschungüberhaupt Krankheiten geheilt werden können

Daneben wird gelegentlich auch auf die Frage nach dem Forschungs- und Wirtschaftsstandort Deutschland verwiesen. Es sei nicht wünschenswert, dass Forschungsmethoden, die im Ausland legal angewandt werden, in Deutschland verboten sind. Dadurch würden Forscher abwandern und mögliche Arbeitsplätze in der gentechnischen Forschung und Produktion gefährdet. Ethisch ist dieses Argument natürlich nicht haltbar, da der Verweis auf mögliche finanzielle Nachteile allein keinen ausreichenden Grund darstellt. Die dargelegte Argumentation hätte zur Folge, dass bald in jedem Bereich des öffentlichen Lebens stets die weitesten und freisten ethischen Richtlinien ausschlaggebend wären, da sich immer eine Interessengruppe auf die noch großzügigeren Freiheiten eines anderen Landes berufen könnte.

Es sei „zynisch, Embryonenforschung zum Standortfaktor zu erklären“, hält die Politologin Ingrid Schneider dagegen. Sie ist Mitglied der Enquêtekommission ‘Recht und Ethik der modernen Medizin’ des Bundestages. An der Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen kritisiert sie darüber hinaus, dass sie fremdnützig ist: Das heißt, Embryos werden zum Rohstoffreservoir für Dritte und Frauen zu Materiallieferantinnen.7

Falsche Versprechen der Gentechnik

Der Forschungsrückstand und die mögliche Benachteiligung bei den vielfältigen Heilungschancen sind bislang weitgehend Phantome. Präses Kock: „Es geht ja nicht darum, das Heilen zu verhindern, sondern es geht darum, die jetzt irrsinnig großen Versprechungen erst mal wieder auf ein normales Maß zurückzuführen.“8 Sein katholischer Kollege Kardinal Meisner stimmt ihm in dieser Einschätzung zu: „Bislang ist es völlig unbewiesen, ob mit Hilfe der Stammzellenforschung überhaupt Krankheiten geheilt werden können. Die ganze Diskussion dreht sich um eine vage Hoffnung, die immer wieder als Fortschritt bezeichnet wird. … ein Interesse ist heute übermächtig, nämlich das Interesse der lebenden, erwachsenen Menschen an der Erhaltung ihrer Gesundheit. In diesem Interesse scheinen heute die letzten Schranken zu fallen. … man sollte erst mal abwarten, was wir hieraus an Heilungsmöglichkeiten und Chancen haben, ehe wir embryonale Menschen umbringen.“9

Außerdem sollten es Christen ablehnen, für zweifelhafte zukünftige Heilungen eindeutige ethische Maßstäbe über Bord zu werfen. „Die embryonalen Stammzellen sind das Ergebnis der Tötung eines embryonalen Menschen. Und man darf nicht heilen durch Tötung. Das ist ein Widerspruch in sich selbst.“10

Auch in der medizinischen Forschung wird die Euphorie für die Arbeit mit embryonalen Stammzellen nicht einhellig geteilt. So fordert das Gewebe, das aus embryonalen Stammzellen hergestellt wurde, den menschlichen Körper zu Abstoßungsreaktionen heraus. Aus diesem Grund halten es einige Mediziner auch für sinnvoller, verstärkt auf die Erforschung adulter Stammzellen zu setzen. Entsprechende Zellen können vom Patienten selbst gespendet und dann gentechnisch aufbereitet werden. Gegen das daraus gewonnene Gewebe wehrt sich der menschliche Organismus nicht.11

Bei der Erforschung von Herzzellen, die aus Stammzellen gezüchtet wurden, fiel zudem auf, dass die neuen Zellen nicht immer funktionsfähig waren oder in einem anderen Rhythmus schlugen als der Rest des Herzens. Manchmal bildet eingepflanztes, aus Stammzellen erstelltes Material nur Narbengewebe auf den entsprechenden Organen, statt diese in ihrer Funktion zu unterstützen. Darüber hinaus können Stammzellen nach neueren Forschungen sich plötzlich miteinander verbinden und krebsartige Wucherungen bilden.12

Tötung von Embryonen ist Mord

Einen Menschen direkt oder indirekt zu töten wird in der Bibel von Gott strikt verboten

Wie soeben gezeigt, ist der theologisch und biologisch einzig sinnvolle Termin für den Anfang eines neuen menschlichen Lebens die Vereinigung von Ei und Samenzelle. Wird der zu diesem Zeitpunkt einsetzende Entwicklungsprozess nicht unterbrochen, wird nach neun Monaten ein neuer Mensch geboren. Auch wenn der Embryo im Bauch der Mutter oder in der Petrischale genauso wenig wie das Neugeborene oder ein seniler Senior seine eigenen Interessen alleine vertreten kann oder unabhängig von der Hilfe Anderer überleben kann, muss er doch wie diese als Mensch angesehen werden. Weder Geburt noch Einnistung der befruchteten Eizelle sind Eingriffe in das Leben des Menschen, die ihn zu etwas prinzipiell Anderem machen. Für den betreffenden Mensch sind diese Einschnitte dem Erlernen der Sprache oder der Pubertät ähnlich, die biologische bzw. psychische Veränderungen herbeiführen, aber kein anderes Lebewesen schaffen. Es handelt sich folglich schon beim Embryo um einen Menschen.

