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Die Offenbarung Gottes als Fundament der christlichen Ethik

Was ist die Grundlage von Moral und Ethik? Kann der Mensch hier selbst bestimmen und setzen wonach er handeln will, oder gibt es eine klare Weisung Gottes, die das menschliche Handeln lenken soll?

Wir lesen 2. Mose 24,12-13: „Und der HERR sprach zu Mose: Komm herauf zu mir auf den Berg und bleib daselbst, dass ich dir gebe die steinernen Tafeln, Gesetz und Gebot, die ich geschrieben habe, um sie zu unterweisen. Da machte sich Mose auf mit seinem Diener Josua und stieg auf den Berg Gottes …“ V. 15-18: „Als nun Mose auf den Berg kam, bedeckte die Wolke den Berg, und die Herrlichkeit des HERRN ließ sich nieder auf dem Berg Sinai, und die Wolke bedeckte ihn sechs Tage; und am siebenten Tage erging der Ruf des HERRN an Mose aus der Wolke. Und die Herrlichkeit des HERRN war anzusehen wie ein verzehrendes Feuer auf dem Gipfel des Berges vor den Israeliten. Und Mose ging mitten in die Wolke hinein und stieg auf den Berg und blieb auf dem Berge vierzig Tage und vierzig Nächte.“ 2. Mose 31,18: „Und als der HERR mit Mose zu Ende geredet hatte auf dem Berge Sinai, gab er ihm die beiden Tafeln des Gesetzes; die waren aus Stein und beschrieben von dem Finger Gottes.“

1. Ein Blick in die abendländische Geistesgeschichte

Es war über viele Jahrhunderte die einhellige Überzeugung im sogenannten christlichen Abendland, dass das Recht in den zehn Geboten gründet, die Gott Israel am Sinai gegeben hatte. Diese Überzeugung wurde sowohl vom Katholizismus als auch von den Kirchen der Reformation geteilt. Sie bedeutete nicht, dass das Abendland das Paradies auf Erden gewesen wäre. Im Gegenteil: vom christlichen Abendland wurde der Name Gottes zur Unterdrückung von Menschen missbraucht zur Rechtfertigung grausamer Kriege, zur blutigen Niedermetzelung von Eingeborenenstämmen in Lateinamerika; im christlichen Abendland wurde gestohlen, gelogen, gemordet, verleumdet, geheuchelt und unter einer bisweilen erschreckend dünnen christlichen Firnis Abgötterei getrieben. Ich habe hier vor allem den Katholizismus vor Augen, der mit der Gewalt von Waffen, Inquisition und Scheiterhaufen seine Macht abzusichern verstand. Aber auch der Protestantismus ist von diesen Vorwürfen nicht gänzlich freizusprechen. Gleichwohl wurden die zehn Gebote in ihrer Autorität als Wort Gottes nicht infrage gestellt. Sie wurden als Grundlage der öffentlichen Gesetzgebung anerkannt und als Orientierungsdatum für das menschliche Verhalten akzeptiert. Und dort, wo Menschen wirklich das Evangelium hörten und glaubten, konnten ganze Landstriche Gottes Segen erfahren durch Freiheiten, von denen wir heute nur noch träumen können. Ich meine damit, dass das menschliche Miteinander von Vertrauen geprägt war, das ohne einen christlichen Grundkonsens zerbrechen muss – man denke hier etwa an den Grundsatz von Treu und Glauben im Geschäftsleben, an den Schutz der Wahrheit durch den Eid, an die Geltung eines gegebenen Versprechens und anderes mehr. In der Zeit der Aufklärung wandte sich das sogenannte christliche Abendland der Natur zu. Man meinte, Gott in der Natur erkennen zu können, man sprach von einer Naturordnung und dem Naturrecht, und aus der Natur wurde die Moral abgeleitet. Immerhin: Die Moral wurde an der Wirklichkeit abgelesen, die wir Schöpfung nennen. Aber man hörte nicht mehr auf die Bibel als Gottes Wort, man bezog das Gesetz nicht mehr aus der Offenbarung, sondern meinte, die Essenz der Bibel in der Natur bzw. im natürlichen Denken finden zu können. Damit war eine Weiche gestellt: Gott wurde mehr und mehr ausgeklammert und die Natur in demselben Maße als die einzige Wirklichkeit angesehen. Dies wurde im sogenannten Positivismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die gängige Weltsicht. Für ihn gab es nur eine Wirklichkeit: die diesseitige. Die Vorstellung, dass ein Gott im Himmel sei, der sich offenbare und dass die zehn Gebote von Gott gegeben seien, passte nicht in dieses Weltbild.

