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Die Väter der Situationsethik

Die Versuche eine verbindliche Ethik ohne ein biblisches Fundament sind zahlreich. Konsequent kann es aber keine tragfähige Ethik ohne Hören auf Gottes Wort geben.

Biblische Ethik ist Offenbarungsethik: „Hin zum Gesetz und zur Offenbarung“ (Jes 8,20). Sie wird durch Hören oder durch das Niederschreiben, Lesen und Studieren des Gehörten erlernt. Deswegen beginnt das zentrale Glaubensbekenntnis Israels in 5Mose 6,4-6 mit den Worten: „Höre Israel“ (5Mose 6,4). Der Jude wie der Christ ist ein hörender Mensch, der von Gott lernt und lebenslang ein Schüler Gottes bleibt. Nicht erst die Jünger Jesu und weitere Nachfolger aus allen Völkern werden „Jünger“ (griech. mathetes, eig. Lernende, Schüler) genannt (Mt 28,18). Schon Jesaja hat sich so verstanden: „Der Herr, Herr, hat mir die Zunge eines Schülers [oder: Jüngers] gegeben … Er weckt mich, Morgen für Morgen weckt er mir das Ohr, damit ich höre, wie Schüler [oder: Jünger] hören. Der Herr, Herr, hat mir das Ohr geöffnet, und ich, ich bin nicht widerspenstig gewesen, bin nicht abgewichen“ (Jes 50,4-5).

Dass Ethik das Hören voraussetzt, somit alles Gute im Gehorchen zu finden ist, lehrt auch das Neue Testament immer wieder. Im Griechischen wie im Deutschen kommt das Wort für ‘Gehorchen’ von dem Wort ‘Hören’ und bedeutet Hören im Sinne von Vernehmen und Tun.

Das Gesetz definiert Sünde

Sünde setzt also immer den redenden Gott, immer eine absolute ethische Norm und immer eine Person, die diese bricht, voraus. Dies wird in den verschiedenen biblischen Begriffen für Gesetz und für Sünde deutlich. Die verschiedenen Begriffe für Gesetz wurden bereits oben vorgestellt.

Paulus ist in Röm 3,19 auf dem ersten Höhepunkt des Römerbriefes angelangt: „die ganze Welt ist dem Gericht Gottes verfallen“. Daraus kann nur ein Schluss gezogen werden: „Darum wird aus Gesetzeswerken (oder: dem Tun des Gesetzes) kein Fleisch gerechtfertigt werden“ (Röm 3,20), und damit niemand das Problem beim Gesetz sieht, sondern wirklich ausschließlich bei der Sünde des Menschen, fügt er die eigentliche Bestimmung des Gesetzes hinzu: „denn durch [ein/das] Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm 3,20). Ähnlich schreibt Paulus in Röm 7,7: „Was sollen wir nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Das sei ferne! Aber die Sünde hätte ich nicht erkannt, als nur durch das Gesetz“.

Dass durch das Gesetz Erkenntnis der Sünde kommt, bedeutet auch, dass nur durch das Gesetz Erkenntnis der Sünde kommen kann. Etwas als Sünde zu verwerfen, steht allein Gott zu, und deswegen kann allein von Gottes Gesetz definiert werden, was böse und was gut ist. Sünde ist immer Übertretung eines Gebotes und Wortes Gottes, und ein ‘böses Gewissen’ ist nur berechtigt, wenn das Gesetz Gottes übertreten wurde, nicht wenn gegen menschliche Normen oder eigene Empfindungen gehandelt wurde. Dies wird in 1Joh 3,4 unmissverständlich deutlich: „Jeder, der Sünde tut, tut damit Gesetzlosigkeit, denn die Sünde ist die Gesetzlosigkeit.“ Und 1Kor 15,56 fügt hinzu: „Der Stachel des Todes aber ist die Sünde, die Kraft der Sünde aber das Gesetz“.

Ohne Gesetz gibt es deswegen keine Sünde und damit keinen Tod. „Wo kein Gesetz ist, gibt es auch keine Schuld. Buße und Vergebung werden überflüssig.“1 (Dies gilt natürlich auch für Christen, die meinen, kein Gesetz mehr zu benötigen.)

Wer eigenmächtig über das hinaus, was Gott als Sünde definiert, in noch so frommer Absicht weitere Handlungen oder Gedanken als Sünde verbietet, macht sich selbst zum Gesetzgeber

Gott fordert von uns ausschließlich das, was er uns mitgeteilt hat. Wer eigenmächtig über das hinaus, was Gott als Sünde definiert, in noch so frommer Absicht weitere Handlungen oder Gedanken als Sünde verbietet, macht sich selbst zum Gesetzgeber und macht aus dem Gesetz ein menschliches, untragbares Joch. Das Gesetz selbst macht unmissverständlich deutlich, dass Gott nicht mehr fordert, als er in seinen Geboten niedergelegt hat:

„Und nun, Israel, was fordert der HErr, dein Gott, von dir als nur, den HErrn, deinen Gott, zu fürchten, auf allen seinen Wegen zu gehen und ihn zu lieben und dem HErrn, deinem Gott, zu dienen mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele, indem du die Gebote des HErrn und seine Ordnungen, die ich dir heute gebe, hältst, dir zum Guten? Siehe, dem HErrn, deinem Gott, [gehören] die Himmel und die Himmel der Himmel, die Erde und alles, was in ihr ist“ (5Mose 10,12-14).

