Perfektionismus: Hohe eigene Erwartungen
- Ich sollte immer jugendlich daherkommen.
- Alle Fenster müssen wöchentlich geputzt sein.
- Das Auto muss jedes Jahr erneuert werden.
- Ich muss in punkto Filmprogramm auf dem neuesten Stand sein.
- Die Einladungskarte muss topp gestaltet sein.
- Ich darf in der Prüfung nicht versagen.
- Ich muss in diesem Projekt ein Top-Ergebnis liefern.
In diesen Beispielen geht es um selbst gewählte Erwartungen und den eigenen Anspruch, diese erfüllen zu müssen.
„Der Fehler in der heutigen Zeit heißt Perfektionismus.“
So lautete ein Statement von Konrad Adenauer, dem ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland. Das Hochsetzen eigener Erwartungen ist mit dem untergründigen Anspruch an ein störungsfreies Leben verbunden. Der Perfektionismus lässt sich zudem gut tarnen: als Anspruch auf Qualität, als gute Absicht, als eine Portion Ungeduld, als Kreativität oder persönlicher Freiraum.
Weil wir es längst gewohnt sind, in psychologischen Kategorien zu denken, fällt uns die geistliche Analyse schwerer. Darum geht es mir in diesem Beitrag. Die Geschichte des Auszugs von Israel aus Ägypten bietet uns exzellenten Anschauungsunterricht.
Was das Geschehen in Ägypten mit dem Perfektionismus zu tun hat
Wir drehen das Rad der Zeit um 3400 Jahre zurück. In Ägypten lebt seit einigen hundert Jahren ein Hirtenvolk, das sich dank einer hohen Geburtenrate schnell ausgebreitet hat. Die Einheimischen fürchten sich vor Überfremdung.
Moment mal: Wie komme ich vom zeitgenössischen Perfektionismus zur Geschichte vom Auszug Israels aus Ägypten? Paulus wagte einen ähnlichen Sprung. Er bringt die Geschichte Israels in der Wüste direkt mit dem Geschehen der Gemeinde in Korinth in Verbindung. Er kommentiert dazu: „Alle jene Dinge sind uns zum Vorbild widerfahren.“ Etwas später fügt er hinzu: „Diese Beispiele dienen uns zur Warnung.“ (1. Korinther 10,6+11) Doch nicht nur Paulus bezieht sich auf die Geschichte Israels. Der Auszug wurde bereits während der Wüstenreise zum Symbol. Sehen wir uns die Einleitungsformel zu den Zehn Geboten an:
„Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus dem Land Ägypten, aus dem Haus der Knechtschaft, herausgeführt habe“ (2Mose 20,2).
Als Mose am Ende seines Lebens die Geschichte der Wüste an sich vorbeiziehen lässt und das Volk auf den Einzug ins Land vorbereitet, unterbricht er sich immer wieder: „Denkt daran, dass ihr Sklaven in Ägypten wart.“ Diese Vergangenheit sollte im Bewusstsein des Volkes bleiben. Der Auszug aus Ägypten diente fortan als Sinnbild für die Erlösung von Gottes Volk.
Sehen wir uns den Lauf der Ereignisse näher an, um dann fünf Lektionen für unser Thema abzuleiten.