Die gegenwärtige Zeit ist der Ansicht, dass Menschen die Werte und Normen, nach denen sie leben, selbst gebildet hätten

Die gegenwärtige Zeit ist der Ansicht, dass Menschen die Werte und Normen, nach denen sie leben, selbst gebildet hätten. Das ist sozusagen eine Grundsicht, die alle modernen Denker teilen. Dieses Denken entspricht einem Wirklichkeitsverständnis, das ohne Gott auskommt. Das Reden von einem persönlichen Gott wird als bildhafte oder metaphorische Äußerung angesehen. Dann kann es zwar eine nicht näher beschreibbare göttliche Kraft geben, die in der Welt wirkt, aber keinen persönlichen Gott, der redend und handelnd in diese Welt eingreift. Die Folge für die Ethik ist: Sie kann nicht von Gott offenbart sein, weil es keinen persönlichen Gott gibt. Moral, ethische Werte sind willkürliche menschliche Setzungen. Sie haben ihren Ursprung im menschlichen Bewusstsein, in den menschlichen Bedürfnissen und im menschlichen Wollen. Die christliche Ethik entstamme dem christlichen Selbst- und Weltverständnis, und dies sei ein subjektive Anschauung, die nicht für andere verbindlich gemacht werden könne. Diese (immer subjektiven) Wertvorstellungen müssten in die Diskussion, in den demokratischen Diskurs, eingebracht werden. Die demokratischen Organe – der Staat mit seinen Parlamenten und anderen Rechtsinstitutionen (z.B. Gerichten) – setzten die Wertvorstellungen durch demokratischen Beschluss in geltendes Recht um. So kommen Werte durch Übereinkünfte, zustande. Und diese Konventionen sind wandelbar.

Heute werden diejenigen ange-feindet oder bestraft, die etwas gegen Homosexualität sagen

Konsequenterweise ist auch die Moral, das Empfinden, für das, was recht ist, wandelbar. Wir erleben das vor unseren Augen. In den sechziger Jahren wurden noch Menschen wegen homosexueller Praktiken mit Zuchthaus bestraft. Heute werden diejenigen angefeindet oder bestraft, die etwas gegen Homosexualität sagen.

Der Philosoph Friedrich Nietzsche hat in seiner Schrift Also sprach Zarathustra (1883-1885) den Übermenschen als „ethisches“ Ideal vorgestellt – falls man hier überhaupt noch von Ethik sprechen kann. Es ist dies der ungehemmt starke Mensch, der sein Leben voll bejaht und entfalten kann. Dazu sei es nötig, die Engherzigkeit und Selbstbescheidung des Menschen, ja überhaupt die christliche Mitleidsmoral abzulegen. Gut sei alles, was das starke, gesunde, sich entfaltende, pulsierende Leben ermögliche und bejahe. In seiner Schrift Zur Genealogie der Moral (1887) behauptet er, es gebe zwei Formen der Moral: eine Herrenmoral, die die egoistischen und lebensfrohen Instinkte des Menschen bejahe, und eine Sklavenmoral, die lebensverneinende Werte wie Gleichheit, Mitleid, Askese und Frieden vertrete. Die Priester hätten diese letztere organisiert; sie sei zu einer fast ausschließlichen Herrschaft gelangt. Diese Moral sei dekadent. Sie komme aus dem Ressentiment gegen das gesunde Leben. Hier finden wir eine sehr geräuschvoll vorgetragene Form der Selbstverwirklichung aus einer Zeit, in der die alte, feudale Gesellschaftsordnung und der christliche Wertekonsens noch bestanden. Offen wird Kritik an der christlichen Ethik geübt: massiv, sehr von oben herab, jenseits aller Liebe. Praktisch scheidet sie die Menschheit in diejenigen, die sich der Herrenmoral bedienen können, und jene, die aufgrund ihrer mangelhaften persönlichen und sozialen Ausstattung das Pech haben, zu kurz gekommen zu sein. Im übrigen war Nietzsche Nihilist. Er war der Meinung, dass es keinen Gott gebe, und hatte keinen Punkt im Universum, von dem er Werte hätte ableiten können. Infolgedessen bleibt ihm nur die Verwirklichung seiner selbst bzw. des Herrenmenschen. In unserem Jahrhundert hat vor allem die Frankfurter Schule die christliche Ethik kritisiert. Typisch der Slogan der 68er Studentenrevolte: „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Dieser Satz entspricht zutiefst dem Denken der Frankfurter Schule. Sie machte die subjektiv empfundenen menschlichen Bedürfnisse, besonders den Sexualtrieb, zu dem Element, das das Wesen des Menschen ausmacht. Damit wird der Mensch in seiner natürlichen Triebhaftigkeit verabsolutiert. Herbert Marcuse, einer der Vertreter dieser Schule meinte, dass die gesellschaftlichen Strukturen gegenüber der Verwirklichung dieser inneren Anlage repressiv seien und der Verwirklichung des Selbst entgegenstehen. Im Rückgriff auf die Psychologie Freuds machte er ausdrücklich die menschliche Sexualität zum Instrument der gesellschaftlichen Befreiung, der Revolution. Dagegen übte er Kritik an den Normen der bürgerlichen Gesellschaft. Indem diese auf Werte wie Pflicht, Fleiß, Zuverlässigkeit, Ordnung und Selbstbeherrschung dränge, entfremde sie den Menschen seiner selbst. Sie zwinge ihn in ein Korsett, das seiner inneren Anlage entgegenstehe.