Martin Luther schreibt treffend:

„Zuerst ist zu wissen, dass es keine guten Werke gibt als allein die, die Gott geboten hat, wie es ebenso keine Sünde gibt, als allein die, die Gott verboten hat. Darum: Wer gute Werke kennen und tun will, der braucht nichts anderes als Gottes Gebote zu kennen.“2)

Gott allein ist der „Gesetzgeber“ (Jes 33,22), ja nur „Einer ist Gesetzgeber und Richter, der erretten und verderben kann. Du aber, wer bist du, dass du deinen Nächsten richtest?“ (Jak 4,12).

Von Sünde und Schuld darf deswegen nicht reden, wer das Gesetz nicht ernst nimmt. Wer von Schuld spricht und das Gesetz nicht ernst nimmt, macht sich selbst zum Gesetzgeber; und es gibt viele Menschen, die eigenmächtig von Schuld sprechen, seien es Umweltschützer oder Psychologen, Sozialisten oder Tugendapostel, Humanisten oder Konservative. Denn aufgrund welchen Rechts sind die Menschen dann schuldig?

Dietrich Bonhoeffer bringt es auf den kurzen Nenner: „Das Gebot ist die einzige Ermächtigung zur ethischen Rede“.3 Dazu gehört allerdings auch, dass das Gebot Gottes klar, verständlich und konkret ist, denn wie soll von Schuld gesprochen werden, wenn das dazugehörige Gesetz schwammig ist und aus lauter Gummiparagraphen besteht? „Gottes Gebot ist entweder bestimmt, klar, konkret bis ins Letzte, oder es ist nicht Gottes Gebot.“4

Deswegen gehört es zum Schlimmsten, das Gesetz zu verändern und auf den Kopf zu stellen, wie es Jes 5,18-24 deutlich zum Ausdruck bringt:

„Wehe denen, die Böses gut und Gutes böse nennen, die aus Finsternis Licht und aus Licht Finsternis machen, die aus bitter süß und aus süß bitter machen! Wehe denen, … Denn sie verwarfen die Offenbarung des HErrn der Heerscharen und verlästern die Rede des Heiligen Israels.“ (aus Jes 5,18-24)

Zur christlich-liberalen Situationsethik

Die neue theologische und kirchliche Situationsethik,5 deren Entstehung vor allem mit den Namen John A. T. Robinson und Joseph Fletcher verbunden ist, tritt hierzu in direkten Widerspruch. Für John A. T. Robinson ist im Ethikkapitel seines berühmten Buches ‘Gott ist anders’ mit dem Titel ‘Die neue Moral’ Quelle der Ethik nicht Autorität, sondern Erfahrung und Experiment.6

Robinson schreibt:

„Ich glaube, dass eine Ethik für die meisten Menschen unserer Zeit nur Autorität hat, wenn sie empirisch ist“.7

Seine Theologie

„setzt bei den Menschen ein und nicht bei den Prinzipien, bei den erfahrbaren Beziehungen und nicht bei den geoffenbarten Geboten“.8

Klaus Bockmühl schreibt dazu:

„Für diesen Abbau der Gotteslehre in der Ethik beansprucht Robinson die Autorität Jesu. Auch Jesu Ethik habe mit der alten absoluten Moral … gar nichts zu tun. Jesus habe keine absoluten Maßstäbe, kein inhaltliches, von Gott dem Menschen gegebenes Gesetz anerkannt. … Entsprechend sieht Robinson in der Bergpredigt usw. keine inhaltliche verbindliche Unterweisung Jesu, sondern nur ‘Beispiele’, Illustrationen für das Handeln der Liebe …“9

Robinson schreibt etwa über Jesus:

„Seine Gebote sind keine Gesetzgebung, die festlegt, was die Liebe immer und von jedem einzelnen fordert: Sie sind vielmehr Illustrationen dafür, was die Liebe in einem bestimmten Augenblick von irgendeinem Menschen fordern kann.“10

„Die Liebe kann es sich leisten, sich völlig von der gegebenen Situation her bestimmen zu lassen …“11

Robinson stimmt darin mit Paul Tillich überein, der schreibt:

„Nur die Liebe kann sich den konkreten Forderungen jeder individuellen und sozialen Situation entsprechend wandeln, ohne ihre Ewigkeit und Würde und unbedingte Gültigkeit zu verlieren.“12

Von welcher Liebe ist denn hier die Rede?

Nur: Von welcher Liebe ist denn hier die Rede? Ist hier nicht Liebe alles, was sich eben auf die Liebe beruft oder als Liebe bezeichnet wird? Ist Liebe dabei nicht nur noch eine Worthülse, die für alles in Anspruch genommen werden kann?

Die ‘Neue Moral’ will dabei ganz ‘neutestamentlich’ sein.

„Die ‘neue Moral’ zieht zu ihrer Begründung ebenfalls das Neue Testament heran. Sie will zeigen, dass sie sich nicht etwa durch den Druck heidnischen Geistes in der gegenwärtigen Gesellschaft, sondern eben durch das Grunddokument des christlichen Glaubens bestimmen lässt. … Sie betont: Der Christ steht unter der Herrschaft der Gnade und nicht unter derjenigen des Gesetzes. Die Liebe ist nicht nur die Erfüllung, sondern auch ‘das Ende des Gesetzes’, und das heißt für Robinson, ‘dass sie es als Grundlage für die Beziehung des Menschen zu Gott und zum Mitmenschen aufhebt’.“13

Besonders häufig wird die Bergpredigt bemüht:

„Die Bergpredigt sagt uns nicht im Voraus: Das musst du unter allen Umständen tun!, sondern: Das ist es, was in einem bestimmten Augenblick das Reich Gottes (oder die Liebe) von dir fordern kann …“14