Einen Menschen direkt oder indirekt zu töten wird in der Bibel von Gott strikt verboten (2Mo 20,13; 5Mo 5,17; Mt 5,21). Lediglich der Staat darf in den von Gott gesetzten Ausnahmen wie Todesstrafe (1Mo 9,5f; 2Mo 21,12; Röm 13,3f) oder Krieg (Neh 4,8.14; Röm 13,4) einem Menschen das Leben nehmen. Auch wenn Eltern ihre Kinder nach dem Alten Testament körperlich züchtigen dürfen (Spr 13,24; 22,15; 23,13f), eine Verletzung, die zum Tod eines Kindes führt ist generell verboten (5Mo 21,18-21; Spr 19,18). Bei der Abtreibung , die das Leben des Kindes bewusst beenden will, handelt es sich um einen Mord, auf den sich keine Ausnahmeregelungen der Bibel beziehen.

Embryonenmord für Wohlstand und Gesundheit?

Auch die Erleichterung in einer schweren Krankheit kann einen Mord wohl kaum rechtfertigen

Für die Abwägung materieller oder psychischer Interessen von Eltern oder kranken Menschen, die von möglichen Forschungsergebnissen profitieren könnten – gegen das Lebensinteresse des Embryos – wird es keine allgemein akzeptablen oder gar intellektuell einsichtigen Kategorien der Entscheidungsfindung geben. Wird der menschliche Embryo als vollgültiger Mensch in der Anfangsphase seiner Entwicklung gesehen, wofür alle logischen und medizinischen Gründe sprechen, bleiben nur zwei Möglichkeiten.

Entweder sehe ich den Menschen als gleichberechtigten Bestandteil der Natur, neben anderen weiterentwickelten Lebewesen, oder ich billige ihm eine herausgehobene Stellung und eine gewisse Verfügungsgewalt über die Natur zu. Im ersten Fall müsste ich den Menschen konsequenter Weise wie die ihm gegenüberstehenden Tiere behandeln und der besondere Schutz menschlichen Lebens schiene absurd. Dann gäbe es aber in jedem Lebensalter berechtigte Gründe einen Menschen zu töten, der den Interessen der Eltern, der Gesellschaft oder der gesamten Natur im Wege steht. Die Fristenlösung, die eine Abtreibung lediglich in den ersten Lebensmonaten zulässt, oder die Nutzung von Embryonen vor deren Nidation, wäre vor diesem Hintergrund unsinnig. Dann gäbe es aber auch keinen zufriedenstellenden Grund einen Menschen als Embryo zu töten, über dessen Nutzen für die Menschheit noch nichts ausgesagt werden kann.

Im zweiten Fall ist der Mensch als Mensch geschützt, unabhängig von seinen Leistungen oder Belastungen für die Gesellschaft. Sollte ein Embryo getötet werden, könnte das ethisch nur gerechtfertigt werden, wenn dadurch ein höherer Wert geschützt werden kann. Doch schon beim ersten Nachdenken scheint es absurd zu sein, dem Menschen einen geringeren Wert als einem Urlaub, einem Auto, einer Berufsausbildung oder einem erhöhten Stress bei der zukünftigen Erziehung zuzubilligen. Auch die Erleichterung in einer schweren Krankheit kann einen Mord wohl kaum rechtfertigen. Vollkommen unerklärbar ist natürlich der Bezugsmaßstab. Soll das, was ein Mensch unbedingt braucht oder dringend benötigt, so wichtig sein, dass das Leben eines Menschen dahinter zurücktritt? Nehmen wir die Güter und Wohnverhältnisse eines durchschnittlichen Deutschen als Grundlage, dürften in den meisten deutlich ärmeren Ländern der Welt keine Kinder mehr geboren werden, weil diese ja die Erreichung eines höheren Zieles, des besseren Lebens, verhindern. Doch selbst in der Bundesrepublik könnte man fragen wie viele Autos, wie viel Freizeit oder verbessertes Wohlbefinden nötig sind, und wann ein Zustand erreicht wird, der es nicht mehr erlauben würde, ein Kind dafür zu töten.

Embryonenmord für mehr Gesundheit?