Selbstverwirklichung wurde nun als Leitziel der Ethik dargestellt

Dagegen wurde nun die Selbstverwirklichung als Leitziel der Ethik dargestellt. Der Mensch solle in einer Gesellschaft, die frei von Repression und Diskriminierung sei (will sagen: in einer Gesellschaft, in der die Grenzen christlicher Moral nicht mehr gelten) frei er selbst sein und seinen Anlagen entsprechend sich entfalten können: der Homosexuelle als Homosexueller, der Heterosexuelle als Heterosexueller. Der Jugendliche solle frei seinem Recht auf Lust entsprechen können, der Verheiratete selbstverständlich auch – in der Ehe, aber ebensogut außerhalb. Erlaubt sei, was Spaß macht, solange es dem Nächsten nicht schadet. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der gegenwärtige Mensch im Selbstbezug lebt. Sein Blick ist auf sich selbst, auf seine Wünsche und Bedürfnisse gerichtet, aus denen er ableitet, wer er ist und was er will. Das ist die aktuelle Situation, das Denken der Postmoderne.1

2. Gott gab sein Gesetz am Sinai

Die Bibel ist sehr klar in der Aussage, dass die zehn Gebote aus der Hand Gottes kommen. Mose empfing die zwei Steintafeln, auf denen Gott sie eingraviert hatte, direkt von Gott. Er bezeugt dies in seinem fünften Buch und erinnert das Volk Gottes an diese Begebenheit am Sinai: 5Mo 4,9-13: „Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang. Und du sollst deinen Kindern und Kindeskindern kundtun den Tag, da du vor dem HERRN, deinem Gott, standest an dem Berge Horeb, als der HERR zu mir sagte: Versammle mir das Volk, dass sie meine Worte hören und so mich fürchten lernen alle Tage ihres Lebens auf Erden und ihre Kinder lehren. Da tratet ihr herzu und standet unten an dem Berge; der Berg aber stand in Flammen bis in den Himmel hinein, und da war Finsternis, Wolken und Dunkel. Und der HERR redete mit euch mitten aus dem Feuer. Seine Worte hörtet ihr, aber ihr saht keine Gestalt, nur eine Stimme war da. Und er verkündigte euch seinen Bund, den er euch gebot zu halten, nämlich die Zehn Worte, und schrieb sie auf zwei steinerne Tafeln.“ Mit diesen Worten sagt die Bibel: Die christliche Ethik kommt aus der Offenbarung Gottes und Israel war Zeuge dieser Offenbarung.

2.1. Das Problem mit der Offenbarung

Der aufgeklärte Mensch will nicht glauben, was andere ihm sagen, sondern selbst sehen

Indem wir sagen, christliche Ethik komme aus der Offenbarung, stellen wir formal eine Behauptung auf. Unser Mitbürger hält sie für eine subjektive religiöse Ansicht, die keine Verbindlichkeit beanspruchen könne. Wir stehen in Beweisnot. Wir empfinden das Problem, nicht beweisen zu können, dass es so ist, dass Gott Mose auf dem Sinai die Gesetzestafeln gegeben hat. In der Forderung nach dem Beweis tritt uns der aufgeklärte Mensch entgegen, der sich selbst für so wichtig nimmt, dass er nichts annehmen kann und will, was er nicht durch unmittelbare Anschauung einsieht. Er will nicht glauben, was andere ihm sagen, sondern selbst sehen. Die Bibel behauptet, dass es am Sinai um ein wirkliches Geschehen in Raum und Zeit ging, und dass dieses Geschehen von Gott inszeniert worden ist. Der Beweis wirft vier Probleme auf: ein theologisches, ein geschichtliches, ein biblisch-sachliches und ein erkenntnistheoretisches.