Spricht der Wortlaut des Bibeltextes selbst dagegen, wird einfach auf bibelkritische Theorien zurückgegriffen:

„Doch auf diese Weise macht man die Bergpredigt zum neuen Gesetz, und selbst wenn Matthäus Jesus so verstanden haben sollte, so gibt es doch heute kaum mehr einen Neutestamentler, der nicht behaupten würde, dass das ein Missverständnis sei.“15

Echte Situationsethik

An dieser Stelle soll dem Missverständnis vorgebeugt werden, als enthalte die ‘Situationsethik’ überhaupt kein wahres Element. Die alttestamentliche Weisheit macht deutlich, dass viele ethische Entscheidungen nur in einer konkreten Situation zu treffen sind, weswegen die Weisheit oft scheinbar doppeldeutig formuliert. Die Weisheit gibt meist allgemeine Ratschläge, die nur in konkreten Situationen angewandt werden können und deren Anwendung in einer Situation scheinbar das genaue Gegenteil bedeutet, wie in einer anderen Situation.

Hier geht es um eine gesunde ‘Situationsethik’. Wenn die Situationsethik nämlich die Gebote Gottes anerkennt und sich auf solche Situationen beschränkt, in denen in Weisheit Dinge zu entscheiden sind, die nicht von Gottes Ordnungen eindeutig vorgegeben sind, ist sie eine wichtige Ergänzung und ein alltäglicher Bestandteil ethischer Entscheidungen.16

Daneben ist biblische Ethik natürlich Situationsethik, indem sie davon ausgeht, dass die letzte Entscheidung immer nur aufgrund einer konkreten Abwägung aller in einer konkreten Situation gegebenen Elemente vorgenommen werden kann und sich biblische Ethik immer in praktischen Situationen bewähren muss. Das schließt in der Bibel nur offensichtlich nicht aus, sich schon im Voraus mit möglichen Situationen zu beschäftigen. Außerdem setzt die konkrete Abwägung voraus, dass die grundsätzlichen Gebote und Abwägungsregeln vorher bekannt sind. So hatte sich Josef, als er der Frau seines Vorgesetzten den außerehelichen Kontakt verweigerte (1Mose 39, 7-12), nicht erst in der Situation entschieden, sich an Gottes Verbot des Ehebruches zu halten („Wie sollte ich dieses große Unrecht tun und gegen Gott sündigen?“, 1Mose 39,9), auch wenn sein Entschluss dies zu tun, erst in der konkreten Versuchungssituation wirklich zum Tragen kam.

Gibt es nichts Falsches an sich?

Wenn Robinson den Begriff ‘Liebe’ aus dem Christentum entlehnt, muss er ihn auch mit christlichem Inhalt füllen und nicht als Worthülse verwenden

Am deutlichsten ist die Aussage von Robinson: „Denn es gibt nichts, was ein für allemal falsch wäre.“.17) Eine solche Aussage ist zunächst einmal absurd. Nach ihr kann niemand leben. Ist Massenvergasung von Menschen also nicht ein für alle mal falsch, sondern kann sie in bestimmten Situationen vom Reich Gottes geboten sein? Gibt es wirklich irgendeinen Menschen, der nach dieser Devise lebt oder leben kann?

Auch für diese Aussage muss wieder die ‘Liebe’ herhalten. Außereheliche Sexualität mag oft Sünde sein, so Robinson, aber nicht immer, „denn die einzige wirkliche Sünde ist der Mangel an Liebe“.18 Wer sagt das? Wer bringt hier plötzlich doch wieder Sünde ins Spiel? Die Bibel, deren Anspruch gerade abgewiesen wurde? Oder nicht der Theologieprofessor, der zwar alle Gebote abschafft, aber das Konzept der Sünde doch gerne weiter zum Jonglieren verwenden möchte? Wenn Robinson den Begriff ‘Liebe’ aus dem Christentum entlehnt, muss er ihn auch mit christlichem Inhalt füllen und nicht als Worthülse verwenden, die alles bemänteln und rechtfertigen kann.

Joseph Fletcher, der 1966 mit seinem Buchtitel ‘Situationsethik’19 das Schlagwort für eine ganze Bewegung lieferte, möchte dabei jedoch nicht als Gegner des Gesetzes verstanden werden:

Die Liebe sei das einzige Gesetz und deswegen sei nur zu tun, was die Liebe gebiete

„Deshalb wehrt Fletcher sich gegen den Verdacht, sein Programm der Situationsethik führe zur Verleugnung des Gesetzes; er will kein ‘Antinomist’ sein.“20 Fletcher versteht die Aussage in Röm 13,10, dass die Liebe die Erfüllung des Gesetzes ist, so, dass die Liebe das einzige Gesetz ist und deswegen nur zu tun sei, was die Liebe gebiete.21 Die Gebote sind also nur gut, wenn sie in einer konkreten Situation die Liebe fördern.22 Überhaupt führt Fletcher häufig Argumente an, die auch von evangelikalen Antinomisten oft zu hören sind, etwa, dass Christen ja den Sabbat nicht mehr halten. Allerdings würden die evangelikalen Antinomisten normalerweise nicht so weit gehen, wie Fletcher, und behaupten:

„Die Situationsethik hat gute Gründe anzunehmen, dass es in bestimmten Situationen geradezu Pflicht ist, eines dieser Gebote oder sogar alle zu brechen.“23

Hier werden also in Wirklichkeit ein neues Gesetz und eine neue Pflicht, die in der Autorität von Theologieprofessoren liegen, eingesetzt, die dazu auffordern, das alte Gesetz und die alte Pflicht, die in der Autorität der Bibel liegen, nicht nur beiseite zu legen, sondern ausdrücklich „zu brechen“, und zwar nötigenfalls sogar „alle“ Gebote.