Von Rechtsphilosophen wie Reinhard Merkel dagegen wird es zur moralischen Verpflichtung erklärt, den Embryo in seinen Frühst-stadien dem Interesse der Menschheit zu opfern, wenn sich die Aussicht auf Therapiemöglichkeiten schwerwiegender Krankheiten anderer Menschen mittels seines Zellmaterials ergibt. Zwar geht Merkel von einer ‘speziesbezogenen Menschenwürde’, nicht aber von einem ‘kategorisch geltenden subjektivem Grundrecht auf Leben’ und Achtung des Einzelnen als Person aus. Nach Merkel sind Abtreibung zum Zweck der Embryonenforschung und Stammzelltherapie nicht nur zu erlauben, sondern moralisch geboten. Der Staat habe eine ‘Hilfspflicht’ gegenüber „den Lebenschancen schwer kranker Menschen“.13 Solche Äußerungen klingen nach der Maxime: „Du bist nichts, dein Volk ist alles!“

Wenn allerdings der einzelne Mensch kein besonderes Existenzrecht hat, hat es natürlich auch nicht eine große Menge rechtloser Menschen, schließlich ergibt auch die Summe vieler Nichtse nichts. Unerwünschte, aber mögliche Schlussfolgerungen aus der Überlegung, den einzelnen Menschen generell dem Interesse der Gruppe unterzuordnen, könnte auch die Legitimation von Menschenversuchen zur Erforschung schwerer Krankheiten oder der Zwang zur Organspende sein. Für Christen aber darf ein an sich gutes, erstrebenswertes Ziel nie mit einer ethisch abzulehnenden Methode oder mit Billigung von Sünde erreicht werden (z.B. Mt 4,1-11).

Wenn der einzelne Mensch kein besonderes Existenzrecht hat, hat es natürlich auch nicht eine große Menge rechtloser Menschen

Der Zürcher Ethiker Johannes Fischer meint, ein überzähliger Embryo sei noch kein werdender Mensch, weil das Ende seiner Entwicklung nicht zu erwarten sei. Erwartbar werde es, „wenn die Gemeinschaft existierender Personen sich auf ihn als Person bezieht“ und damit die äußeren Entwicklungsmöglichkeiten hin zum existierenden Menschen gegeben seien.

Wenn der Mensch allerdings das Wesen ist, das von Gott und zu Gott in Beziehung gesetzt wurde, dann ist das nicht identisch mit der Beziehung von existierenden Personen: „Gottes Leben schaffendes Verhältnis zum Embryo ist früher (existent) als das physiologische Verhältnis der Mutter zum Embryo, das mit der Nidation gesetzt wird. Deshalb muss auch ein durch IVF14 gezeugter Embryo als Geschöpf Gottes – geschaffen mittels Menschen durch medizinische Möglichkeiten – gedacht werden, das unter dem uneingeschränkten Schutz der Personenwürde steht.“15 Der Beginn des MenschseinsAbgesehen von einigen Extremisten wird heute kaum gefordert, einen Menschen töten zu dürfen, wenn der meine finanzielle, psychische oder gesundheitliche Entwicklung negativ beeinflusst, schließlich wäre das ein Freibrief, Alte und Schwache, Arbeitslose und Behinderte straflos ins Jenseits zu befördern. Auch wird nicht ernsthaft vertreten, jeden Menschen, der alleine nicht überlebensfähig ist, töten zu dürfen, denn das beträfe neben den Embryonen auch neugeborene Babys, pflegebedürftige Senioren oder schwer Behinderte.

Hauptargument: Erst ab dem Zeitpunkt der Geburt könne man von einem schützenswerten Menschen ausgehen

Das Hauptargument der Befürworter gentechnologischer Forschungen an Embryonen in dieser Diskussion lautet: Erst ab dem Zeitpunkt der Geburt kann man von einem schützenswerten Menschen ausgehen. Vorher handelt es sich zwar um eine Ansammlung menschlicher Zellen, nicht aber um einen vollgültigen Menschen. Natürlich gebe es Übergangsformen, doch zumindest in den ersten Wochen handele es sich nicht um ein menschliches Wesen mit Bewusstsein, Schmerzempfinden und eigenem Willen.

Für einen Großteil der Bevölkerung scheint es jedoch selbstverständlich zu sein, dass ein Mensch im Augenblick der Befruchtung entsteht. Der Bundesverband Lebensrecht e.V. hat in diesem Zusammenhang eine Umfrage bei dimap in Auftrag gegeben. Auf die Frage, ob es stimmt, dass ein neuer Mensch im Augenblick der Verschmelzung von Samen- und Eizelle entsteht, antworteten 76% der Befragten mit ‘Ja’ (unabhängig ihrer religiösen Ausrichtung). Nur 17% vertraten die Ansicht, dass es nicht stimme.16 Dies ist auch die eindeutige Meinung katholischer Ethik: „Es ist seit Jahrzehnten wissenschaftlich unstreitig, dass von der Befruchtung der Eizelle an ein höchst individueller, unverwechselbarer Mensch sich entwickelt. Die Embryonen entwickeln sich nicht zum Menschen, sondern als Mensch.“17

Das preußische Landrecht hatte schon 1794, zur Zeit der Aufklärung, eindeutig entschieden: „Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungeborenen Kindern schon von der Zeit der Empfängnis“.18 In der UN-Kinderrechtserklärung heißt es dazu in Artikel 6: „Die Vertragsstaaten erkennen an, dass jedes Kind ein angeborenes Recht auf Leben hat“. Das klingt gut. Aber wird dies dem ganzen Menschenleben gerecht?