2.1.1. Kann man Gott in seinem Handeln beweisen?

Das theologische Problem: Wir können Gott nicht als solchen vorführen, der Mose die Gesetzestafeln gibt. Wir können ihn nicht sehen oder auf eine andere Art sinnlich wahrnehmen oder experimentell „dingfest“ machen. Was von Gott generell gilt, gilt auch hier: Man kann Gott und sein Handeln nicht beweisen.

2.1.2. Kann man eine geschichtliche Tatsache beweisen?

Das geschichtliche Problem: Wie kann man ein vergangenes Ereignis beweisen? Zum Beispiel: Wie kann man beweisen, dass Caesar den gallischen Krieg geführt hat? Wir können keine Reise in die Vergangenheit machen und den verschiedenen Schlachten beiwohnen. Wir können allenfalls schriftliche Dokumente aus der damaligen Zeit, archäologische Funde miteinander vergleichen und so interpretieren, dass der gallische Krieg als zuhöchst wahrscheinlich aufgewiesen werden kann. Aber wir können nie den Beweis als reproduzierbares Ereignis liefern. Deswegen sind alle Urteile der Geschichtswissenschaften Wahrscheinlichkeitsurteile, wobei freilich der Grad der Wahrscheinlichkeit von der Menge und Qualität der Quellen abhängt. Im Blick auf die von der Bibel berichteten Ereignisse am Sinai haben wir, soweit ich weiß, keine weiteren Quellen, die dieses belegen. Wir haben nur den Bericht der Bibel. Und die Bibelkritik hat, da sie ja historisch arbeitet, viele Argumente hervorgebracht, um die Geschichtlichkeit der Ereignisse am Sinai in Zweifel zu ziehen.

2.1.3. Die Argumente der Bibelkritik als biblisch-sachliches Problem

Die Bibelkritik hat viele Argumente hervorgebracht, um die Geschichtlichkeit der Ereignisse am Sinai in Zweifel ziehen zu können

Die alttestamentliche Kritik sieht in den hier berichteten Geschehnissen Legenden, die den israelitischen Kultus legitimieren sollen. Sie veranschaulichen die Beziehung zu Jahwe, dem Gott Israels, sie sollen die religiösen Gesetze und Ordnungen gewissermaßen begründen, seien aber in keinem Fall als wirkliche Geschehnisse zu verstehen. Sie seien mythologisch. So erscheine das zweite Buch Mose – wie der ganze Pentateuch – als Textmaterial, das erst in der Zeit nach dem Exil seine gegenwärtige Gestalt gefunden habe. In dieses Textmaterial seien verschiedene mündliche und schriftliche Traditionen eingeflossen. Ich spreche hier von der sogenannten Quellenscheidung in den Mosebüchern. Die verschiedenen Quellen oder Traditionsstränge hätten unterschiedliche Absichten verfolgt. Es sei auch nicht klar, wo der Berg, der im 2. Mose als Sinai bezeichnet werde, wirklich gelegen habe; einige Forscher vermuten hier vulkanische Gebirge im westlichen Arabien. Mit diesen Ansichten verschwinden die Dinge, von denen wir in 2. Mose lesen, im Nebel des Sagenhaften. Ihre geschichtliche Wirklichkeit wird nicht mehr erkennbar und als bedeutungslos abgetan. Die Berichte erscheinen so als Mythos, als phantastische Story, die sich so nicht ereignet haben kann. Dann spielt die geschichtliche Grundlage keine Rolle, dann ist es letztendlich doch gleichgültig, ob Gott Mose die Gebote gegeben hat oder nicht.

2.1.4. Wie kann der Mensch Gottes Anspruch erkennen?

Für die moderne Theologie reicht das bloße „Unter-die-Haut-Gehen“ aus, sie braucht die geschichtliche Wirklichkeit nicht