„Wehe aber euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, Heuchler! Denn ihr verschließt das Reich der Himmel vor den Menschen; denn ihr geht nicht hinein, noch lasst ihr die, welche hineingehen wollen, hineingehen“ (Mt 23,13); „Wehe euch Gesetzesgelehrten! Denn ihr habt den Schlüssel der Erkenntnis weggenommen; ihr selbst seid nicht hineingegangen, und die hineingehen wollten, habt ihr gehindert“ (Lk 11,52).

Bultmann, Barth, Brunner und andere

Klaus Bockmühl hat gezeigt, dass die Situationsethik in aller Deutlichkeit mit den dialektischen Theologen Emil Brunner und Rudolf Bultmann beginnt,24 auf die sich Fletcher am häufigsten beruft. Robinson sieht denn auch in Brunner den ersten Vertreter einer Situationsethik.25

Rudolf Bultmann hat kein eigentlich ethisches Werk geschrieben, aber durch seine Darstellung seiner Sicht der ethischen Auffassungen von Jesus und Paulus in seinen Büchern zum Neuen Testament eine prägende Wirkung gehabt. Er ging davon aus, dass Jesus die Autorität des Gesetzes, ja jede Autorität abgelehnt habe.26 Wahrer Gehorsam könne nie durch Beugung unter ein Gesetz entstehen, sondern nur, wenn der Mensch sich in jeder Situation neu entscheidet. Bultmann fasst das kurz zusammen: „Irgendwelche Maßstäbe aus dem Früher oder dem Allgemeinen gibt es nicht“.27

Gerade die Theologie Rudolf Bultmanns ist von Seiten bibel- und bekenntnistreuer Christen seit Mitte der 60er Jahre zu Recht heftig bekämpft worden. Warum haben jedoch so wenige Kritiker Bultmanns die ethische Dimension der Theologie Bultmanns erkannt und entlarvt? Gehört es nicht zum Kern der Theologie Bultmanns, dass die biblischen Ordnungen durch die Nächstenliebe ersetzt werden, wobei nicht mehr die Schrift, sondern die Theologen definieren, was unter Nächstenliebe fallen darf? Könnte der Grund darin liegen, dass derartige ethische Gedanken auch im bibeltreuen Bereich bereits Eingang gefunden hatten? Selbst Bockmühl, der einerseits gegen die Situationsethik ausgezeichnete Bücher geschrieben hat und deutlich macht: „Die Alternative im Grunde: Herrschaft Gottes oder Autonomie des Menschen“,28 sieht sich auf dem Weg zu einer evangelikalen Situationsethik (die allerdings die Gebote Gottes unangetastet lässt) und schreibt:

„Die ‘neue Moral’ ist eine verständliche Reaktion auf die durch den Verlust der Lehre des Heiligen Geistes verursachte Erstarrung der christlichen Ethik.“29

Wie kann man aber – selbst wenn man ein persönlicheres Element in die Ethik einbringen will – Reaktionen verständlich finden, die Ehebruch und Abtreibung gleichermaßen für in bestimmten Situationen für von Gott geboten halten? ‘Bibelkritik’ hat immer auch und vor allem ethische Konsequenzen. Sie ist nie nur ein Aufstand gegen Gottes Wort allgemein, sondern auch und gerade gegen Gottes Gebote und Schöpfungsordnungen.

‘Bibelkritik’ hat immer auch und vor allem ethische Konsequenzen.

Für Bultmann sind ethische Entscheidungen „nicht durch die formale Autorität der Schrift“30 festgelegt, weswegen Jesus dagegen war, den Willen Gottes „im geschriebenen Gesetz“ zu finden.31) Die Entscheidungen „erwachsen sehr einfach aus der Situation der Entscheidung vor Gott, in die der Mensch gestellt ist“.32 Die klassische Darstellung der Bultmannschen Situationsethik in seinem berühmten Jesusbuch soll wegen ihrer enormen Wirkung ausführlich zitiert werden. (Bultmann beschreibt hier Jesu Sicht, wobei er seine Sicht Jesus rückwirkend in den Mund legt. Bultmann liest seine Ethik nämlich in Jesus hinein und wechselt oft von einer Darstellung der Sicht Jesu zu grundsätzlichen ethischen Thesen über.)

Bultmann definiert Liebe neu und trennt sie völlig von jedem Gebot und jedem Maßstab.

„Was aber bedeutet dann die Einsichtigkeit der Forderungen Gottes? Sie werden dem Menschen nicht durch die formale Autorität der Schrift gegeben (dann wären sie ja nicht einsichtig), sie erwachsen aber auch nicht aus einem Idealbild von Mensch und Menschheit! Sie sind in einer allgemeinen ethischen Theorie nicht zu entwickeln! Woher also werden sie genommen? Nun, sie erwachsen sehr einfach aus der Situation der Entscheidung vor Gott, in die der Mensch gestellt ist. Diese Antwort hat natürlich nur für den Sinn, der den Menschen, der sich selbst, in diese Situation der Entscheidung gestellt sieht. Ihr Sinn ist ja eben der, dass dieser Moment der Entscheidung alles enthält, was für die Entscheidung notwendig ist, sofern in ihm das Ganze der Existenz auf dem Spiele steht, und sofern er doch ein isolierter Moment ohne Kontinuität mit allem Vorangegangenen ist, so dass in ihm die Betrachtung menschlichen Lebens und menschlicher Entwicklung unter dem Gesichtspunkt der Kontinuität, die sonst irgendwann – nämlich wenn der Mensch als Zuschauer gedacht ist – ihren guten Sinn haben mag, dass sie hier aufgehoben ist. Der Moment der Entscheidung ist die Situation, in der alles Zuschauertum aufgehoben ist, die nur unter das Jetzt gestellt ist. Jetzt gilt es zu wissen, was zu tun und zu lassen ist, und irgendwelche Maßstäbe aus dem Früher oder aus dem Allgemeinen gibt es nicht. Das bedeutet Entscheidung.“33