Grundgesetz und Bundesverfassungsgericht plädieren für den Schutz des Embryos: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potenziellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“19 „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“20 sagt das Grundgesetz. „Jeder im Sinne“ dieses Artikels „ist ‘jeder Lebende’, anders ausgedrückt: Jedes Leben besitzende menschliche Individuum, ‘jeder’ ist daher auch das noch ungeborene menschliche Wesen“, so der Wortlaut der Entscheidung des BVG.21

Abtreibungsbefürworter betonen den Unterschied zwischen Embryo und Neugeborenem

Abtreibungsbefürworter hingegen betonen den Unterschied zwischen Embryo und Neugeborenem. Für sie nimmt das Bewusstsein eines Menschen im Laufe seiner Entwicklung zu und damit seine Schutzwürdigkeit. Der Embryo ist für sie nicht selbständiges Leben. Er kann sich nur im und durch den Körper der Frau entwickeln, in vollständiger Abhängigkeit. „Der Embryo ist nicht, was er erst wird. So wie eine Raupe noch kein Schmetterling ist.“22 „Es ist meiner Meinung nach keineswegs so, dass der moralische Status des Embryos von der Befruchtung bis zur Geburt unverändert bleibt. Ich würde bei der Zusprechung von Menschenwürde verschiedene Entwicklungsstufen des Embryos unterscheiden. Für mich sind bestimmte Eigenschaften wie etwa der Beginn der Gehirnentwicklung oder die einsetzende Empfindungsfähigkeit moralisch von Belang. Je mehr sich der Embryo dem Zeitpunkt der Geburt nähert, desto moralisch gewichtiger scheint mir das Wesen.23 “Der Embryo sei einem Ei vergleichbar. Für die meisten Menschen mache es aber einen Unterschied ob sie ein Ei oder ein lebendes Huhn in kochendes Wasser werfen.24 Die zeitweilig von Feministinnen geäußerte Auffassung, bei dem Embryo handle es sich lediglich um frei verfügbares Zellgewebe der Mutter, muss aus medizinischen Gründen eindeutig zurückgewiesen werden. So schreibt Dr. Michael Hertl, Professor für Kinderheilkunde: „Zu keinem Zeitpunkt ist das Kind Teil der Mutter, von der ersten Zelle an hat es einen biologischen Eigenstatus, so wichtig es auch für das Kind ist, dass die Mutter es zu ihrem eigenen Leben annimmt und die Verbindungen so innig sind.“25

Mensch ab Befruchtung, Einnistung oder Geburt?

Für den Zeitpunkt an dem es sich um einen schützenswerten Menschen handelt, werden folgende Vorschläge diskutiert: Geburt, Lebensfähigkeit, Bewegung des Fötus, Einsetzen des Bewusstseins und Befruchtung der Eizelle.

Zeitpunkt der Menschwerdung: Die Geburt

Ein Kind kurz vor der Geburt unterscheidet sich nicht von einem Kind kurz nach der Geburt

Die Geburt als Kriterium ist kaum nachzuvollziehen, da sich das Kind kurz vor der Geburt und das nach der Geburt kaum voneinander unterscheiden, und es in beiden Fällen die gleiche Fähigkeit hat Schmerz zu empfinden. Der wesentlichste Unterschied ist, ob es zu sehen ist oder nicht (wobei Ärzte auch schon das ungeborene Kind per Ultraschall begutachten können). Folglich kann dies kein Kriterium sein.26 Bei einem Kind ist wenige Stunden vor und kurz nach der Geburt kein qualitativer Unterschied zu bemerken, erst recht keiner, der eine unterschiedliche Behandlung hinsichtlich der Schutzwürdigkeit des jungen Menschen rechtfertigen würde. Außerdem ist die Geburt ein willkürlicher, von dem Entwicklungszustand des Kindes unabhängiger Einschnitt. Ein Kind wird als Frühchen geboren und ist ohne intensivmedizinische Betreuung nicht überlebensfähig, ein anderes erblickt nach durchschnittlichen neun Monaten das Licht der Welt. Warum sollte dem jüngeren, weniger entwickelten Kind die Menschenwürde zugesprochen werden, dem älteren aber nicht?

Andere halten das Kind für einen schützenswerten Menschen, wenn es allein außerhalb der Mutter überleben kann. Auch in Hinsicht auf die Abhängigkeit des Säuglings von seiner Umwelt, unterscheidet sich ein achtmonatiges Baby im Mutterbauch kaum von dem kurze Zeit später geborenen Kind. Beide sind total auf die Unterstützung eines anderen Menschen angewiesen. Das gilt auch für das Neugeborene, schließlich würde auch dieses ohne fortwährende liebevolle Zuwendung der Mutter oder eines anderen erwachsenen Menschen schnell sterben. Aufgrund moderner Medizintechnik ist es für ein Kind jedoch heute immer früher möglich außerhalb des schützenden Mutterbauches zu überleben, folglich ist diese Definition äußerst ungenau und jeweils abhängig von den Möglichkeiten des örtlichen Krankenhauses. Das führt allerdings zu einigen Problemen, da sich, wenn Schwangere von einem Ort zum anderen reisen, die Situation für das Ungeborene ändert. Auch mit Entwicklung der medizinischen Technik müssten Vertreter dieser Position eine Änderung des spätestens Abtreibungszeitpunktes annehmen.