Schließlich stehen wir vor der Frage, wie dem Menschen der Anspruch Gottes einsichtig wird. Die Antwort, die heute sowohl in der neueren Theologie als auch in Teilen des Neupietismus gegeben wird, weist auf ein Erschließungsgeschehen beim Menschen. Gott solle sein Gebot nicht bloß einmal in der Geschichte geben, sondern immer neu und individuell in einem Erschließungsgeschehen zur Geltung bringen. Man erwartet also, dass Gottes Gebot sich auf dem Wege eines plötzlichen und unverfügbaren Eindrucks als gültig erweise und dass der Mensch ganz spontan den darin formulierten Anspruch als Gottes Anspruch erkenne. Das wäre die existentiale Lösung unseres Problems. Aber sie bleibt beim Menschen stecken. Gottes Anspruch läge dann nicht offen im Wortlaut des Gebots, sondern allenfalls verborgen, und er müsste erst vom Menschen erlebt werden, um als Gottes Anspruch erkennbar zu sein. Praktisch würde das bedeuten, dass das Gebot sich als Gottes Gebot erweisen müsste, indem es „unter die Haut geht“. Mit dieser Sicht begegnen sich die moderne Theologie und der Neupietismus. Der Neupietismus glaubt zwar an die geschichtliche Wirklichkeit, aber sie reicht ihm nicht aus; der Text muss gleichwohl auch ihn erst noch besonders beeindrucken. Ich antworte auf diese Probleme und Anfragen: Die Forderung nach einem Beweis ist im Fall der Offenbarung eine unangemessene Forderung. Sie verkennt die Eigenart Gottes, dass man ihn nicht vorführen kann. Sie übersieht die Eigenart der Geschichte, einmalig zu sein und dass Gott tatsächlich den Weg der Geschichte gewählt hat, um sich zu offenbaren. Diese Offenbarung ist ein für allemal und reicht als solche für alle Zeiten aus. Schließlich bedarf sie nicht eine zusätzlichen Wirkens des Heiligen Geistes, um als Gotteswort zur Geltung zu kommen, sondern Gottes Wort selbst schafft sich den Hörer, wann und wo immer Gott es will, und der Mensch versteht es.

2.2. Der Anspruch der Bibel: Offenbarung in der Geschichte

Es ist wesentlich, dass wir erkennen: Gottes Gesetz kommt vom Himmel und wird auf der Erde gegeben. Gott selbst hat es erlassen und auf die zwei Tafeln niedergeschrieben und Mose gegeben. Das klingt nun fast wie im Islam: Der Koran ist im Himmel, in perfektem Arabisch geschrieben, und er ist Mohammed in die Feder diktiert worden. Doch die Parallele ist nur formaler Art. Gottes Gesetzgebung hingegen steht in einem breiten geschichtlichen Zusammenhang. Die Bibel bezeugt die geschichtliche Dimension, in der Gott sein Gebot gegeben hat. Sie zeigt, dass sein Gebot nicht senkrecht vom Himmel gefallen ist und von Israel irgendwo in der Wüste aufgelesen worden ist, sondern sie benennt Zeit und Ort, Personen und Umstände, die allen vor Augen standen. 2Mose 19,1-4 macht deutlich, wie die Offenbarung am Sinai sehr konkret als raumzeitliche beschrieben wird:

  • Die Zeit: Am ersten Tag des dritten Monats
  • Der Ort: Auszug von Rephidim, Ankunft in der Wüste Sinai
  • Das Ereignis: Mose steigt den Berg hinauf.
  • Der Zusammenhang: Israel wird an die vielen unterschiedlichen Zeichen erinnert, die es im Zusammenhang des Auszugs aus Ägypten gesehen hat; die Ereignisse sind in gleicher Weise raumzeitlich.

Diese Konkretionen im Blick auf das Geschichtliche finden wir generell in der Heiligen Schrift. Wenn ich raumzeitlich sage, dann meine ich nicht, dass diese Ereignisse auch ihre Ursachen in Raum und Zeit hätten, so als wären sie rein innerweltlich bedingt. Es sind Ereignisse, die Gott bewirkt hat, die aber doch klar in der raumzeitlichen Wirklichkeit stehen. Gerade mit dem Verweis auf die geschichtliche Seite der Offenbarung gibt Gott auch uns Anlass, zu glauben, dass er damals – und bis in die Zeit Christi – seinem Volk wirklich erschienen ist. Dass wir mit historischen Methoden diese Geschichte nicht „beweisen“ sondern allenfalls Spuren von ihr entdecken können, ist kein Gegenargument. Die biblische Aussage von der Geschichte ist nicht aus der Luft gegriffen, sondern steht durch die Bibel selbst begründet im Raum.