Dabei definiert Bultmann Liebe neu und trennt sie völlig von jedem Gebot und jedem Maßstab, und das, obwohl er andernorts ausdrücklich betont, dass Liebe kein Gefühl und kein Affekt34 ist, sondern „Liebe das Opfer des eigenen Willens für das Wohl des anderen im Gehorsam gegen Gott bedeutet“.

„Die Liebesforderung bedarf keiner formulierten Bestimmungen … Der Verzicht auf jegliche Konkretisierung des Liebesgebotes durch einzelne Vorschriften zeigt, dass Jesu Verkündigung des Willens Gottes keine Ethik der Weltgestaltung ist. Vielmehr ist sie als eschatologische Ethik zu bezeichnen, insofern sie nicht auf eine innerweltliche Zukunft … blickt, sondern den Menschen nur in das Jetzt der Begegnung mit dem Nächsten weist.“35

Die Argumentation der Ethik der dialektischen Theologie ist ziemlich einheitlich und mit der Bultmanns meist identisch. Ernst Wolf schreibt etwa:

„Gottes Gesetz hat nicht die Form zeitlos gültiger Moralgesetze, sondern es spricht sich aus in der jeweiligen geschichtlichen Begegnung seines Evangeliums mit den Menschen in ihrer Vorfindlichkeit.“36

Noch deutlicher wird dies bei den Vätern der dialektischen Theologie selbst.37 Karl Barth,38 Emil Brunner und Dietrich Bonhoeffer haben wegweisende ethische Überlegungen zusammengetragen, und wenn man ihre Ethikentwürfe liest, klingen sie über ganze Kapitel hin wesentlich biblischer als manches, was von ‘bibeltreuer’ Seite – zumal unter ihren Zeitgenossen – zu lesen ist. Gleichzeitig finden sich jedoch bei ihnen – Bonhoeffer bildet hier teilweise eine Ausnahme39 – flammende Appelle, dass es keine ewig gültigen, absoluten Normen und Gebote gibt und dass eine Ethik, wie sie sie selbst größtenteils betreiben, nicht zulässig ist! Brunner behandelt in seiner Ethik etwa die Zehn Gebote überhaupt nicht! Hintergrund dieses Zwiespalts Brunners40 ist, dass die dialektische Theologie versucht, das Wort Gottes wieder zu Gehör zu bringen, ohne dabei der historisch-kritischen Methode eine Absage zu erteilen.41

Karl Barth lehnt universal gültige Gebote ab.

Karl Barth lehnt etwa universal gültige Gebote ab, weil Gott dem Einzelnen in der konkreten Situation seinen Willen mitteilen kann.42 Sicher passt diese Lehre nicht dazu, dass er auf Hunderten von Seiten danach fragt, wie die christliche Ethik zu einzelnen Fragen steht. Aber da diese Lehre in Barths Schriftverständnis fußt, ist sie trotz allem das tragende Element. Barth beruft sich eben immer nur solange auf biblische Gebote, solange es ihm angemessen erscheint. Ein prinzipielles Unterstellen unter eine göttliche Offenbarung für alle Menschen kennt er nicht.

Wer auf Gottes Gebote in der Bibel hört, sei Gott unter Umständen ungehorsam

Karl Barth sieht jede Offenbarungsethik als „kasuistische43 Ethik“ an und lehnt sie als solche ab.44 Barth hat trotz aller Übereinstimmung mit vielen Aussagen Brunners, insbesondere dessen Ablehnung einer Ethik der ewigen Gebote, Brunner den Vorwurf gemacht, doch zuviel von göttlichen‘Ordnungen’ in der ‘Wirklichkeit’ zu finden, damit also letztlich wieder ein Naturrecht zu haben, das an die Stelle biblischer Gebote tritt.45 Womit begründet er aber selbst seine umfangreichen ethischen Stellungnahmen in seinem mehrbändigen Hauptwerk, der ‘Kirchlichen Dogmatik’, wenn nicht mit exegetischen Ausführungen?

Emil Brunner selbst schreibt:

„Da das Gebot Gottes unbedingt konkret ist, kann es nicht allgemein formuliert werden.“46

Auch hier geht es also um eine Situationsethik, die die Gebote Gottes relativiert oder sogar ihr Gegenteil fordert.

Brunner schreibt:

„Darum gibt es kein Vorauswissen dessen, was Gott fordert. Gottes Gebot kann nur in der Aktualität des Hörens vernommen werden. Es wäre ein Abbrechen vom Gehorsam, wollten wir uns das Gebot Gottes als ein ein für allemal gegebenes denken, das wir dann von Fall zu Fall zu interpretieren hätten.“47

Ähnlich wie später Fletcher legt Brunner also Gottes Gebote nicht nur beiseite, sondern hält Vertreter einer Offenbarungs- und Ordnungsethik für Menschen, die Gott ungehorsam sind. Wer also auf Gottes Gebote in der Bibel hört, ist Gott unter Umständen ungehorsam! Warum zitiert Brunner diese Gebote denn dann überhaupt noch?