Eine drückende Last
Die Geschichte beginnt mit einem Szenenwechsel. Ein neuer König kommt in Ägypten ans Ruder (2Mose 1,8). Er bildet, so stelle ich mir das vor, eine neue Regierung und erarbeitet einen Mehrjahresplan. Ein Eckpunkt seiner Strategie ist die Begrenzung der Ausländerzahl. „Kluge Maßnahmen“ werden verabschiedet (2Mose 1,11), die zweierlei bezwecken: Einerseits soll das weitere Wachstum der Israeliten verhindert und zugleich das Volk für die eigenen Zwecke nutzbar gemacht werden. So wurde eine schlagkräftige Organisation für Zwangsarbeit aufgebaut. Das Volk geriet unter massiven Druck. Sie „seufzten über ihre Knechtschaft und schrien.“ (2Mose 2,23) Dieses Geschrei, so lautet ein wichtiger Zusatz, „kam vor Gott.“ Auch wenn es noch Jahrzehnte dauerte, bis das Volk aus Ägypten ausziehen konnte: Gott setzte einen Rettungsplan um. Er berief Mose als Führer und versicherte ihm:
„Ich habe genau achtgegeben auf euch und auf das, was euch in Ägypten geschehen ist, und ich habe gesagt: Ich will euch aus dem Elend Ägyptens herausführen.“ (2Mose 3,16-17)
Es wird schlimmer
Mose kehrt nach Ägypten zurück und erhält eine erste Audienz beim Pharao. Diese verläuft sehr ungünstig. Pharao ist empört ob des Antrags, das ganze Volk Israel ziehen zu lassen. Er befiehlt seinen Sklaventreibern, die Auflagen zu verschärfen. Neu sollten die Israeliten auch noch die Herstellung von Ziegeln selber zu besorgen (2Mose 5,6+11). Er jagt sie aus dem Thronsaal mit den höhnischen Worten: „Ihr seid faul, faul seid ihr.“ (2Mose 5,17)
Mose ist irritiert. Hatte Gott nicht versprochen, sein Volk zu erlösen? Hatte er nicht genau diese Verheißung in großer Zuversicht den Führern der Israeliten weitergegeben? Und jetzt? Alles wurde nur noch schlimmer. Mose rang mit Gott, und der gab ihm einen seltsamen Bescheid. Er sollte dem Volk noch einmal die Absicht Gottes bekräftigen:
„Ich bin der Herr, und ich will euch aus den Lasten Ägyptens herausführen und will euch aus ihrer Knechtschaft erretten und will euch erlösen durch einen ausgestreckten Arm und durch große Gerichte“ (2Mose 6,6).
Doch das Volk hörte nicht auf ihn „vor Missmut und harter Arbeit“ (2Mose 6,9).
Endlich Rettung!
Es folgt ein langes Tauziehen zwischen dem Gott Israels und dem eigenwilligen Pharao. Das Land Ägypten wird mit harten Plagen geschlagen. Endlich, nach einer dramatischen nächtlichen Aktion, konnte das Volk aus Ägypten ausziehen. Doch wohin führte Gott sein Volk? Es ging in die Wüste! Mose schrieb in einem Kommentar, dass Gott nicht einmal den direkten Weg ins Land führte, sondern absichtlich einen grossen Umweg einplante (2Mose 13,17).
Als Josua, der Nachfolger Moses, später auf diese Ereignisse zurückblickt, merkt er an: Schon Abrahams Familie hatte den Göttern gedient. Auch in Ägypten waren die Götter dabei. Und selbst zur Zeit seiner eigenen Führung hatte sich das Volk nicht von den Göttern befreit (Josua 24,14). Kein Wunder ruft der Prophet Hosea 700 Jahre später aus (Hosea 13,4):
„Ich bin der Herr, dein Gott, vom Land Ägypten her, und außer mir kennst du keinen Gott, und es gibt keinen Retter als mich allein!“
Die Lust zurückzukehren
Kehren wir zum Volk Israel in der Wüste zurück. Lief alles wie am Schnürchen? Nein! Bei jedem Widerstand begann das Volk aufzubegehren. Nehemia stellt im Rückblick fest (Nehemia 9,17):
„Sie weigerten sich zu hören, und gedachten nicht an deine Wunder, die du an ihnen getan hattest, sondern wurden halsstarrig und gaben sich selbst ein Oberhaupt, um in ihrer Widerspenstigkeit in die Knechtschaft zurückzukehren.“
Und Stephanus, einer der ersten Christen, sah das Hauptproblem der Israeliten ebenfalls in einem widerspenstigen Herzen. Sie stießen Gott von sich und „wandten sich mit ihrem Herzen nach Ägypten“ (Apostelgeschichte 7,39). In der heißen Wüstensonne war die Erinnerung an den harten Frondienst in Ägypten schnell verblasst. In Erinnerung blieb einzig das leckere Abendessen mit Gurken, Melonen, Lauch, Zwiebeln und Knoblauch (4Mose 11,5).
Fünf Lektionen für Perfektionisten
Was lernen wir aus der Geschichte Israels für ein Hauptübel unserer Zeit, den Perfektionismus?
1. Lektion: Anerkennen, dass ich versklavt bin.
Zuerst ist es wichtig zu realisieren, dass Gottes Botschaft der Erlösung für unser ganzes Leben gilt. Sie ist nicht nur ein Ticket für den Himmel, das wir in einer Schublade aufbewahren, um es im richtigen Moment zu zücken. Nein, das Evangelium kann alle unsere Lebensbereiche durchdringen – auch den Zwang, persönliche Erwartungen und Wünsche erfüllen zu müssen.