Die geschichtlichen Ereignisse waren zum Teil offensichtliche Wunder

Ich möchte an dieser Stelle herausstellen, dass die Bibel die Geschichtlichkeit dieser Kapitel wie des ganzen Pentateuch lehrt. Der Aufbau des Ganzen sowie die chronologische und sachliche Ordnung ergeben einen guten Sinn, wenn man die einzelnen Aussagen geschichtlich versteht. Damit sage ich zugleich: Gott hat an einer bestimmte Stelle in der alttestamentlichen Offenbarung sein Gesetz gegeben. Die Geschichtlichkeit der Offenbarung ist grundlegend und wesentlich. Das alttestamentliche Gesetz ist nicht Produkt menschlicher Geistigkeit oder menschlicher Religiosität oder religiös-politischen Kalküls. Es ist von Gott selbst gegeben. Wer leugnet, dass die Tafeln von Gott wirklich beschrieben worden sind, wird vermutlich auch alle anderen in Zusammenhang des Auszuges geschehenen Zeichen leugnen. Die geschichtlichen Ereignisse waren zum Teil offensichtliche Wunder: die Auseinandersetzung mit dem Pharao, die Plagen, das Wunder am Roten Meer, Wachteln und Manna, Blitz und Donner am Sinai. Wir haben es mit einer Fülle von Wundern zu tun, die berichtet werden und innerhalb weniger Tage oder Wochen geschehen sind. Sie machen deutlich: Jetzt handelt Gott in der Geschichte. In diesem Zusammenhang steht auch die Gesetzgebung am Sinai. Sie ist Teil des Wunderwirkens Gottes, aber zugleich der sachliche Höhepunkt der alttestamentlichen Offenbarung Gottes. Im Zusammenhang dieser besonderen Offenbarung Gottes stehen die Erweise seiner Heiligkeit – übrigens parallel zum Neuen Testament bei Jesus und in den apostolischen Gemeinden. Ohne diese Wunder würden wir sagen, dass hier ein ganz normales innerweltliches Geschehen abgelaufen wäre. So aber weisen die Zeichen und Wunder das Offenbarungshandeln Gottes aus. Wer die Bibel tadelt, weil sie Wunder berichtet, die in unserer Erfahrungswelt nicht vorkommen, macht eben seine subjektive Erfahrung zum Maßstab für die Bibel. Er kann nicht begründen, mit welchem Recht er dies tut und übersieht die Absicht Gottes, sich selbst in der Geschichte kundzugeben.

2.3. Die Folgerungen

Die Geschichte spricht hier für die christliche Sicht. Die postmoderne Sicht dagegen ist reine Mutmaßung

Wir haben gesehen, wie sich der aus dem Denken der Frankfurter Schule kommende Mensch mit seiner Triebhaftigkeit und seinem Wollen zum Maß des Rechts macht. Das ist die Sicht, die unsere gegenwärtige Kultur prägt. Im zweiten Teil habe ich das biblische Selbstzeugnis dargestellt und seinen Anspruch, Gottes Offenbarung zu sein, betont. Im Licht des modernen Denkens stehen sich hier zwei gegensätzliche Sichtweisen gegenüber; beide sind je auf ihre Art dogmatisch, beide beanspruchen Geltung für das Leben. Die Frage, welche der beiden Sichtweisen die richtige ist, liegt auf der Hand.2 Nach wie vor steht die Tatsache im Raum, dass Gott sich in der Geschichte offenbart hat und dass das mosaische Gesetz wirklich von Gott kommt. Gleiches gilt selbstverständlich auch für das Neue Testament. Die Geschichte spricht hier für die christliche Sicht. Die postmoderne Sicht dagegen ist reine Mutmaßung, ein bloßes Produkt menschlicher Geistigkeit ohne Ausweis in der Geschichte. Ja, der Ausweis, den die gegenwärtige Zeit liefert, ist eine eminente Zunahme von Desorientierung, Sinnlosigkeit, Gewalt, Egoismus und Barbarei.

3. Die Geltung des mosaischen Gesetzes

3.1. Das Hören auf Gottes Wort

Die Freiheit des modernen Menschen wird in eine spezifische Richtung manipuliert: er soll das tun, was ihm Spaß macht

5Mose 4,1: „Und nun höre, Israel, die Gebote und Rechte, die ich euch lehre, dass ihr sie tun sollt, auf dass ihr lebt und hineinkommt und das Land einnehmt, das euch der HERR, der Gott eurer Väter, gibt.“ Israel soll Gottes Gesetz hören. Die Blickrichtung des Menschen ist hier ganz anders als im Denken der Postmoderne. Der Mensch fragt nicht danach, was in ihm aufsteigt sondern nach dem, was Gott sagt. An diesem Gegensatz wird erkennbar, dass jene von der Selbstverwirklichung getragene Lebensweise dem Grundsatz des Sündenfalls entspricht: Der Mensch will sein wie Gott, er will selbst darüber verfügen, was recht und unrecht ist. Mit der Aufforderung zum Hören aber wird der Mensch an den Platz gewiesen, auf den er gehört: den Platz des Geschöpfes. Er soll und kann diese Grenze nicht überspringen.