Hinter Brunners Ethik steht natürlich sein Schriftverständnis,48 wie das folgende Zitat deutlich macht:

„Wohl erkennen wir Gottes Liebe in seinem Tatwort in der Heiligen Schrift. Aber dieses geschehene Wort ist uns nur durch sein jetzt geschehenes Wort als sein Wort, Jesus ist nur durch den heiligen Geist als der Christus, als ‘mein Herr’ zu erkennen. Das gilt aber nicht nur für die Erkenntnis dessen, was Gott für uns will, sondern auch dessen, was er von uns will.“49

Welche Funktion haben denn dann die biblischen Gebote überhaupt noch? Warum wurden sie überliefert?

„Was aber ist denn der Sinn und die Funktion der einzelnen biblischen ‘Gebote’, sei es des Dekalogs50) oder der Bergpredigt? … Sie sind Zeugnisse seiner Offenbarung, wie alles in der Schrift, aber als solche, indirekt, selbst Offenbarung. Sie sind es dann, wenn der Geist den Buchstaben lebendig macht. In seinen Geboten, wie in seinen Verheißungen, zeigt uns Gott, wer er ist und was er will. … Die Gebote … sind gottgegebene Paradigmata des Liebens, an denen er unser Verständnis des einen Liebesgebotes üben will.“51

Auch wenn man Brunner einmal folgt, dass die Gebote nicht selbst Offenbarung sind, sondern nur diese bezeugen, stellt sich die Frage, ob die Gebote selbst den Eindruck erwecken, nur gelegentlich befolgt werden zu wollen. Wird der Ehebruch nur verboten, damit wir an diesem Paradigma lernen, wann man aus Liebe die Ehe brechen kann? Hier wird doch der Bibeltext selbst bis zur Unkenntlichkeit verbogen. Es wäre ehrlicher, wenn Brunner zugeben würde, dass seine Theorie mit dem Bibeltext nichts zu tun hat, anstatt diesen in sein Schema zu pressen.

Gott ist nach Brunners Meinung „in Sachen Ehe barmherziger als landläufige theologische Ethik“.

Gegen die Berufung auf einzelne Bibeltexte zur Ehe wendet Brunner ein, dass dies ein „biblizistisches Verfahren“ sei, das „von einer unevangelischen, gesetzlichen Auffassung der Bibelautorität“52 zeuge. Die „theologische Ehemoral“ ist für ihn „die Stelle, wo alle protestantische Ethik täuferisch und katholisch blieb, wo sie die Bergpredigt als ‘Gesetz’ anwandte“.53 Gott ist seiner Meinung nach „in Sachen Ehe barmherziger als landläufige theologische Ethik“.54

Es ist deswegen kein Wunder, dass Gustav Heinemann, der als Justizminister die Beseitigung grundlegender christlicher Werte in den Gesetzen der Bundesrepublik Deutschland einleitete (Abschaffung des Gotteslästerungsparagraphen, Teilfreigabe von Pornographie, Homosexualität, Ehebruch, Abtreibung usw.), Schüler der dialektischen Theologen und von Karl Barth war und sich als Christ darauf berief, dass es keine für alle Nichtchristen verbindlichen christlichen Gebote gäbe.55 Die ‘Ausmistung’ der Zehn Gebote aus dem deutschen Gesetz wurde nicht vorrangig von Atheisten eingeleitet und bewerkstelligt, sondern von christlichen Situationsethikern.

Oft sind die protestantischen Kirchen in ihren unmoralischen Forderungen weiter fortgeschritten, als die Gesellschaft als Ganzes.

Es ist eines der Grundprobleme der deutschsprachigen Länder, dass ihre großen protestantischen Kirchen für den moralischen Zerfall in der Gesellschaft wesentlich mitverantwortlich sind, ja oft die Kirche in ihren unmoralischen Forderungen weiter fortgeschritten ist als die Gesellschaft als ganzes. So finden bereits die ersten ‘evangelischen’ Trauungen Homosexueller statt, wenn auch noch ohne kirchenamtliche Genehmigung, ein Vorgang, der im Bereich der Politik längst noch nicht durchsetzbar wäre. Nicht zu Unrecht beklagen sich wertkonservative Politiker in Deutschland, dass sie nicht nur keine Unterstützung bei den evangelischen Kirchen finden, sondern diese ihnen oft in den Rücken fallen.

Karl-Heinz Bormuth schreibt zusammenfassend über Bultmann, Barth, Brunner und Bonhoeffer:

„Ergebnis dieser Theologie ist also im ethischen Bereich, dass die Welt ihren eigenen Gesetzen folge und getrost folgen dürfe.“56

Er zitiert Dorothee Sölle als klassische Formulierung der Situationsethik:

„In der Verkündigung Jesu ist das erste immer die Situation, in der Menschen leben … Der Mensch muss selber entscheiden, was zu tun ist, er ist nicht der Erfüller von aufgetragenen Befehlen“.57

Der Theologe Reinhard Schinzer bringt alles auf einen Nenner, indem er seinen ethischen Entwurf kurzerhand ‘Ethik ohne Gesetz’58 nennt.