Ein weiteres der diskutierten Kriterien für den Beginn des schützenswerten Menschseins ist die Bewegung des Fötus. Dabei macht es durchaus einen Unterschied, ob man den Zeitpunkt wählt zu dem die Mutter die Bewegung spürt oder den Zeitpunkt zu dem sich der Fötus bewegt (wesentlich früher). Die Frage ist zudem, ob eine solche Ansicht nicht konsequenterweise zur Diskriminierung von Menschen mit fehlendem physischen Bewegungsvermögen führt.

Recht willkürlich erscheint die gegenwärtig gültige Gesetzesregelung, nach der ein Mensch erst nach Ablauf von drei Monaten juristischen Schutz genießt, es sei denn er ist behindert. Vorher kann das menschliche Wesen ohne Bedenken abgetrieben, d.h. getötet werden.

Zeitpunkt der Menschwerdung: Die Nidation

Gegen diese Definition des Menschen erheben sich gewichtige Bedenken

Für die Annahme, in der Einnistung des Embryo in der Gebärmutter (Nidation) geschehe die eigentliche Menschwerdung, führt man verschiedene Gründe an:

  • Bis zum Beginn der Nidation (bis zum 6. oder 7. Tag nach der Befruchtung), kann das nach der Befruchtung sich entwickelnde Gebilde in mehrere Individuen auseinanderfallen (eineiige Zwillinge oder Mehrlinge). Umgekehrt konnten im Tierversuch mehrere Gebilde in diesem Stadium zu einem einzigen vereinigt werden, das sich zu einem größeren Tier entwickelte. Daraus scheint sich zu ergeben, dass das menschliche Individuum erst nach Abschluss der Nidation da ist.
  • Erst in der Nidation wird der Keim vom Organismus der Mutter angenommen. Medizinische und juristische Kreise sprechen erst von da an von Schwangerschaft.
  • Von den befruchteten Eizellen gehen vor der Nidation 30 bis 50 Prozent zugrunde. Scheinbar sieht auch der Körper der Mutter den Embryo erst ab seiner Einnistung als schützenswertes Wesen an.Auch gegen diese Definition des Menschen erheben sich allerdings gewichtige Bedenken:27
  • Die Biologie zeigt die Vereinigung der väterlichen und der mütterlichen Chromosomen als den entscheidenden Anfang der Entwicklung einer neuen eigenständigen Persönlichkeit.
  • Der mütterliche Organismus nimmt den Embryo nicht erst in der Nidation an, sondern sorgt für ihn in sehr angepasster Weise schon vorher.
  • Die Möglichkeit der (ziemlich seltenen) Teilung eines aus dem befruchteten Ei entstandenen Gebildes zu mehreren und der Vereinigung mehrerer zu einem bis zum Ende der Nidation richtet sich nicht gegen das Personsein des Embryos. Auch später sterben Menschen, genauso wie Embryonen in dieser frühen Phase ihres Lebens sterben können. Medizinisch kann auch aus der Zelle eines erwachsenen Menschen durch cloning ein neuer Mensch gezüchtet werden ohne dass der Spender oder der neue Mensch seine Persönlichkeit verliert.
  • Zusammen mit dem Absterben befruchteter Eier vor der Nidation sollte beachtet werden, dass bis vor 150 Jahren ein Großteil der Säuglinge in den ersten Tagen nach der Geburt starb, ohne dass jemand daraus den Schluss gezogen hätte, man brauche die Neugeborenen nicht als zu bewahrendes menschliches Leben zu achten, weil die Natur selbst sie nicht achte.
  • Biologen kündigen heute an, das es in absehbarer Zukunft möglich sein wird, ein befruchtetes menschliches Ei in einer künstlichen Gebärmutter heranreifen zu lassen. Man müsste für den Fall des Gelingens fragen, ob derart entwickelte Wesen nie Menschen würden, weil ja die (angeblich entscheidende) Nidation unterbleibt.
Die neuen Bioethiker wie Norbert Hoerster und Dieter Birnbacher verneinen das Lebensrecht des frühen Embryos

Gott schreibt einer Person schon von seiner Empfängnis an Eigenschaften typischen Menschseins zu. Scheinbar ist der Mensch schon vor seiner Geburt sündig: „Siehe in Schuld bin ich geboren, und in Sünde hat mich meine Mutter empfangen.“ (Ps 51,7; vgl. Ps 58,4). Von Jakob wird gesagt, dass er bereits im Mutterleib seinen Bruder hintergangen hat (Hos 12,4). Prophetenund andere Männer Gottes können schon vor der Geburt von Gott berufen werden (Ri 13,5.7; Jer 1,5; Jes 49,1). „Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt“ (Jer 1,5; vgl. Hiob 10,8-12; Ps 22,10-11). Johannes der Täufer ist schon im Bauch seiner Mutter Elisabeth vom Heiligen Geist erfüllt und kann bewusst auf seine Umgebung reagieren (Lk 1,15; 1,41-44).