Im übrigen ist der an der Selbstverwirklichung orientierte Mensch nicht weniger hörig. Er wird gegenwärtig von den Medien in einer Weise fremd bestimmt, dass man nicht mehr von Selbstbestimmung sprechen kann. Er tut, was ihm in den Medien als Wert vorgesetzt wird. Zwar wird ihm ständig suggeriert, er sei frei, er könne sich selbst bestimmen und er könne wählen, was er tun wolle. Theoretisch hat er diese Freiheit auch, denn keine staatliche Gesetzgebung zwingt ihn zum Konsum oder Konsumverzicht, zur Homo- oder Heterosexualität, zur Ehe oder zum Konkubinat, zur Fahrt mit der Bahn oder mit dem Auto. Aber diese Freiheit wird in eine spezifische Richtung manipuliert: Er soll das tun, was ihm Spaß macht. Dies wird ihm in den unterschiedlichsten Varianten vorgeführt, und daran orientiert er sich. Hier zeigt sich die Hörigkeit des Menschen. Der Mensch ist keineswegs frei, sondern er sucht Orientierungsdaten. Das heißt nicht, dass der Mensch eine Marionette sei. Aber er hat keinen beliebigen Entscheidungsspielraum. Um sich entscheiden zu können, braucht er Vorgaben, die es ihm ermöglichen, sinnvoll oder zielgerichtet zu entscheiden. Ob dann die jeweilige Entscheidung richtig ist, bleibt eine offene Frage. Diese Hörigkeit gehört zu seiner Grundausstattung ebenso wie die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Ich spreche jetzt nicht von Prädestination oder der Willensfreiheit, sondern von der geschöpflichen Beschaffenheit des Menschen. In dieser Beschaffenheit sagt ihm Gott: Höre auf mich, auf mein Wort, so wirst Du leben. Das gilt auch und gerade der Welt, die nicht im Glauben steht. Auch ihr ist Gottes Gesetz Orientierung für einen sinnvollen Umgang mit den Dingen, die Gott geschaffen hat.

3.2. Das Gesetz kann uns nicht retten

Es ist grundfalsch, bei den Zehn Geboten stehenzubleiben und Christus und sein Werk nicht richtig für die Ethik bedeutsam werden zu lassen

Nun dürfen wir nicht meinen, mit der bloßen Verkündigung, der Annahme und dem Ausleben des Gesetzes Gottes sei alles geregelt. Wir stehen in der Gefahr, das Gesetz gründlich zu missverstehen, wenn wir in ihm nicht mehr die Stimme des heiligen Gottes hören, der Sünde aufdeckt, anklagt und zu Tode verurteilt. Unser Kongress würde zu einem gründlichen Missverständnis führen, wenn Christsein als ein bloßes Reklamieren und Befolgen der Gebote Gottes verstanden würde. Ich sehe hier die Gefahr, dass man Christsein, auch bibeltreues Christsein, wesentlich an eine von Christus isolierte, biblische Ethik bindet und die Nützlichkeit und Praktikabilität der Gebote betont, um zu einer christlichen Lebensgestaltung zu motivieren. Wir haben das Wesen des Evangeliums noch nicht verstanden, wenn wir sagen, Christus gibt uns das Gesetz und den Heiligen Geist, um das Gesetz zu erfüllen. Ich spreche dies bewusst an, weil in den Gemeinden dieses Problem oft nicht erkannt wird. Aber auch deswegen, weil ein Kongress über christliche Ethik in der Versuchung steht, bei den Zehn Geboten stehenzubleiben und Christus und sein Werk nicht oder nicht richtig für die Ethik bedeutsam werden zu lassen. Das ist grundfalsch, vor allem dann, wenn man christliche Ethik vortragen möchte. Das Gesetz Gottes hat unter anderem die Aufgabe, den Menschen zu zeigen, dass sie Sünder sind. Dieser Sachverhalt kann und darf nicht übersehen werden. Die Bibel sagt ausdrücklich, dass das Gesetz gegeben wurde, „damit die Sünde mächtiger würde“ (Röm 5,20). „Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde“ (Röm 3,20). Durch das Gesetz bringt uns Gott zu Bewusstsein, dass wir Sünder und vor ihm schuldig sind, und dass wir tot sind wegen der Sünde. In der positiven Forderung des Gesetzes ist also immer zugleich das Nein Gottes zur Sünde und das Todesurteil enthalten. Das aber heißt: Gott heilt nicht durch das Gesetz, sondern durch Christus.