Die Verwerfung des Gesetzes

Demgegenüber betont das Wort Gottes selbst: „Wenn keine Offenbarung da ist, verwildert ein Volk; aber wohl ihm, wenn es das Gesetz beachtet!“ (Spr 29,18; vgl. Jes 30,8-13). Wer der Meinung ist, dass es Gott in seinen Geboten nur um Empfehlungen oder zeitbedingte Normen geht, der sollte nicht vergessen, wie Paulus das Verbot vorehelicher sexueller Beziehungen begründet (1Thess 4,1-5). Warum soll der Mensch in der Heiligung leben und sich der Unzucht enthalten? Antwort: „Denn der Herr ist ein Rächer in all diesen Dingen, wie wir es euch auch schon vorher gesagt und ernstlich bezeugt haben. Denn Gott hat uns nicht zur Unreinheit berufen, sondern zur Heiligung. Deshalb gilt nun, dass jemand, der dies verwirft, nicht einen Menschen verwirft, sondern Gott, der in euch auch seinen Heiligen Geist gibt“ (1Thess 4,6-8).


  1. Klaus Bockmühl. Gott im Exil? Zur Kritik der ‘Neuen Moral’. Aussaat Verlag: Wuppertal, 1975. S. 175 

  2. Martin Luther. Evangelium und Leben. Martin Luther Taschenausgabe. B. 4. Evangelische Verlagsanstalt: Berlin, 1983, S. 41 (aus der Schrift ‘Sermon von den guten Werken’ von 1520 

  3. Dietrich Bonhoeffer. Ethik. Chr. Kaiser: München, 1949. S. 214 

  4. Ebd. S. 215 

  5. Vgl. zur Kritik der Situationsethik außer den im Folgenden genannten Autoren Erwin Lutzer. Measuring Morality: A Comparison of Ethical Systems. Probe Ministries Int.: Dallas (TX), 1989. S. 29-44; James I. Packer. “Situations and principles”. S. 151-167 in: Bruce Kaye, Gordon Wenham (Hg.). Law, Morality and the Bible. Inter-Varsity Press: Leicester, 1978. Helmut Weber. Allgemeine Morallehre: Ruf und Antwort. Verlag Styria: Graz, 1991. S. 124-125 sieht die Wurzeln der Situationsethik im mittelalterlichen “nominalistischen Voluntarismus” (ebd. S. 124), im Individualismus der neuzeitlichen Philosophie und im naturwissenschaftlich-technischen Denken (vgl. zur Situationsethik aus katholischer Sicht ebd. S. 123-136). 

  6. John A. T. Robinson. Gott ist anders. Chr. Kaiser: München, 19648. S. 109-125; vgl. dazu Klaus Bockmühl. Glauben und Handeln: Beiträge zur Begründung evangelischer Ethik. Brunnen Verlag: Gießen, 1975. S. 35ff 

  7. John A. T. Robinson. Christliche Moral heute. Chr. Kaiser: München, 1964. S. 43 

  8. Ebd. S. 40-41 

  9. Klaus Bockmühl. Gott im Exil? a. a. O. S. 17 

  10. John A. T. Robinson. Gott ist anders. a. a. O. S. 18 

  11. Ebd. S. 119 

  12. Paul Tillich. Der Protestantismus: Prinzip und Wirklichkeit. Schriften zur Zeit. Stuttgart, 1950. S. 202 

  13. Klaus Bockmühl. Gott im Exil? a. a. O. S. 27 

  14. John A. T. Robinson. Gott ist anders. a. a. O. S. 115 

  15. Ebd. S. 114 

  16. Dies zeigt besonders gut James I. Packer. “Situations and Principles”. S. 148-156 in: David K. Clark, Robert V. Rakestraw. Readings in Christian Ethics. Vol. 1: Theory and Method. Baker Books: Grand Rapids, 1994. 

  17. Ebd. S. 122 (Hervorhebung hinzugefügt 

  18. Ebd. S. 122 

  19. ‘Situation Ethics’; deutsch: Joseph Fletcher. Moral ohne Normen. Mohn: Gütersloh, 1967; vgl. Joseph Fletcher. Leben ohne Moral. Mohn: Gütersloh, 1969 

  20. Joseph Fletcher. Moral ohne Normen. a. a. O. S. 55 

  21. Vgl. ebd. S. 94 

  22. Vgl. ebd. S. 55-56 

  23. Zitiert nach ebd. S. 59 

  24. Ebd. S. 115-122 

  25. John A. T. Robinson. Gott ist anders. a. a. O. S. 120 

  26. Vgl. die Berufung darauf bei Joseph Fletcher. Moral ohne Normen. a. a. O. ebd. S. 118 

  27. Zitiert nach ebd. S. 119 

  28. Kapitelüberschrift in Klaus Bockmühl. Gott im Exil? a. a. O. S. 192 

  29. Ebd. S. 216 

  30. Rudolf Bultmann. Jesus. Die Unsterblichen Band 1. Deutsche Bibliothek: Berlin, 1926. S. 82. Allerdings widerspricht sich Bultmann hier in seiner Jesusdarstellung, wenn er gleichzeitig schreibt: “Jedenfalls stimmt Jesus mit den Schriftgelehrten seiner Zeit darin überein, dass die Autorität des (alttestamentlichen) Gesetzes für ihn selbstverständlich ist” (S. 59) und “Jesus hat nicht das Gesetz bekämpft, sondern er hat es, dessen Autorität für ihn selbstverständlich war, erklärt” (S. 60), selbst wenn er sogleich hinzufügt, dass seine “Erklärung den ursprünglichen Sinn des Gesetzes oft sprengte” und sein “Verhalten dem Gesetz gelegentlich widersprach” (S. 60). Ähnlich schreibt er in Rudolf Bultmann. Theologie des Neuen Testaments. J. C. B. Mohr: Tübingen, 1953 über die ‘hellenistische Kirche’: “Das alttestamentliche Gesetz gilt als erledigt, soweit und sofern es kultisch-rituelle Forderungen enthält” (S. 113); “Soweit das AT sittliche Gebote enthält und sofern solche aus ihm mit Hilfe der Allegorese herausgelesen werden, bleibt seine Autorität – von der radikalen Gnosis abgesehen – in unbestrittener Geltung” (S. 117). 