Hiob will in seinen vom persönlichen Leid gekennzeichneten Aussagen nicht seine eigene Abtreibung fordern, sondern seiner grenzenlosen Verzweiflung Ausdruck geben: „Warum starb ich nicht im Mutterleib?“ (Hiob 3,11; vgl. 10,19). Nach überstandenem Leid ist dieser spontan geäußerte Todeswunsch auch wieder vergessen. Entscheidend ist aber, dass Hiob eine bruchlose Kontinuität sieht zwischen seinem Leben vor und nach der Geburt und auch keinen Unterschied bezüglich seiner Persönlichkeit oder seines Menschseins macht.

Zeitpunkt der Menschwerdung: Das Bewusstsein

Das Kriterium des Bewusstseins ist etwas außer Mode gekommen, da unklar ist, ab wenn der Fötus in der Lage ist, Schmerz zu empfinden und erst recht, ab wann man ihm Bewusstsein zusprechen kann.28 Trotzdem wird noch da und dort das Bewusstsein des Embryos als ein scheidendes Kennzeichen des Menschseins genannt. Die neuen Bioethiker wie Norbert Hoerster und Dieter Birnbacher verneinen das Lebensrecht des frühen Embryos, andere lassen offen, wann der Mensch ‘seine Individualität und Personalität gewinnt’. Man spricht je nach Gutdünken in der Frühentwicklung bis zur Nidation oder bis zur Gehirnentwicklung vom ‘werdenden Menschen’, einem ‘vorprogrammierten Organismus’, von ‘Kindern und deren Vorstufen.29„Man glaubt sich berechtigt, den Menschen- und Personenbegriff zu spalten, rückt ‘Person’ in die Nähe von ‘Persönlichkeit’ und ermächtigt sich am Schreibtisch oder im parlamentarischen Beschluss zu einer Art ‘Herr über Leben und Tod’. Man vertritt individuelle Interessenlagen der Erwachsenenwelt und kommt den Wünschen jener entgegen, die sie zu äußern vermögen.“30Nach dem ehemaligen Kultur-Staatsminister Nida-Rümelin ist schützenswertes Menschsein abhängig von dem Selbstbewusstsein und der Selbstachtung des jeweiligen Wesens: „Die Achtung der Menschenwürde ist dort angebracht, wo die Voraussetzungen erfüllt sind, dass ein menschliches Wesen entwürdigt werde, ihm seine Selbstachtung genommen werden kann.“ Doch „die Selbstachtung eines menschlichen Embryos lässt sich nicht beschädigen.“31 Mit einem solchen Kriterium wären aber nicht nur Embryonen, sondern auch Säuglinge und Kleinkinder sowie all jene Menschen, die keine Selbstachtung entwickeln können oder sie in einer Krankheit z.B. einer schweren Depression verloren haben, von der Anerkennung ihrer Würde ausgeschlossen. Man ist versucht zu fragen, ob der Minister auch weiterhin ein schützenswerter Mensch ist, wenn er schläft oder nach einem Unfall ins Koma fällt, also keine Selbstachtung zeigen kann. Sicher nicht. „Auch Bewusstsein kann das Kriterium für den Menschen nicht sein. Auch nach Ausschaltung des Bewusstseins in Narkose oder durch ein schweres Hirntrauma mit anhaltendem Koma bleibt der Mensch Mensch.“32

Konsequent wird der Embryo in einer frühen Phase seiner Entwicklung, in der noch kein Großhirn ausgebildet ist, noch nicht als Mensch angesehen und kann so bedenkenlos abgetrieben werden

Einige Ethiker und Philosophen wollen erst von einem schützenswerten Menschen sprechen, wenn dieser eine Persönlichkeit hat. Die Persönlichkeit wird am Bewusstsein festgemacht. Das wiederum läuft im Gehirn ab. Konsequent wird so der Embryo in einer frühen Phase seiner Entwicklung, in der noch kein Großhirn ausgebildet ist, noch nicht als Mensch angesehen und kann so bedenkenlos abgetrieben werden. „Manche Biologen verweisen auf den Entwicklungsbeginn des Zentralnervensystems und datieren ab hier als erste Möglichkeit der Reizverarbeitung und Empfindung den Beginn des menschlichen Daseins. Sie nehmen die intensivmedizinischen Kriterien des Hirntodes auf und definieren entsprechend eine Situation des Noch-nicht-Hirnlebens. Sie bieten mit diesem Noch-nicht-Hirnleben und dem Hirntod, als Beginn und Ende, einen Rahmen an, innerhalb dessen menschliches personales Leben ethisch gewürdigt und rechtlich geschützt werden sollte.“33

Zwar ist es richtig, dass sich die Persönlichkeit erst im Laufe der Zeit entwickelt und beim erwachsenen Menschen seine volle Entfaltung erreicht, das schließt aber nicht aus, dass es vorher schon in der Potenz (in der Anlage, im Ansatz) da ist und sich im Lauf der Entwicklung immer mehr aktualisiert. Wenn auch die Ausbildung der Großhirnrinde mit dem Entstehen der Persönlichkeit gleichgesetzt werden kann, bietet sie doch die Möglichkeit dazu; so kommt dem Gehirn für das Werden eines menschlich-personalen Wesens entscheidende Bedeutung zu.