2. Lektion: Wende ich mich an den Retter oder flüchte ich in die nächste Ablenkung?
Die selbst auferlegte Last von Erwartungen raubt viel Zeit und Substanz. Perfektionisten verwenden so viel Energie für kleine Teilbereiche ihres Lebens, dass sie nur für eine sehr begrenzte Zone ausreicht. Es ist – bildlich gesprochen – Pharao-Dienst, ein Bauen an seinen Vorratsstädten. Was an Substanz abhanden geht, fehlt für Gott und den Nächsten.
Deshalb lautet der erste Schritt zur Befreiung: Ich erkenne an, dass ich an die eigenen Ansprüche versklavt bin. Perfektionismus ist sündige Ich-Fixierung.
3. Lektion: Last erleichtern oder Herrschaftswechsel?
Israels Seufzen gelangte an die richtige und einzige Adresse für nachhaltige Hilfe. Gottes Zusage, „ich habe genau achtgegeben“, gilt auch für solch anscheinend unwichtige Dinge wie meinen Perfektionismus. Für Perfektionisten gibt es jede Menge Ersatz- und Zerstreuungsangebote. Eine Batterie neuer Objekte ist ebenso geeignet, die eigenen Erwartungen auszuleben und (kurzfristige) Befriedigung darin zu finden.
Perfektionisten neigen dazu, sich mit einer Lösung „erster Ordnung“ zufrieden zu geben. Sie gehen zum Therapeuten und erhalten dort das Rezept verschrieben: „Du hast bis jetzt 100 Ziegelsteine pro Tag gebrannt. Reduziere die Last um 20 Steine.“
Doch was war der Anspruch Moses? Das Volk sollte aus Ägypten ausziehen, nicht weniger Ziegelsteine brennen. Mose wurde auch nicht beauftragt, eine Salbe für die Striemen von den Peitschenhieben der Aufseher oder Lederhandschuhe für das bessere Ziehen der Lasten herzustellen. Ebenso wenig musste er eine Selbsthilfegruppe für den besseren Umgang mit Gewalt gründen oder eine Widerstandsorganisation auf die Beine stellen. Nein, das Ziel war die Befreiung von der Herrschaft des Pharaos!
Paulus spricht davon, dass wir mit Christus gestorben, begraben und auferstanden sind. Wir sind in ihm verwurzelt und sollen aus der Kraft dieses neuen Lebens heraus leben (Römer 6). Eine Leitfrage für Perfektionisten lautet darum: Wie würde jemand, der aus dem Tod ins Leben zurückgekommen ist, den eigenen Anspruch und die Wichtigkeit des angestrebten Vorhabens bewerten?
4. Lektion: Es geht in die Wüste.
Weil Perfektionisten auch hohe Ansprüche darin haben, was sie hinter sich lassen können, ergeht permanent eine leise entmutigende Stimme an sie: „Das schaffst du nicht.“ Und ja, das stimmt. Aus eigener Kraft schaffen wir keinen halben Tag. Die alten Programmierungen sind mit dem Herrschaftswechsel nicht gelöscht worden. Leider führen wir viele unserer Götzen noch immer mit uns. Wir sind zudem noch nicht im gelobten Land angekommen. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Ägypten und der Wüste? Erstens verspricht Gott, uns zu tragen (2Mose 19,4) und zweitens sagt er seine tägliche Versorgung zu (5Mose 8,4).
5. Lektion: Der Drang zurückzukehren begleitet mich durch die Wüstenreise.
So wie das Volk Israel sich bei jedem Test nach Ägypten zurücksehnte, so kommen im Perfektionisten oft Rückkehr-Reflexe auf. Der Grund ist dafür ist derselbe wie bei Israel, unsere eigene Widerspenstigkeit. Darum lautet das Gebet des Perfektionisten: „Herr, schenke mir die Kraft und den Willen, meinem inneren Drang nicht nachzugeben.“
Auf den Punkt gebracht: Perfektionismus ist sündige Ich-Fixierung, die uns Energie für Gott und unsere Nächsten raubt. Unser Erlöser ist die einzige Adresse zur Befreiung – und das bis zum letzten Tag unseres Lebens!