  31. Ebd. S. 10 (Bultmann vermerkt hier zu Recht, daß Jesus oft gegen die Tradition verstieß, meint damit aber nicht nur die jüdische Tradition, sondern auch die Heilige Schrift selbst. 

  32. Rudolf Bultmann. Jesus. a. a. O. S. 82-83 

  33. Ebd. S. 82-83 

  34. Rudolf Bultmann. Theologie des Neuen Testaments. Ebd. S. 108-109 

  35. Ebd. S. 18 

  36. Ernst Wolf. Sozialethik: Theologische Grundfragen. UTB. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen, 19883. S. 88 

  37. Vgl. bes. die Kritik in Karl-Heinz Bormuth. Alte Gebote und neue Moral. Verlag der Francke-Buchhandlung: Marburg, 1972. bes. S. 11-15 

  38. Vgl. John Webster. Barth’s Moral Theology: Human Action in Barth’s Theology. WM. B. Eerdmans: Grand Rapids (MI), 1988 und die Stellunganhme dazu von Robert Letham. Westminster Theological Journal 66 (1999) 1: 137-140 

  39. Vgl. dazu Georg Huntemann. Der andere Bonhoeffer: Die Herausforderung des Modernismus. Brockhaus: Wuppertal, 1989. In seiner ausgezeichneten theologisch-ethischen Auslegung der ersten vier Kapitel der Bibel Dietrich Bonhoeffer. Schöpfung und Fall: Theologische Auslegung von Genesis 1-3. Chr. Kaiser Verlag: München, 1933 geht Bonhoeffer jedoch vom “naiven Weltbild” des Verfassers aus, das uns heute “absurd” erscheint, wobei sich der „Autor mit seiner ganz zeitbegrenzten Erkenntnis bloßstellt“ (alles ebd. S. 22). Nirgends diskutiert er, wie denn seine theologischen richtigen Argumente (vielleicht mit Ausnahme der Spekulation zum Verhältnis von Gut und Böse S. 47) zu halten sind, wenn sie auf einem absurden Fundament stehen. 

  40. So Klaus Bockmühl. Christliche Lebensführung: Eine Ethik der Zehn Gebote. TVG. Brunnen: Gießen, 1993. S. 30-31 kritisch zu Emil Brunner. Das Gebot und die Ordnungen. Zwingli Verlag: Zürich, 1932 

  41. Vgl. diese Kritik an Karl Barth bei Georg Huntemann. „Ideologische Unterwanderung der Theologie? Das Beispiel Karl Barth“. Fundamentum 1/1987: 18-36 (auch abgedruckt in Georg Huntemann. Ideologische Unterwanderung in Gemeinde, Theologie und Bekenntnis. VLM: Bad Liebenzell, 1985), bei Cornelius van Til. Christianity and Barthianism. Presbyterian and Reformed: Phillipsburg (NJ), 1962 und bei Klaus Bockmühl. Atheismus in der Christenheit. Brunnen Verlag: Gießen, 1969. 

  42. Vgl. die Kritik dieser Aussage Barths bei M. T. O’Donovan. „The Possibility of a Biblical Ethic“. Theological Students Fellowship Bulletin 67 (1973): 15-23 und Walter C. Kaiser. Towards Old Testament Ethics. Zondervan: Grand Rapids (MI), 1983. S. 24-25 

  43. Von lat. ‘casus’, der Fall; bezeichnet eine Ethik, die das Gesetz an konkreten Beispielen erläutert oder Entscheidungen für konkrete Situationen fällt; hier im Sinne eines Gesetzes, das für konkrete Situationen gilt. 

  44. Karl Barth. Die Lehre von der Schöpfung. 4. Teil. Die Kirchliche Dogmatik. Bd. 3 (Teil 4). Ev. Verlag: Zollikon, 19572. S. 5-15 

  45. Ebd. S. 20-21 

  46. Emil Brunner. Das Gebot und die Ordnungen. Zwingli Verlag: Zürich, 19394. S. 102 

  47. Ebd. S. 106 

  48. Vgl. dazu meinen oben genannten Beitrag 

  49. Ebd. S. 103 

  50. Von griech. ‘deka’ = ‘zehn’ und ‘logos’ = ‘Wort’, also die Zehn Worte (= die Zehn Gebote 

  51. Ebd. S. 119-120 

  52. Beides ebd. S. 325 

  53. Ebd. S. 325, Anm. 1 

  54. Ebd. S. 339 

  55. Walter Künneth. Der Christ als Staatsbürger. TVG. R. Brockhaus: Wuppertal, 1984. S. 56 macht Heinemann zu Recht als Barthschüler für die Einleitung der Aufweichung des Strafrechts verantwortlich. 

  56. Karl-Heinz Bormuth. Alte Gebote und neue Moral. a. a. O. S. 11-12 

  57. Zitiert nach ebd. S. 20 

  58. Reinhard Schinzer. Ethik ohne Gesetz. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen, 1986