Das Personsein beruht auf der Gottesebenbildlichkeit des Menschen

Aber auch schon zu einem viel früheren Zeitpunkt weiß man, dass es bei ungestörter Weiterentwicklung zu einem Menschen mit Bewusstsein und Freiheit führt. Wenn auch jede spätere Phase dieser Entwicklung die frühere überbietet, geht sie doch aus der früheren hervor, und die früheren tragen die späteren im Ansatz in sich. Schon mit der Befruchtung der Eizelle ist der Startschuss für die spätere Entwicklung gegeben; der Chromosomensatz enthält die Erbinformation für diese Persönlichkeit. Zur vollen Entfaltung braucht das entstandene Leben zwar den Schutz und die Versorgung im Mutterbauch, all diese Einflüsse fügen aber der Erbinformation nichts hinzu, sondern wecken und entwickeln nur, was in ihr enthalten ist. Darüber hinaus ist es problematisch den Menschen in seiner Ganzheit lediglich an dem Entwicklungsgrad eines seiner Organe festzumachen.34 Außerdem deuten einige medizinischen Forschungsergebnisse an Embryonen an, dass auch diese schon in einer sehr frühen Entwicklungsphase über eine Art Bewusstsein verfügen.35

Der Philosoph Robert Spämann weist zurecht darauf hin, dass die Zugestehung von Menschenrechten keinesfalls an einzelnen menschlichen Eigenschaften festgemacht werden darf: „Es sind bestimmte Eigenschaften von Menschen, die uns dazu veranlassen, Menschen Personen zu nennen. Aber was wir Personen nennen, sind nicht diese Eigenschaften, sondern deren Träger.“ Für Spämann sind Menschsein und Personsein identisch. Die biologische Zugehörigkeit zur menschlichen Gattung sei das einzig zulässige Kriterium für die Zuschreibung von Menschenwürde und Menschenrechten.

„Auch aus biblischer Sicht hängt das Personsein nicht von wahrnehmbaren körperlichen und seelisch-geistigen Fähigkeiten ab. Vielmehr beruht es auf der Gottebenbildlichkeit des Menschen. Diese ist keine empirische, sondern eine göttliche Qualität. Das Menschsein liegt nicht in dem, was der Mensch hat oder kann, sondern in dem, was er in Beziehung zu Gott ist.

Menschenwürde ist eine von Gott zugesprochene Würde (dignitas aliena), mit der Gott den Menschen bekleidet. Sie wird von keiner menschlichen Fähigkeit oder Leistung mitbedingt.36 “Sie kommt auch dem Sünder zu, denn sie ist eine verheißene Würde: Der Mensch hat schon jetzt in seinem irdischen Leben teil an der vollendeten Würde in Jesus Christus, der das wahre Ebenbild Gottes ist (Kol 1,15; 3,10; 1Joh 3,2). Schon in der Schöpfung trennt Gott nicht zwischen Geist, Bewusstsein und Leib. Der aus dem Ackerboden (adamáh) geschaffene Mensch (adám) bekam mit dem Lebensodem nicht eine Geistseele, die sich vom Leib unterscheidet, sondern er wurde als Ganzes mit seiner Leiblichkeit ein „lebendiges Wesen“ (1Mo 2,7). Leiblichkeit ist darum kein biologisches Etwas, sondern Grundlage des Personseins. Aus dieser umfassenden theologischen Perspektive betrachtet, fallen menschlicher Lebensbeginn, Personsein und Personenwürde zusammen.37


  1. Vgl. Die Welt: Menschenwürde beginnt sehr früh, www.welt.de/data/ 31.10.2003. 

  2. Interviewe mit Präses Kock, Morgenecho, WDR 5, 31.1.2002, www.wdr5.de/morgenecho/interviews. 

  3. Vgl. Michael Engel: Handelsware Embryo — Ärzte und Forscher testen die Grenzen. 

  4. Vgl. Die Welt: Zypries schockiert die Kirchen, www.welt.de/data/ 31.10. 2003. 

  5. Beate Hinrichs: Frankenstein lässt grüßen — Der Mensch ‘bastelt’ am Menschen. 

  6. Beate Hinrichs: Brisant und begehrenswert: Embryonale Stammzellen, ihr Import und ihre Alternativen, Leonardo vom 19.1.2001, www.wdr5.de/leonardo/beitrag. 