3.3. Christus hat das Gesetz erfüllt

Wenn wir also von der Offenbarung Gottes sprechen, dann dürfen wir nicht übersehen, dass das Gesetz nicht das einzige ist, was Gott offenbart hat. Er hat vielmehr seinen Sohn gesandt, um es zu erfüllen. Auch das ist Geschichte und steht in gleicher Weise in Raum und Zeit wie die Sinaioffenbarung. Jesus hat das Gesetz erfüllt, indem er es aktiv hielt, aber vor allem auch, indem er das Todesurteil, das das Gesetz über den Sünder ausspricht, auf sich genommen hat und stellvertretend für uns gestorben ist. Damit ist nun jede Rechtsforderung Gottes an uns erfüllt. Deswegen kann Paulus in Röm 10,4 sagen, dass Christus das telos des Gesetzes ist, das, worauf das Gesetz zielt und worin es zur Erfüllung kommt. Deswegen ist Christus unsere Gerechtigkeit. Die Forderung des Gesetzes ist also in Christus erfüllt. Gottes Gesetz steht uns nicht mehr als eine unerfüllte Sollordnung gegenüber, sondern als erfüllte Ordnung. Gehorsam bedeutet für uns, dass wir dem Evangelium gehorsam werden, dass wir hören, was Gott im Evangelium sagt, und ihm glauben. Hier sagt Gott: „Glaube an den Herrn Jesus Christus, so hast du das ewige Leben. Die Sünden, die ich mit meinem Gesetz bei dir diagnostiziert habe, sind dir vergeben, weil Jesus für sie gestorben ist.“ Wer nun so im Glauben an Christus steht, der hat erkannt, dass Diebstahl Sünde ist und schadet. Er ist in seinem Gewissen überführt und hängt sein Herz nicht mehr an den Diebstahl, sondern legt ihn ab. Weil er Christus erkannt hat, weiß er, dass Gott ihn auch ohne Diebstahl gnädig versorgt. So kommt aus dem Glauben ein Leben, das Gottes Gesetz nicht nur zähneknirschend akzeptiert. Ein Mensch, der Jesus erkannt hat, wird Gottes Gebot tun, weil er Christus liebt. So ist die Liebe zu Gott und die mit ihr Hand in Hand gehende Liebe zum Nächsten die Erfüllung des Gesetzes. Damit steht die Gesetzeserfüllung und das Leben des Christen nicht mit einem bloßen „aber auch“ unverbunden neben dem Glauben, sondern wo Glaube an Christus ist, da ist Gottes Gesetz erfüllt, weil Christus da ist. Da lebt der Christ in der Liebe und tut, was dem Gebot gemäß ist, auch wenn er bei sich die Macht der Sünde empfindet und ihn in dem Kampf stellt. So leben wir „nach dem Geist“ und haben die dem Heiligen Geist gemäße Erfüllung der Rechtsforderung des Gesetzes, wie sie Paulus in Röm 8,4 vorsieht.

3.4. Folgerungen

Ein Mensch, der Jesus erkannt hat, wird Gottes Gebot tun, weil er Christus liebt

Natürlich kann das nicht heißen, dass Gottes Gebote vom Sinai für den Christen überflüssig sind. Durch sie tut Gott seinen Willen kund. Aber der Christ hat mit Christus immer ein erfülltes Gesetz. Wenn er sich an Gottes Gebot hält, dann nicht, um das Gesetz seinerseits noch einmal zu erfüllen oder um damit Gottes Segen auf sich herabzuziehen, das ewige Leben zu verdienen oder sich der Gnade würdig zu erweisen. Der Segen und das ewige Leben sind ihm in Christus aus Gnaden geschenkt. Darum rufe ich auf, zu dem Gott der Bibel umzukehren, auf sein Wort zu hören und seinen Zusagen zu glauben. Dieser Aufruf ist nicht repressiv, denn er zwingt den gottlosen Menschen nicht unter Gottes Recht. Aber er bezeugt: Gottes Gebot bleibt bestehen (Ps. 119,96). Und: „Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben“ (Hebr 4,16).


  1. Es sei hierzu bemerkt, dass die eben vorgetragene Sicht von der Moral als einer bloßen zwischenmenschlichen Übereinkunft nur die formalen Vorgänge, wie Recht und Gesetz gebildet werden, beschreibt. Die unbewiesene Denkvoraussetzung oder das rein willkürliche Dogma dieser Sicht ist natürlich, dass der Mensch in einer nicht von Werten bestimmten Freiheit geboren werde, und dass er in seinem Wesen gut sei. Die Folge ist, dass man ihn nicht mehr tadeln darf, solange sein Verhalten nicht seinem Nächsten oder der Gesellschaft schadet; aber selbst das, was als nützlich oder schädlich empfunden wird, steht nicht fest. 

  2. Der postmoderne Pluralist wird vordergründig auch diese Frage abweisen, weil er begründete oder gerechtfertigte Sichtweisen für repressiv und inhuman hält. Doch damit rechtfertigt er, dass er sich einem Fremdanspruch entzieht, und indem er rechtfertigt, wird er selber repressiv und versucht, seinen humanistisch-nihilistischen Anspruch gegenüber einer theologisch begründeten Ethik und deren Vertretern durchzusetzen.