  7. Vgl. Beate Hinrichs: Brisant und begehrenswert: Embryonale Stammzellen, ihr Import und ihre Alternativen, Leonardo vom 19.1.2001, www.wdr5. de/leonardo/beitrag 

  8. Interview mit Präses Kock, Morgenecho, WDR 5, 31.1.2002, www.wdr5. de/morgenecho/interviews 

  9. Interview mit Kardinal Meisner, Morgenecho, WDR 5, 28.1.2002, www.wdr5.de/morgenecho/interviews 

  10. Interview mit Kardinal Meisner, Morgenecho, WDR 5, 28.1.2002, www.wdr5.de/morgenecho/interviews 

  11. Vgl. Volkart Wildermuth: Organe aus dem Labor. Erster Weltkongress Regenerative Medizin Leonardo vom 24.10.2003, www.wdr5.de/leonardo/beitrag. 

  12. Vgl. Michael Lange / Martin Winkelheide: Alleskönner-Zellen überall. Adulte Stammzellen in der medizinischen Praxis, Leonardo vom 26.4.2002, www.wdr5.de/leonardo/beitrag. 

  13. R. Merkel, in: Die Zeit 05/ 2001. Merkel hat den Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie in Hamburg inne. Er vertritt wie D. Birnbacher die Nichtäquivalenztheorie von Mensch und Vormensch. 

  14. Künstliche Befruchtung außerhalb des menschlichen Körpers. 

  15. Ulrich Eibach, zitiert nach: Martin Kraut/ Antoinette Lüchinger: Das Leben liegt in des Menschen Hand, Bausteine/VBG Vereinigte Bibelgruppen Magazin 7/2002, www.ebausteine.ch, 20.10.2003. 

  16. Pressemitteilung des BVL vom 16.04.2002, http://www.kaleb.de. 

  17. Interview mit Kardinal Meisner, Morgenecho, WDR 5, 28.1.2002, www.wdr5.de/morgenecho/interviews. 

  18. ALR I,1, 10; zit. nach Hans Maier in: Rhein. Merkur Nummer 35 2001, S. 26. 

  19. Zitiert nach dem Kölner Strafrechtler Wolfram Höfling, BVG Bd. 391, 1 S. 41. 

  20. Art. 2. Abs.2 Satz 2 GG. 

  21. BVGE 39, 1, 37. 

  22. Hans Saner. 

  23. Peter Schaber, Philosoph, Sonntags Zeitung 19.5.02. 

  24. Singer, P.: Praktische Ethik. Neuausgabe, Stuttgart 2.Aufl. 1994, 199. 

  25. Vgl. Michael Hertl: Die Welt des ungeborenen Kindes, R.Piper, München 1994; vgl. Http://www.meinbaby.info/lebensanfang.html, 20.10.2003. 

  26. Vgl. http://www.phillex.de/abtreib.htm, 15.10.2003. 

  27. Vgl. Karl Hörmann: Art. Abtreibung, Lexikon der christlichen Moral, LChM 1976, Sp. 3-15, bei: www.stjosef.at/morallexikon/abtreibu.htm / vgl. auch http://www.cdl-online.de. 

  28. Vgl. http://www.phillex.de/abtreib.htm, 15.10.2003 

  29. Zitat Prof. Birnbacher, Düsseldorf zit n. St. Rehder in: Die Neue Ordnung April 2000 S.102 

  30. Maria E. Overdick-Gulden: Unzumutbar, überzählig, wrongful life – was heißt da Menschenwürde? in: www.alfa-ev.de. 

  31. TAZ vom 3. 1. 2001. 

  32. Michael Hertl: Die Welt des ungeborenen Kindes, R.Piper, München 1994; vgl. http://www.meinbaby.info/lebensanfang.html, 20.10.2003. 

  33. Michael Hertl: Die Welt des ungeborenen Kindes, R.Piper, München 1994; vgl. Http://www.meinbaby.info/lebensanfang.html, 20.10.2003. 

  34. Vgl. Karl Hörmann: Art. Abtreibung, Lexikon der christlichen Moral, LChM 1976, Sp. 3-15, bei: www.stjosef.at/morallexikon/abtreibu.htm / vgl. auch http://www.cdl-online.de. 

  35. Vgl. Michael Hertl: Die Welt des ungeborenen Kindes, R.Piper, München 1994; vgl. Http://www.meinbaby.info/lebensanfang.html, 20.10.2003. 

  36. Martin Kraut/ Antoinette Lüchinger: Das Leben liegt in des Menschen Hand, Bausteine/VBG Vereinigte Bibelgruppen Magazin 7/2002, www.ebausteine.ch, 20.10.2003. 

  37. Vgl. Martin Kraut/ Antoinette Lüchinger: Das Leben liegt in des Menschen Hand, Bausteine/VBG Vereinigte Bibelgruppen Magazin 7/2002, www.ebausteine.ch, 20.10.2003